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SWR2 Musikstunde Das kann doch nicht wahr sein! – Musikalische Irrtümer (5) Das nimmt doch keiner so genau… Mythenbildung in der Biographik Von Nele Freudenberger Sendung:
Freitag, 03. Mai 2016
Redaktion:
Ulla Zierau
9.05 – 10.00 Uhr
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SWR2 Musikstunde mit Nele Freudenberger Das kann doch nicht wahr sein! – Musikalische Irrtümer (5) Das nimmt doch keiner so genau… Mythenbildung in der Biographik Signet Mit Nele Freudenberger. Gerade im 19. Jahrhundert gab es einen wahren GenieKult! Kein Wunder also, dass manche Biographen dem Gegenstand ihres Schreibens die eine oder andere Kleinigkeit dazu gedichtet oder auch weggelassen haben, um die Person in besserem Licht erscheinen zu lassen. Oder auch sich selbst. Auf diesem und auf anderem Wege haben sich so manche Irrtümer in die Köpfe des Publikums geschlichen. Unser Thema in der heutigen Musikstunde Kennungsmelodie Ludwig van Beethoven. Grimmig, unfrisiert, genial. Das wir ihn für genial halten, erklärt sich von selbst und ist auf seine Kompositionen zurückzuführen, dass wir einen etwas strubbligen Eindruck von ihm haben liegt an dem berühmten Gemälde von Joseph Karl Stieler, dass Beethoven etwas grimmig gewesen sein muss – oder zumindest so wirkte – kann man Zeitzeugenberichten entnehmen, dem Gesichtsausdruck auf besagtem Gemälde oder auch den Worten mit denen das von Beethoven verfasste Heiligenstädter Testament beginnt: „Oh ihr Menschen, die ihr mich für feindselig, störrisch oder misanthropisch haltet oder erkläret, wie unrecht tut ihr mir!“ Viele andere Eindrücke verdanken wir seinem Freund Anton Schindler [räusper] so zumindest hat Schindler sich gerne in Beethovens Biographie dargestellt, die er praktischerweise selber geschrieben hat. Da die Forschung aber zuverlässig ist und nicht alles glaubt, was man ihr auftischt, wurde recht schnell klar, dass Schindler hier Schindluder betrieben hat. Schindler war eher eine Art Sekretär Beethovens. Er lebte also tatsächlich im näheren Umfeld des Komponisten, aber von einem freundschaftlichen Verhältnis kann keine Rede sein. 1840 erschien die von Anton Schindler verfasste, erste Beethovenbiographie. Für seine Zeitgenossen musste sie erst einmal plausibel sein: denn wer wäre so perfide, derart wichtige Dokumente zu fälschen! Tatsächlich hat er wohl nachträglich Einträge in Beethovens Konversationshefte gemacht und hat auch in anderen Dokumenten seine Spuren hinterlassen. Der Grund ist ausgesprochen einfach: Schindler wollte sich als Beethoven-Kenner und zwar sowohl seiner Werke als auch seiner Person unentbehrlich machen und
3 so beförderte er sich in seinem eigenen Werk zu Beethovens Kompositionsschüler und seinem innigsten Freund – eine Freundschaft, die laut Schindler sehr viel länger dauerte, als die beiden sich tatsächlich kannten. Deswegen ist alles, was man in dieser Biographie über das Verhältnis zwischen Beethoven und Schindler lesen kann wahrlich mit Vorsicht zu genießen. Mit einem allerdings hat Schindler auf jeden Fall Recht: Beethoven war ein Genie, dessen Werk die Zeiten überdauert!
