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Lehr- und Forschungsgebiet Philosophie der Kulturellen Welt Prof. Dr. Maria Elisabeth Reicher-Marek
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Datei: Offener Brief Fachschaft Datum: 22. Juni 2015
– Offener Brief an die Fachschaft der Philosophischen Fakultät Wie es scheint, leisten Sie ausdauernd Widerstand gegen den Versuch, zumindest in manchen Seminaren an unserer Fakultät, in denen dies den Modulverantwortlichen aus methodischen Gründen erforderlich erscheint, eine Anwesenheitspflicht in der Prüfungsordnung festzuschreiben. Selbstverständlich ist es nicht nur Ihr Recht, sondern sogar Ihre ureigene Aufgabe, studentische Interessen zu vertreten. Ich frage mich allerdings in diesem Fall, ob Sie dieser Aufgabe tatsächlich nachkommen. Einige Punkte möchte ich Ihnen zu Bedenken geben: 1. Zumindest in meinem Fach ist fast jede zweite Lehrveranstaltung mit einem Teilnahmenachweis abzuschließen. Bisher war es gängige Praxis, für die Anwesenheit im Seminar ECTS-Punkte zu vergeben, da die Anwesenheit als eine Form der Mitarbeit und damit als eine Studienleistung verstanden wurde. Wenn die Anwesenheit entfällt, muss die erforderliche Leistung auf andere Weise erbracht werden, und dies muss (so verstehe ich jedenfalls meine Dienstpflichten) durch die Dozent/inn/en nachgeprüft werden. In meinen Seminaren ist eine sinnvolle Teilnahme ohne Anwesenheit in der Regel nicht möglich (jedenfalls nicht ohne unzumutbaren zusätzlichen Arbeitsaufwand für mich). Ich habe in diesem Semester dennoch, aufgrund des von Ihnen ausgeübten Drucks, den Studierenden die Möglichkeit der Leistungserbringung ohne Anwesenheit eingeräumt, und zwar in Form von Hausarbeiten. Da dies für mich sehr zeitaufwändig ist, überlege ich mir für die Zukunft, falls die Anwesenheitspflicht in meinen Seminaren nicht in der Prüfungsordnung festgeschrieben werden kann, andere Formen der Leistungserbringung, beispielsweise Klausuren oder mündliche Prüfungen. Ist es das, was Sie wollen?
2 2. Manche Studierenden interpretieren das neue Gesetz allerdings anders: Manche scheinen der Meinung zu sein, dass die Dozenten nunmehr Leistungspunkte ohne nachweislich erbrachte Leistung zu vergeben haben. Nehmen wir einmal an, dies wäre tatsächlich der Fall: Dies hieße (in meinem Fach jedenfalls), dass ein beträchtlicher Anteil der Bescheinigungen über den erfolgreichen Abschluss einer Lehrveranstaltung automatisch für die Anmeldung zu einer Lehrveranstaltung ausgestellt werden würde. Wenn ich mir die gegenwärtige Welle der Empörung um die Notenvergabe durch den Lehrbeauftragen L. anschaue, kann ich mir nicht vorstellen, dass die arbeitenden Menschen außerhalb der Hochschulen dafür viel Verständnis aufbringen würden. Der Ruf der betroffenen Studiengänge, der Fakultät, ja womöglich der Hochschule bzw. des Hochschulstandorts NRW insgesamt wäre nachhaltig beschädigt und somit der Wert Ihrer Studienabschlüsse erheblich gemindert. Meinen Sie, dass das im Interesse der Studierenden wäre? 3. Man braucht nicht sehr viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass die Freiheit von der Anwesenheitspflicht irgendwann einen Verlust des Rechts auf Präsenzlehre nach sich zieht. Wenn Sie jetzt so vehement darauf insistieren, dass der persönliche Kontakt und Austausch mit Dozent/inn/en und Kommiliton/inn/en für den Lernerfolg ohnehin irrelevant ist, mit welchen Argumenten wollen Sie dann in Zukunft noch ein Recht auf einen Sitzplatz im Seminar einfordern? Vielleicht sieht das Seminar der Zukunft ja so aus: Die Dozentin stellt zu Beginn des Semesters eine Literaturliste ins Netz; die Studierenden haben am Ende eine Prüfungsleistung zu erbringen; einen Anspruch auf irgendeine Art von Betreuung dazwischen gibt es nicht. Wollen Sie das so haben? 4. Gegner der Anwesenheitspflicht argumentieren gern wie folgt: Anwesenheitspflicht ist für Kinder, nicht für junge Erwachsene; Studierende wissen schon selber, was Sie zu tun haben und brauchen keine Vorschriften. Freilich gibt es Studierende, die keine Anwesenheitspflicht brauchen, weil sie so diszipliniert und motiviert sind, dass sie ohne jeglichen Druck regelmäßig die Veranstaltungen besuchen und diese stets gut vor- und nachbereiten. Doch die Erfahrung lehrt, dass diese Studierenden in der Minderheit sind (und gerade die beschweren sich normalerweise nicht über Pflichten!). Ich glaube, dass die Mehrheit der Studierenden gerne etwas lernen möchte, dass aber vorgegebene Strukturen zur Erreichung dieses Ziels für die meisten hilfreich sind. Ich halte meine (kleineren) Vorlesungen mitunter nur noch vor Seniorenstudierenden. Für die übrigen kommt dann oft das böse Erwachen bei der Prüfung. Möchten Sie, dass nur noch die Überflieger gut durchs Studium kommen? 5. Ein weiteres beliebtes Argument der Anwesenheitspflicht-Gegner lautet: Die meisten Studierenden sind berufstätig und können daher nicht regelmäßig bei Lehrveranstaltungen anwesend sein; die Anwesenheitspflicht benachteiligt daher Studierende aus nicht wohlhabenden Familien.
