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P.-A. Taguieff: Une France antijuive? Taguieff, Pierre-André: Une France antijuive? Regards sur la nouvelle configuration judéophobe. Paris: CNRS Éditions 2015. ISBN: 978-2271-08700-3; 323 S. Rezensiert von: Günther Jikeli, Institute for the Study of Contemporary Antisemitism, Indiana University Damit hatte niemand gerechnet. Jedenfalls nicht so schnell. Selbst Hitler, dessen Raison d’être im Judenhass bestand, hatte in seinem Testament 1945 prophezeit, dass der Hass gegen Juden erst nach einigen Jahrhunderten wiederkommen werde. Heute aber werden in Europa wieder Juden erschossen, weil sie Juden sind. Juden haben Angst, in Berlin, London, Brüssel, Paris. Besonders virulent scheint der Antisemitismus in Frankreich, auch wenn die Regierung und weite Teile der Bevölkerung sich gegen Judenfeindschaft aussprechen. Die Mehrheit der jüdischen Franzosen spielt heute mit dem Gedanken der Auswanderung. Wie unter den Nazis richtet sich die Gewalt aber nicht nur gegen Juden, sondern gegen die Demokratie und die Freiheit aller. Die radikalsten Antisemiten sind heute unter Dschihadisten zu finden, denen ein antisemitisches Weltbild gemein ist und die für die grausamsten antisemitischen Gewalttaten der letzten Jahrzehnte verantwortlich sind. Der Antisemitismus ist jedoch nicht auf Terror reduzierbar. Spätestens seit auf den Straßen von Paris im Januar 2014 „Juden raus!“ skandiert wurde, seit propalästinensische Demonstrationen zunehmend zur Demonstration von Judenfeindschaft genutzt werden und seit dem massiven Anstieg antisemitischer Straftaten in den letzten 15 Jahren ist nur allzu deutlich, dass der Judenhass in Frankreich und in weiten Teilen Europas ein akutes Problem darstellt. Wie aber ist es zu fassen? Woher kommt der Anstieg des Antisemitismus, wie zeigt er sich und von welchen Bevölkerungsgruppen wird er getragen? Fundierte Studien, die versuchen, den zeitgenössischen Judenhass in seiner Komplexität sowie hinsichtlich seiner spezifischen soziohistorischen Bedingungen und Ursachen zu analysieren, sind rar. Pierre-André Taguieff hat jetzt ein Buch vorgelegt, dass diesem Anspruch gerecht zu
2016-4-179 werden versucht: auf Deutsch: „Ein antijüdisches Frankreich? Ansichten zur neuen antijüdischen Konstellation. Antizionismus, Propalästinismus, Islamismus.“ Das vergangene Jahr von Januar 2014 bis Januar 2015 bezeichnet Taguieff als „antijüdisches Jahr“ in Frankreich. Dennoch hält er es für falsch, von einem „Wiedererwachen des Antisemitismus“ zu sprechen. Überzeugend stellt er dar, dass die Formen und Träger des Judenhasses heute ganz andere sind als zur Zeit des Nationalsozialismus. Taguieff geht von einer sozialen Dreiteilung Frankreichs aus: das urbane Frankreich der Eliten, die sich in der globalisierten Welt zu Hause fühlen, das Frankreich der Peripherie der Mittel- und Unterschichten und das Frankreich der Banlieus, das vor allem aus Migranten besteht. Die Mittel- und Unterschichten der Peripherie sind in der globalisierten Welt oft von sozialem Abstieg bedroht und zum Teil empfänglich für Antikapitalismus, der sich häufig in Antisemitismus verwandelt, indem er Juden beispielsweise für die Finanzkrise verantwortlich macht. Sie befinden sich einerseits in Konkurrenz zu Migranten, was zu Abwertung und Ausgrenzung führen kann, Sozialneid gegenüber Juden, die als Teil der Elite wahrgenommen werden, können aber ebenso zu Ressentiments führen. Der Hass auf den Kapitalismus und das Finanzwesen, der von rechten wie linken Demagogen geschürt wird, schlägt sich oft in Hass gegen Juden nieder, die dem prinzipiell gesichtslosen „anonymen und vagabundierendem Kapital“ ein Gesicht zu geben scheinen. Die „Verlierer der Globalisierung“ (S. 28) kennen sich oft wieder in explizit oder implizit antijüdischen Interpretationen der Demagogen. Einen aggressiveren Judenhass stellt Taguieff in den Banlieus fest, wo er den neuen antijüdischen Wahn und den militanten Salafismus hauptsächlich verortet. Die palästinensische Sache findet dort ihre fanatischsten Anhänger und dient dem Antisemitismus als Vehikel. Darüber hinaus fühlen sich viele junge Muslime von der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen und diskriminiert. Als Identität dient der Islam. Juden werden als hinter den Kulissen wirkende Verantwortliche der Gesellschaft und als Urheber ihrer sozialen Situation gesehen. Es lässt sich außerdem ein
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Hass auf Frankreich, weiße Franzosen und den Westen feststellen, der auch von linken Intellektuellen getragen und propagiert wird. Als zentrales Element des neuen Judenhasses sieht Taguieff den radikalen oder absoluten Antizionismus, vorangetrieben von islamistischen und neolinken Gruppierungen. Der „Antizionismus“ habe seinen politischen Charakter verloren und sich in eine antijüdische Weltanschauung verwandelt, die mythische Auffassungen verbreitet. Taguieff hält es für notwendig, Begriffe zu überdenken und gibt hier wichtige Impulse für die Antisemitismusforschung. Juden werden heute nicht mehr als Mitglieder einer „jüdischen“ oder „semitischen“ „Rasse“ stigmatisiert. Der rassische Determinismus und die Idee eines Rassenkampfes sei heute eine ebenso veraltete Vision wie die fixe Idee eines finalen Kampfes zwischen der „semitischen und arischen Rasse“. Auch der katholisch-nationalistische Antisemitismus existiere nur noch als Überbleibsel. Für die antijüdische Leidenschaft sei dagegen heute die Diabolisierung Israels und des „Zionismus“ zentral, wie sie von einer Vielzahl von Kanälen der propalästinensischen Propaganda und der islamistischen Indoktrinierung verbreitet wird. Er plädiert daher für die Verwendung des Begriffs „Judeophobie“ anstatt „Antisemitismus“. Eines seiner überzeugendsten Argumente dafür ist, dass heute selbst Holocaustleugner und radikale Antizionisten vorgeben, „gegen Antisemitismus“ zu seien und dass der „Kampf gegen Antisemitismus“ ohne Konesequenzen bleibe, wenn er nicht konkrete Formen des Judenhasses angeht, wozu eine begriffliche Schärfe die Voraussetzung bildet. Taguieff beschreibt die Zweideutigkeit des Begriffs „Antizionismus“, dessen Bedeutung oszillieren kann zwischen einer Kritik dieser oder jener Politik einer israelischen Regierung und der Diabolisierung des jüdischen Staates. Der radikale Antizionismus lässt sich vor allem an seiner Argumentation erkennen, die auf die Legitimierung der Zerstörung Israels hinausläuft, was Taguieff anhand einer Vielzahl von Kriterien ausführt. Er setzt daher Antisemitismus in Anführungsstriche und spricht von Israelophobie. Eine weiterer zentraler Begriff seiner Analyse ist der „Propalästinismus“ (S. 95), den
er als Weltanschauung beschreibt, in dem die Palästinenser exklusiv als messianisches Volk angesehen werden, dessen Sieg über die Zionisten oder die Juden zur Erlösung der Menschheit wird. Der Propalästinismus ist eine radikale Form der Opferkonkurrenz, eine frenetische Konkurrenz um den ersten Platz des Opfergedenkens, angetrieben vom Ressentiment und einer spezifischen Form des Neids, der die Realität der Shoah bezweifeln, relativieren oder leugnen lässt. Diese perverse Form des Kampfes um Anerkennung hat vor allem den Effekt, Juden als „Holocaust-Betrüger“ darzustellen, mit den unvermeidlichen, dies begleitenden Slogans vom „Shoah-Business“, von der „Religion des Holocaust“ oder der „Holocaustindustrie“ (S. 57). Das „palästinensische Volk“ wird zum Opfer par excellence, was