Musik 1 Ludwig van Beethoven Final Chor: O welche Lust, in freier Luft; Fidelio Leonard Bernstein, Wiener Philharmoniker, Chor der Wiener Staatsoper M0028671 Zeit: 7:16 Der Chor „O welche Lust, in freier Luft“ aus Beethovens Oper „Fidelio“. Leonard Bernstein dirigierte die Wiener Philharmoniker und den Chor der Wiener Staatsoper. Musik von Ludwig van Beethoven – einem der Titanen der Musikgeschichte, was auch sein Biograph Anton Schindler wusste – weswegen er seine Rolle in Beethovens Leben etwas aufgepeppt hat, indem er Quellen fälschte. Beethoven war ja nun schon zu Lebzeiten ein großer Name und auch in der Romantik war Beethoven das Komponistenvorbild schlechthin. Also eigentlich sollte es einen Komponisten doch freuen, wenn er als „Erbe Beethovens“ bezeichnet wird – oder? Aber Johannes Brahms empfand diese Äußerung wohl nicht als Lob, sondern als Bürde. Josef Helmesberger – Komponist, Dirigent und Geiger fand diese mächtigen Worte. Auch Robert Schumann schrieb in der Neuen Zeitschrift für Musik, dass Brahms ein Berufener sei! Mit großem Lob und dem daran hängenden Erwartungsdruck konnte Brahms offenbar nicht umgehen. Wenn man bedenkt, dass er seine frühen Kompositionen häufig unter Pseudonym herausbrachte und um auf Nummer Sicher zu gehen, ihnen höhere Opuszahlen gab, dann kann man sich vorstellen, dass er unter schweren Selbstzweifeln litt und diese Art von Lob eher als Druck empfand. Dass Brahms übermäßig selbstkritisch war, lässt sich an unterschiedlichen Dingen fest machen. Zum Beispiel an seiner 1. Sinfonie, an der er beeindruckende 14 Jahre gearbeitet hat, bevor er sie aufführen ließ – und selbst dann war er noch nicht zufrieden und nahm noch ein paar Korrekturen vor. Und das mit den Eingriffen betrifft fast alle seine Kompositionen: er änderte und verwarf oder
4 vernichtete sogar, was ihm nicht gefiel. Sein Klaviertrio op. 8 liegt sogar in zwei Fassungen vor, weil der junge Brahms es aus einer für ihn ungewöhnlichen Laune heraus praktisch sofort in den Druck gegeben hat. Die zweite Fassung die 35 Jahre später erschien, ist dann die korrigierte Version der ersten. Offenbar hat es den akribischen Brahms dann doch gewurmt, dass er diese erste Fassung des Trios schon hat drucken lassen! Man sieht also: Brahms war wahrlich kein Beethoven – zumindest nicht, was die Arbeitsweise anging. Ein Irrtum also zu glauben, es würde einen Komponisten zwangsläufig stolz machen, wenn man ihn für den Nachfolger Beethovens hält… Jetzt die jugendliche erste Fassung des H-Dur Trios Musik 2 Johannes Brahms Trio Op. 8 (erste Fassung von 1854) Scherzo-Trio-Tempo primo Trio Parnassus M0019101 006 Zeit: 6:20 Der zweite Satz aus dem H-Dur Trio op. 8 Johannes Brahms – das Trio Parnassus hat die frühe Fassung von 1854 gespielt in der SWR2 Musikstunde. Brahms, ein Genie, das allerdings nicht so recht mit der hohen Erwartung umzugehen wusste, dass man in ihm einen Nachfolger Beethovens sah. Ein Versuch, einen Mythos um einen Mann zu stricken, der ihn selber gar nicht wollte! Das gleiche kann man sicherlich auch von Johann Sebastian Bach sagen. Bei ihm verhielt es sich allerdings etwas anders. Er kam aus einer Musikerfamilie, in der Musik über Generationen schon ein BERUF war, der gelernt und nach bestimmten Regeln ausgeführt wurde. Bach war also im weitesten Sinne ein Handwerker. Deswegen kam auch zu Bachs Lebzeiten – und er vermutlich am allerwenigsten – niemand auf die Idee, er sei ein Genie. Er war sehr gut, ja, aber dieser Geniekult den gab es einfach noch gar nicht. Die Person hinter dem Musiker, mit all ihren Empfindungen, Emotionen und auch Alltäglichkeiten, interessierte keinen. Entsprechend hielt man es nicht für nötig, Briefe oder Aufzeichnungen über ihn aufzuheben – nicht wie später bei Mozart, der ja von Kindesbeinen an darauf gedrillt wurde, gefälligst seinen Platz in der Musikgeschichte einzunehmen. Die erste Bach Biographie ist erst 1802 erschienen – Johann Nikolaus Forkel hat sie 52 Jahre nach Bachs Tod geschrieben. Zwar kannte Forkel Carl Phillip Emanuel und Friedemann Bach und ließ sich von ihnen über den Vater berichten, aber mehr Quellen hatte er im Grunde nicht zur Verfügung.