3 Klar, eine Vollzeit-Berufstätigkeit und ein Studium in Regelstudienzeit sind kaum unter einen Hut zu bringen. Daraus würde ich jedoch den Schluss ziehen, dass die Studierendenvertretung mit ganzer Kraft für ein modernes, in vernünftigem Maße leistungsorientiertes und soziales Stipendiensystem kämpfen sollte – und nicht für rechtliche Rahmenbedingungen, die es erleichtern, neben dem Studium zu arbeiten! Abgesehen davon: Auch ohne Anwesenheitspflicht müssen Studienleistungen erbracht werden (siehe Punkte 1 und 2 oben); das Problem der Doppelbelastung wird also durch die Abschaffung der Anwesenheitspflicht nicht gelöst, sondern eher zementiert; und dies trifft natürlich in erster Linie diejenigen, die jobben müssen. In obiger Argumentation wird implizit ausgedrückt, dass von Studierenden erwartet wird, ihren Lebensunterhalt selber zu verdienen und zugleich in Regelstudienzeit ihre Abschlüsse zu machen. Meines Erachtens müsste dies eigentlich Protest von seiten der Studierendenvertreter auslösen; dass Sie stattdessen diese Argumentation übernehmen, verwundert mich sehr. 6. Einige der Argumente der Anwesenheitspflichtgegner enthalten implizit gegen die Dozent/inn/en gerichtete pauschale Unterstellungen und Beleidigungen, so etwa in einem neueren Schreiben des Ministeriums: “Es ist sinnvoller, wenn Lehrveranstaltungen aufgrund ihrer inhaltlichen und didaktischen Qualität und nicht wegen rechtlicher Zwänge nachgefragt werden.”1 Im Klartext: Wenn Studierende Lehrveranstaltungen nicht besuchen, dann liegt es daran, dass die Dozent/inn/en ihre Arbeit schlecht machen. Solche Aussagen sind Schläge ins Gesicht aller jener Kolleg/inn/en, die viel Zeit, Energie und Herzblut in die Lehre investieren (oft auf Kosten der Forschung, die für die eigene Karriere viel wichtiger wäre); sie sind in dieser Pauschalität inhaltlich falsch; und sie wirken demotivierend und tragen damit sicher nicht zur Verbesserung der Lehre bei. Fazit: Durch die Abschaffung der Anwesenheitspflicht droht eine noch stärkere Verschulung der Lehre, Frust bei den Dozent/inn/en, Spannungen im Verhältnis zwischen Studierenden und Dozent/inn/en, Verlust des Ansehens der Universitäten in Öffentlichkeit und Wirtschaft, Abwertung der Abschlüsse. Darüber hinaus wird der Politik dadurch eine Rechtfertigung geliefert für die Unterfinanzierung der Universitäten und Aufrechterhaltung des unbefriedigenden status quo im deutschen Stipendienwesen. Wenn es wirklich das ist, was Sie wollen, dann sollten Sie auch weiterhin so tapfer gegen die Anwesenheitspflicht kämpfen! Mit freundlichen Grüßen, Maria Reicher-Marek.
1
http://www.wissenschaft.nrw.de/hochschule/hochschulrecht/hochschulzukunftsgese tz/verbot-der-allgemeinen-anwesenheitspflicht-in-lehrveranstaltungen/ Zugriff am 21. Juni 2015.