ihm einen symbolischen, paradigmatischen Status gibt: dem Opfer an sich. In dieser in Form von Mythen formulierten Weltsicht wird jedes Opfer imaginiert durch den Vergleich oder die metaphorische Assimilation mit dem „palästinensischen Volk“, welches angeblich verfolgt, diskriminiert, angegriffen oder gar von der Auslöschung bedroht sei. Die Hyper-Opfer korrespondieren in der antiisraelischen Dämonologie mit den HyperTätern. Es ist daher vielleicht nicht verwunderlich, dass es immer wieder zu antijüdischen Vorfällen auf propalästinensischen Demonstrationen kommt, die aufgrund ihrer Häufigkeit nicht mehr als Ausnahmen gelten können. Der Slogan „Solidarität mit Gaza“ führt zu einer totalen Solidarität mit den Terroristen von Hamas und islamischem Dschihad. Die so verstandene Solidarität mit Gaza impliziert, ob gewollt oder ungewollt, eine Komplizenschaft mit dem Kampf gegen die Juden. Aufschlussreich ist auch seine Analyse der schwierigen Situation für französische Juden. Er stellt die Frage, wie man glücklich werden kann in einer Gesellschaft, in der man sich bedroht und ausgeschlossen fühlt und man Objekt besonderer Schutzmaßnahmen ist? Wie lässt sich in dieser Situation weiter daran glauben, dass man Bürger wie jeder andere ist? Über die physische Bedrohung des Antisemitismus hinaus wirkt sich der weit verbreitete Antizionismus negativ
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P.-A. Taguieff: Une France antijuive? aus. „Die französischen Juden sind auch Opfer einer permanenten globalen Diffamierung, die von einem Teil der Medien getragen wird. Sie werden permanent verdächtigt [. . . ], in einer kriminellen Komplizenschaft mit den Israelis verwickelt zu sein. Der einzige Weg, dem zu entkommen ist, öffentlich ‚antizionistische‘ und propalästinensische Positionen einzunehmen“ (S. 72), wozu die Mehrheit der französischen Juden aus guten Gründen nicht bereit ist. Taguieff wagt es, Parallelen zu ziehen: „Der Genozid der Nazis an den Juden war die Lösung der ‚Judenfrage‘, von der die radikalen Antisemiten in Europa träumten. Der Genozid an den Israelis ist der kriminelle Traum, den heute die radikalen Antizionisten teilen, globalisiert von den Islamisten und ihren Wegbegleitern.“ (S. 245) Er kommt zu dem Schluss, dass ein konsequenter Antirassismus heute hieße, gegen den global gewordenen radikalen Antizionismus zu kämpfen, der eine der Hauptformen des zeitgenössischen rassistischen Denkens darstellt, einschließlich eines Programms zur Eliminierung des diabolisierten Feinds. Dies heißt gleichzeitig den Dschihadismus als einen der Hauptfaktoren zu bekämpfen. Taguieffs Analyse zu den heutigen Konstellationen der Judeophobie in Frankreich ist ein unverzichtbarer Beitrag zum besseren Verständnis der Ursachen der Angriffe auf Juden. Seine Analyse zielt auf Frankreich, ist aber in vielen Bereichen auch auf andere westliche Länder Europas übertragbar, auch wenn er dort derzeit noch weniger radikal in Erscheinung tritt. Zu wünschen wäre eine bessere Strukturierung und ein Namensregister. Das Buch ist unbedingt lesenswert, insbesondere für Leserinnen und Leser, die sich fragen, wie der Judenhass wirksam bekämpft werden kann jenseits moralisierender Floskeln. Für die wissenschaftliche Diskussion ist das Buch insbesondere aufgrund der Kristallisierung der zentralen Elemente des neuen Judenhasses und der Diskussion um ideologische Ursachen sowie der Reflexion um Begriffe ein Meilenstein und wird hoffentlich für Diskussionen sorgen.
2016-4-179 Regards sur la nouvelle configuration judéophobe. Paris 2015, in: H-Soz-Kult 15.12.2016.
HistLit 2016-4-179 / Guenther Jikeli über Taguieff, Pierre-André : Une France antijuive ?
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