5 Dazu kommt noch der Genie-Kult, der in Bezug auf die Person Bachs etwa mit der Biographie von Forkel einsetzt, der aus seiner Bewunderung für Bach keinen Hehl machte. Dieser Kult, der im Laufe des 19. Jahrhunderts noch weiter zunahm, verbot quasi ein Genie als normalen, womöglich aufbrausenden Menschen darzustellen, der Bach gewesen sein könnte – davon zeugen nicht zuletzt zwei Geschichten: sein Gefängnisaufenthalt in Weimar (er hat einfach eine Stelle in Köthen angenommen, ohne seine Weimarer Dienstherren um Erlaubnis zu bitten, was diese gar nicht lustig fanden) und natürlich auch die Geschichte mit dem Zippelfagottisten… Mit diesem Wort soll er nämlich einen Schüler beleidigt haben – was auch immer ein Zippelfagottist sein mag – und dieser forderte daraufhin Satisfaction… Bach bleibt ein Mythos – eben weil man so wenig über ihn persönlich, über seinen Charakter weiß. Dennoch ist er der Meister aller Komponisten. Allerdings auf eine sehr unaufgeregte Art und Weise. Das ganze Brimborium um ihn haben andere gemacht. Jetzt ein Stück, dessen erste Skizzen angeblich bei besagtem Gefängnisaufenthalt geschrieben worden sein sollen: D-Dur Präludium und Fuge aus dem ersten Band des Wohltemperierten Klaviers Musik 3 Johann Sebastian Bach Präludium und Fuge D-Dur Das wohltemperierte Klavier Band 1 Glenn Gould Sony Classical, LC6868, sm2k 52600, 5099705260029 Zeit: 1:06 und 1:39 Glenn Gould mit Präludium und Fuge in D-Dur aus dem ersten Band des wohltemperierten Klaviers von Johann Sebastian Bach. Der vielleicht größte aller Komponisten, die es je gegeben hat. Auf jeden Fall großes Vorbild für die nachfolgenden Generationen. Das Genie als das Ideal. Das Genie als idealer Mensch – ohne jeden Makel (zumindest, was die Charaktereigenschaften angeht) das war ein Blick auf Künstler, der sich im ausgehenden 19. Jahrhundert zu ändern begann. Aber davor war man offenbar bereit, alles dafür zu tun, um Künstler als solche idealen Menschen fast schon gottähnlich darzustellen. Da durften auch schon mal biographische Quellen etwas frisiert werden. Im Falle von Franz Liszt wurde zumindest der Versuch unternommen, ihn etwas besser zu machen, als er offenbar war. Seine langjährige Lebensgefährtin Carolyn Sayn-Wittgenstein war lebhaft daran interessiert, die Biographie ihres Geliebten etwas aufzumöbeln. Wie praktisch, dass sie enge Kontakte zu seinen
