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Russische Avantgarde in Berlin Isolierte Experimente
Als der Russe Wassily Kandinsky 1910 seine stark abstrahierenden Holzschnitte schuf und sich dabei von Szenen aus seiner Heimat anregen liess, betonte Paul Juon seine Verankerung in der russischen Musik im Finale des Konzertes op. 45 für Violine, Violoncello, Klavier und Orchester (1910) mit der Stilisierung eines russischen Volkstanzes. Das 2. Violinkonzert op. 49 von 1912 enthält eine Elegie mit dem Titel «Weisse Nächte», der an Dostojewskys gleichnamigen Roman und an jenes spezielle Nachtlicht in St. Petersburg erinnert.
Für die neuartigen Ideen der Expressionisten, Kubisten, Futuristen, Dadaisten und Konstruktivisten aus vielen Ländern setzte sich in Berlin besonders der Schriftsteller und Galerist Herwarth Walden (1878 – 1941) ein. Mit der Zeitschrift «Der Sturm» (1910 – 1932) und der Galerie gleichen Namens, schuf der mit der Dichte-
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rin Else Lasker-Schüler verheiratete Kunstförderer ein einzig artiges Forum für die Moderne. 1914 zeigte Herwarth Walden im
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«Sturm» die erste Einzelausstellung von Marc Chagall. Zu den vielfältigen Ausprägungen des Expressionismus, der wichtigsten Avantgardeströmung zwischen 1910 und 1920, trugen in Berlin vor allem Zugewanderte bei. Während in der bildenden Kunst die «Brücke» aus Dresden, der «Blaue Reiter» aus München und zahlreiche Maler aus Russland den grössten Einfluss ausübten, gaben in der Musik die aus Wien stammenden Komponisten Ernst Toch und Arnold Schönberg, Paul Hindemith aus Hanau und
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der in Dessau aufgewachsene Kurt Weill den neuen Ton an. Zu diesen Wegbereitern der so genannten Neuen Musik in Berlin zählen auch die in Moskau geborenen Komponisten Paul Juon und Wladimir Vogel. Der als Sohn eines Deutschen und einer Russin in Moskau ge
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borene Komponist Wladimir Rudolfowitsch Vogel (1896 – 1981) lebte seit 1918 in Berlin, wo er zusammen mit Kurt Weill bei Ferruccio Busoni an der Preussischen Akademie der Künste studierte. Er trat 1923 der progressiven «Novembergruppe» bei und engagierte sich in der kommunistischen Arbeitermusikbewegung. Nach der Bücherverbrennung 1933 verliess er Berlin und fand im Tessin Unterschlupf. Er starb in Zürich, wo er seit 1964 gelebt hatte. In seiner Berliner Zeit bereicherte Vogel die Neue Musik mit Sprechchören in rein musikalischer Funktion, mit formalen und rhythmischen Kombinationen sowie mit oratorischen Werken. Mit den in Zürich komponierten «Hörformen» schuf er einen einsätzigen, mehrteiligen Formtypus, der an Juons Satzverdichtungen erinnert. Mit Juons Schaffen war er seit den Berliner Jahren vertraut. In Berlin befand sich der Hauptsitz der vom Dirigenten Sergej Kussewitzky gegründeten Edition Russe de Musique, die vor allem Werke von Nikolaj Medtner, Sergej Prokofjew, Alexander Skrjabin, Igor Strawinsky und von Juons Kompositionslehrer Sergej Tanejew herausgab.
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1 Blick in die Zukunft: Paul Juon in den späten 1920er Jahren 2 «Der Sturm», Einzelnummer von 1912 mit originalen Holzschnitten von Wassily Kandinsky und Franz Marc. In dieser expressionistischen Zeitschrift erschienen Reproduktionen von Werken u. a. von Hans Arp, Umberto Boccioni, Marc Chagall, Lyonel Feininger, Natalia Gontscharowa, Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner, Paul Klee, Oskar Kokoschka, Fernand Léger, Gabriele Münter, Pablo Picasso, Karl SchmidtRotluff und Kurt Schwitters. 3 Klaviermusik, die ihre Stacheln in scharfen Dissonanzen und vertrackten Rhythmen herauslässt: «Kakteen» op. 76. Erstausgabe, Berlin 1923. DWl 4 Mit den Klavierstücken «Kakteen» op. 76 brach Paul Juon 1923 aus der Enge formaler und metrischer Zwänge aus. In Nr. 4 verzichtete er auf Taktstriche, wie es vor ihm erst Charles E. Ives (USA), Federico Mompou (Spanien) und Erik Satie (Frankreich) getan hatten.
5 Während Wladimir Vogel an den Ver anstaltungen des «Sturm» teilnahm und expressionistische Texte des «Sturm»Dichters August Stramm vertonte, scheint Paul Juon jenes Avantgarde zentrum nicht zur Kenntnis genommen zu haben. Wladimir Vogel in Berlin. Aufnahme um 1930. 6 Tomás Kramreiter spielt Klaviermusik von Paul Juon (Sechs Klavierstücke op. 12, «Den Kindern zum Lauschen» op. 38, Sonatine op. 47, «In Futurum» op. 80). Auf dem CD-Umschlag ist ein Ausschnitt aus dem Gemälde «Der neue Planet» (1921) von Konstantin Juon (1875 – 1958) wiedergegeben, das sich in der renommierten Tretjakow-Galerie in Moskau befindet. 7 Paul Juon in russischer Umgebung: Einspielung der «Weissen Nächte» op. 49a in der vom Komponisten stammenden Fassung für Violine und Klavier.