6 Biographinnen pflegte! Lina Rahmann die eine, La Mara – alias Marie Lipsius – die andere. La Mara hat die Aufgabe übernommen, die Liszt-Briefe herauszugeben. Sage und schreibe 11 Bände – für die Musikwissenschaft von unschätzbarem Wert, denn eine solche Sammelarbeit ist ohnehin schon sehr aufwändig, wird aber immer schwieriger, je länger man wartet, da die Briefe sich immer mehr verlieren und zerstreuen. Wie dem auch sei, La Mara hat also die Liszt Briefe herausgebracht und war sich ein Glück ihrer musikwissenschaftlichen Verantwortung bewusst! Das kann man zumindest vermuten, weil sie in ihren Memoiren einen Brief zitiert, den SaynWittgenstein an sie geschrieben hat. Ein wunderbares Dokument, das ich meinerseits jetzt in Teilen präsentieren möchte. Sayn-Wittgenstein schreibt an La Mara über einen Band, in dem Briefe unterschiedlichster Prominenter herausgegeben wurden – von La Mara natürlich: „kommen wir zu denen von Liszt, die ich natürlich zuerst las, so bedauerte ich, sie nach Art rohen Gemüses aufgetischt zu sehen. Als ich in der guten alten Zeit von 1848 nach Weimar kam, war eine Kommission damit beschäftigt alle Briefe und Billette (wo Goethe Spargel schickte oder Ananas bekam) zu prüfen und nach den Regeln der Grammatik in schöne Form zu bringen. Da ich Dr. Froriep […] kannte, weiß ich, wie man da jedes Wort auf die Goldwage legte. Nun muss ich gestehen, daß ich Liszts Genie und Esprit hoch genug stelle, um für ihn und seine literarische Ehre eine ähnliche Rücksicht und Sorgfalt zu wünschen. […] Auch Liszt legte viel Wert auf die Form – wer wüßte das besser als ich? Doch nicht immer hat man Zeit und Stimmung hierzu: auch lassen uns momentane Eindrücke oft aussprechen, was nicht der Mühe wert ist auf die Nachwelt zu kommen. Liszt war sehr indigniert über die Menge gänzlich indifferenter Briefe, die in der Goethesammlung Platz gefunden haben. Bei einer solchen Überfülle, sagte er, gehen die guten Sachen unter den mittelmäßigen ganz verloren. Man kann sich vorstellen, welche Anforderungen Männer von hoher literarischer, nicht nur musikalischer Bildung an Briefe eines Mannes stellen, der wie Liszt die Hälfte seines Lebens in den höchsten Schichten der Gesellschaft zugebracht hat. Darum möchte ich, daß man ihn in seinen Briefen ordentlich en toilette sehe. Man sage nicht, dass sie ihn dann nicht seiner vollen Natur nach zeigen würden. Eine ordentliche Toilette ändert die Natur ebensowenig, als der Mann oder die Frau, die frühmorgens im Schlafrock sitzen, ihre Natur ändern, wenn sie gewaschen, gekämmt, sorgfältig angezogen vor der Welt erscheinen.“ So Sayn-Wittgenstein in ihrem Brief an La Mara. Außerdem legt sie La Mara in dem Brief noch nahe, mit der Herausgabe einige Jahre zu warten, weil das Publikum dann mehr Interesse und der Blick auf Liszt sich dann schon etwas verklärt habe!
7 Zwar erschienen die Briefe nicht sofort – aber das hat wohl eher etwas mit dem Arbeitsaufwand einer solchen Sammlung zu tun – aber immerhin hat La Mara sie nicht en Toilette präsentiert. Was Liszt wohl davon gehalten hätte…. Musik 4 Franz Liszt Années de Pèlerinage – erstes Jahr „Schweiz“, Pastorale Michael Korstick M0280786 003 Zeit: 1:35 Die Pastorale aus Franz Liszts Klavierzyklus „Années de Pèlerinage“ – erstes Jahr: „die Schweiz“. Gespielt hier in der SWR2 Musikstunde von Michael Korstick. Liszt wurde vor allem von den Frauen um ihn herum zum Genie und zum Star stilisiert. So sehr, dass seine langjährige Lebensgefährtin sogar seine Briefe frisieren wollte, um ihn posthum in ein besseres Licht zu rücken. Wenn wir schon bei Liszt sind, ist der Weg zu Wagner nicht weit. Schließlich war der mit Liszts Tochter Cosima verheiratet und Liszt außerdem ein großer Förderer von Wagners Werken. Wohl um kaum einen Komponisten rankt sich ein so starker Mythos, wie um Richard Wagner. Den zu kreieren war sicherlich nicht leicht und wurde schon zu seinen Lebzeiten in Angriff genommen – auch durch ihn selbst. Seine Idee vom Gesamtkunstwerk, davon, dass Kunst in der Lage wäre, den Menschen zu verbessern rührte seine Zeitgenossen offenbar an. Mal ganz abgesehen davon, dass er ein fantastischer Komponist war. Mit Bayreuth ging der Mythos Wagner quasi in die zweite Runde! Bayreuth selbst wird zum Mythos. Eine kleine bayerische – Entschuldigung, fränkische – Provinzstadt, die im Rest von Deutschland vermutlich niemand kennt. Bis die Wagners einfallen. Seither ist dieses Städtchen untrennbar mit dem Namen Wagner verbunden – Bayreuth ist Synonym für die Festspiele und schon seit Generationen für den ganzen Wagner Clan. Was für ein genialer Schachzug! Obwohl zu bezweifeln ist, dass Richard und Cosima einen Erfolg mit dieser Tragweite geplant haben. Schon zu Lebzeiten umflorte Wagner ein Hauch von Göttlichkeit. Seine Anhänger nannten ihn Meister, bis heute schwingt in der Sprache von Wagnerianern etwas Devotes mit. So schreibt 1876 Paul Lindau in seinen Pressekritiken nüchterne Briefe aus Bayreuth „Es herrscht hier eine dienerhafte Unterwürfigkeit, von der man sich kaum eine Vorstellung macht […] es kommt mir so vor, als sei die gute alte Zeit des beschränkten Unterthanenverstandes wiedergekommen[…]“ Wagner schien sich in der Rolle gefallen zu haben und nach seinem Tod haben sämtliche seiner Anhänger daran gearbeitet, dieses Bild des „Meisters“ zu erhalten. Allen voran seine Frau Cosima.
8 Dass die Nazis aus diesem Mythos dann etwas ganz eigenes gemacht haben, steht auf einem anderen Blatt. Aber der Umstand, dass das überhaupt möglich war spricht für sich. Richard Wagner war ein Komponist, der offenbar nicht als Mensch sondern als Genius wahrgenommen werden wollte und alles daran setzte, dass das auch geschah. Denn wenn wir mal ehrlich sind: jemand, der seinem Freund, finanziellen Unterstützer und Gönner die Frau ausspannt hat durchaus menschliche Fehler… Aber zugegeben wenig musikalische. Wer kann schon ein galoppierendes Pferd inklusive wehender Mähne komponieren… Musik 5 Richard Wagner Die Walküre, Walkürenritt Marek Janowski, Staatskapelle Dresden Eurodisc, 00202, 301143-465, 887254622321 CD3 Track 6 Zeit 6:35 Der Walkürenritt aus der Oper „die Walküre“ von Richard Wagner. Marek Janowski dirigierte die Staatskapelle Dresden. Heute dreht sich die SWR2 Musikstunde um musikalische Irrtümer, die im Umgang mit Biographien entstehen können. Ein wirklich großer biographischer Irrtum, dem ungeheuer viele Menschen erlagen und vielleicht noch immer erliegen, basiert auf einem Film. Milos Forman hat ihn gedreht und ihm ist mit „Amadeus“ ein absoluter Geniestreich geglückt – leider hielten anschließend sehr viele Leute Salieri für den Mörder Mozarts…. Der Film basiert auf dem gleichnamigen Theaterstück von Peter Shaffer – der übrigens auch das Drehbuch geschrieben hat. Der Plot von Film und Stück besteht darin, das Antonio Salieri, alt und grau und dem Tode nah, seine Geschichte erzählt. Salieri, der immer im Schatten Mozarts stand, Salieri, der immer fleißig war, dem es aber an Genialität fehlte und Mozart, der mit seinem ungeheuren Talent so verschwenderisch umging und der ein liederliches Leben führte – eben eine Art Sex and Drugs and Rock’n’Roll. Salieris perfider Plan: er schickt einen geheimen Auftraggeber, der Mozart maskiert und anonym bittet, ein Requiem zu schreiben. Er taucht regelmäßig auf, setzt Mozart, der sich zu Tode ängstigt unter Druck, bis er sich sprichwörtlich tot gearbeitet hat. Soweit Film und Theaterstück. Ja, das Requiem ist Mozarts letztes Werk und nicht ganz vollendet worden. Ja, lange Zeit wusste man nicht, wer der Auftraggeber war
9 und schon ohne den Film rankten sich zahlreiche Mythen um dieses fantastische Stück. Aber dass Salieri ihm aus Neid einen gruseligen Kompositionsauftrag bescherte? Mehr als unwahrscheinlich. Denn im Gegensatz zu Mozart hatte Salieri sein regelmäßiges Auskommen. Seine Werke waren über die Maße beliebt und ob Mozarts Genie damals wirklich so konkret wahrgenommen wurde ist eh fraglich. Musikalische Revolutionen werden ja oft gerne erst im Nachhinein als lohnend empfunden. Aber auch Shaffer war bei weitem nicht der erste, der sich mit dem Konkurrenzverhältnis zwischen Salieri und Mozart auf der Bühne auseinandersetzte: kein geringerer als Alexander Puschkin tat das schon lange vorher: mit seinem Drama „Mozart und Salieri“ von 1832 legte er wahrscheinlich die Grundidee zu Shaffers Stück. Denn auch Pushkin lässt Salieri in die Rolle des Neiders schlüpfen und auch er lässt einen geheimnisvollen Mann ein Requiem bei Mozart in Auftrag geben. Dass der Stoff publikumswirksam ist zeigt nicht zuletzt, dass aus dem Pushkin Werk auch eine Oper entstanden ist: Nikolai Rimski-Korsakov hat sie komponiert, sie trägt ebenfalls den Titel „Mozart und Salieri“ Jetzt aber Musik aus Mozarts letztem Werk, die Musik, die er nachweislich noch selbst geschrieben hat: Introitus und Kyrie aus dem Requiem Ach ja übrigens: inzwischen weiß man, dass der Auftraggeber Franz von Walsegg war. Musik 6 Wolfgang Amadeus Mozart Requiem d-Moll Introitus und Kyrie Jos van Immerseel, Anima Eterna, Collegium Vocale Gent M0305982 010 + 011 Zeit: 4:53 und 2:50 Jos van Immerseel dirigierte Anima Eterna und das Collegium Vocale Gent, gespielt und gesungen haben sie Introitus und Kyrie aus dem Requiem von Wolfgang Amadeus Mozart – ein Stück um das sich etliche Mythen und Legenden ranken. Unter anderem ausgelöst, durch den Film Amadeus. Legenden und Fehleinschätzungen können sich nicht nur um die Biographie von Personen ranken, sondern auch um die von Klangkörpern. Die Wiener Philharmoniker sind sicherlich einer der besten Klangkörper der Welt. Berühmt ist vor allem ihr Neujahrskonzert, fast ein Muss für jeden Klassikfan, das auch international im Rundfunk und im Fernsehen übertragen wird. Eine Form des Konzerts, das etliche Orchester übernommen haben und wo Musik von einem Komponisten eigentlich nicht fehlen darf: Johann Strauß Sohn.
10 Die Wiener Philharmoniker gelten weltweit als das Orchester, dass die Musik von Strauß am besten spielt, den Wiener Schmäh der Musik besonders gut beherrscht. Anzunehmen, dass das immer schon so war, ist ein großer Irrtum. Auch wenn die Wiener Philharmoniker 1842 gegründet wurden, also in genau der Zeit, in der Straußens – also Vater und Sohn – ihre größten Erfolge feierten, kam eine Annäherung an Strauß erst später zustande. Genaugenommen lehnten die Philharmoniker es rundweg ab, Musik von Familie Strauß mit in ihr Programm zu nehmen: zu seicht, leichte Unterhaltungsmusik – man wollte schließlich den frisch gegründeten Ruf nicht gefährden. Zu einer ersten Begegnung zwischen Johann Strauß Sohn und Wiener Philharmonikern kam es erst im Jahre 1873 – also 31 Jahre nach der Gründung des Orchesters. Für den Opernball komponierte Strauß den Walzer „Wiener Blut“ und dirigierte die Uraufführung wienerisch stilecht mit der Geige in der Hand. Das Publikum war begeistert – und die Philharmoniker auch! Noch im selben Jahr gaben sie ein Galakonzert, wiederum von Strauß dirigiert und mit seiner und seines Vaters Musik. 1894 – im Jahr von Johann Strauß Sohn fünfzigjährigen Dienstjubiläum beteiligten sich die Wiener Philharmoniker auf Orchesterart: sie bestritten das Festkonzert. Strauß war gerührt und schrieb: „Einstweilen schriftlich heißesten Dank den großen Künstlern den berühmten Philharmonikern sowohl für Ihre Meisterleistung, als auch für die Kundgebung Ihrer Sympathie womit Sie [sic!] die größte Freude bereitet haben Johann Strauß“ Die nächste Begegnung gab es 1899 mit der Uraufführung der Fledermaus. Der Ruf, ein wenn nicht gar DAS Straußorchester zu sein, mag aber vor allem wirklich an den Neujahrskonzerten liegen, die es aber erst seit gut 75 Jahren gibt. Begonnen hatte alles 1929 als Clemens Kraus bei den Salzburger Festspielen ein reines Strauß-Programm dirigierte. Der Erfolg war immens, so dass bis 1933 jedes Jahr ein solches Programm aufgeführt wurde. 1939 war es wieder Kraus, der am 31. Dezember ein Konzert dirigierte – diesmal in Wien – dessen Erlös an die nationalsozialistische Spendenaktion „Kriegswinterhilfswerk“ ging. Seit 1941 wurde diese Art von Konzert dann immer am 1. Januar gegeben. Die Geburt des legendären Neujahrskonzert fällt also ausgerechnet genau in die düsterste Zeit der europäischen Geschichte – in der man gute Laune Musik á la Strauß wirklich gebrauchen konnte. Auch oder gerade weil es eigentlich fehl am Platz war. Dass die Wiener Philharmoniker also mal DIE Interpreten für die Musik von Johann Strauß werden sollten, war zunächst nicht abzusehen. Deshalb jetzt das Werk, das die Annäherung brachte: hier ist Wiener Blut, gespielt natürlich von den Wiener Philharmonikern, es dirigiert Seiji Ozawa
11 Musik 7 Johann Strauß Sohn Wiener Blut Seiji Ozawa, Wiener Philharmoniker M0055582 Zeit: 8:20 + Beifall Seiji Ozawa dirigierte die Wiener Philharmoniker und sie spielten „Wiener Blut“ von Johann Strauß Sohn. Ein Irrtum anzunehmen, dass die Wiener schon immer ein Strauß-Orchester gewesen sind. Damit geht unsere SWR2 Musikstunde für diese Woche zu Ende. Musikalische Irrtümer haben uns beschäftigt und es bleibt die Frage zurück, bei welchen Irrtümern es sich lohnt, mit ihnen aufzuräumen und mit welchen man eigentlich ganz gut leben kann. Sie können die Folgen der Musikstunde „musikalische Irrtümer“ noch eine Woche im Internet nachhören unter SWR2.de da finden sie auch die Sendemanuskripte. Mein Name ist Nele Freudenberger ich sage Tschüss und wünsche Ihnen ein schönes Wochenende!