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Öffentliche Vorlesung
Schweres Herz, bedrängte Seele: Psychische Belastungen in seelsorgerischer Perspektive Vier Vorlesungen, jeweils Freitag, 1. Mai bis 22. Mai 2015.; 09.30 bis 11 Uhr; Katharinensaal (Katharinengasse 11, im Stadtzentrum)
Vorlesung 4, 22. Mai 2015: Mobbing Inhalt: Einleitung: Psalm 42 – Was bist du so gebeugt, meine Seele? 1. Depression a) Symptome b) Krankheitsklassifikation, Verlauf und Verbreitung c) Ursachen und Behandlung 2. Seelsorge und Psychologie a) Oskar Pfister (1873-1956) – Pionier der Psychoanalyse: b) Aktuelle psychotherapeutische Ansätze in der Seelsorge: Lösungsorientierte und Systemische Beratung 3. Abschliessende Gedanken: Jürg Zürcher, Depression und Seelsorge
Einleitung: Psalm 42 – Was bist du so gebeugt, meine Seele? Wie die Hirschkuh lechzt an versiegten Bächen, so lechzt meine Seele, Gott, nach dir. 3 Meine Seele dürstet nach Gott, dem lebendigen Gott. Wann darf ich kommen und Gottes Angesicht schauen? 4 Meine Tränen sind mein Brot bei Tag und bei Nacht, denn allezeit sagen sie zu mir: Wo ist dein Gott? 5 Daran will ich denken und mich in meiner Seele erinnern, dass ich einherging in dichtem Gedränge, mit ihnen ging zum Haus Gottes mit lautem Jubel und Dank in feiernder Menge. 6 Was bist du so gebeugt, meine Seele, und so unruhig in mir? Harre auf Gott, denn ich werde ihn wieder preisen, ihn, meine Hilfe und meinen Gott.
Psychische Belastungen in seelsorgerischer Perspektive
Vorlesung 4: Depression
7 Meine Seele ist gebeugt in mir, darum gedenke ich deiner vom Land des Jordan und vom Hermon her, vom Berg Mizar. 8 Flut ruft zur Flut beim Tosen deiner Wasserfälle, alle deine Brandungen und Wogen gehen über mich hin. 9 Am Tag erweist der HERR seine Gnade, und des Nachts ist sein Lied bei mir, ein Gebet zum Gott meines Lebens. 10 Ich spreche zu Gott, meinem Fels: Warum hast du mich vergessen? Warum muss ich trauernd umhergehen, bedrängt vom Feind? 11 Wie Mord ist es in meinen Gebeinen, wenn meine Gegner mich verhöhnen, da sie allezeit zu mir sagen: Wo ist dein Gott? 12 Was bist du so gebeugt, meine Seele, und so unruhig in mir? Psalm 42: - Die verwunderte Feststellung des Psalmbeters: Eine Beugung der Seele; die Wahrnehmung der psychischen Geknicktheit. Irgendwas stimmt nicht mit mir. - Die vorwurfsvolle Feststellung des Psalmbeters: Was ist los mit mir? Erinnerung an gute Zeiten, Appell an Gott. - Sympthome: Traurigkeit, Ernährungsstörung („Meine Tränen sind mein Brot, bei Tag und bei Nacht“), Stimmungsschwankungen, Gottverlassenheit, Hilf- und Hoffnungslosigkeit
1. Depression Eine Depression ist eine krankhafte psychische Störung, die durch die Hauptsymptome gedrückte Stimmung, Interesselosigkeit beziehungsweise Freudlosigkeit und Antriebsstörung gekennzeichnet ist. Depression ist keine Traurigkeit, sondern ein Zustand, in dem die Empfindung aller Gefühle reduziert ist. Betroffene beschreiben dies auch mit einem "Gefühl der Gefühllosigkeit".
a) Symptome: Hauptsymptom Niedergeschlagenheit/Gedrücktheit (deprimere: lat. niederdrücken) Verlust der Fähigkeit zu Freude oder Trauer; Verlust der affektiven Resonanz, d. h. die Stimmung des Patienten ist durch Zuspruch nicht aufzuhellen; übertriebene Sorge um die Zukunft, Gefühl der Hilflosigkeit; soziale Selbstisolation; übersteigerte Schuldgefühle, sinnloses Gedankenkreisen (Grübelzwang), negative Gedanken und Eindrücke werden überbewertet. Hauptsymptom Emotionale Apathie „Gefühl der Gefühllosigkeit“; anhaltende innere Leere; Sinnlosigkeit des Lebens; Suizidalität. 2 Pfr. Markus Anker, 22.5.2015
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Hauptsymptom Antriebslosigkeit Hemmung von Bewegung und Initiative in Verbindung mit mit innerer Unruhe; Schlafstörungen mitgestörtem Tagesrhythmus (Morgentief), Libidoverlust, Vernachlässigung der Selbstfürsorge (Körperpflege, Einkaufen, Abfallentsorgung etc.). Vitalstörungen: körperliche Symptome wie Appetitlosigkeit, Schlafstörungen, Gewichtsverlust, Gewichtszunahme, Verspannungen, Schmerzempfindungen im ganzen Körper, Kopfschmerzen und verlangsamten Bewegunge, Infektanfälligkeit. Katathymer Wahn (keine Psychose): Von den jeweiligen Affekten des Betroffenen sowie von aktuellen Erlebnissen abhängige Wahnvorstellungen, z.B. der Wahn, zu verarmen und mittellos zu sein. Nicht die Symptome selbst, sondern ihre Intensität und Dauerhauftigkeit machen den Unterschied aus zwischen Übellaunigkeit/Stimmungschwankungen und einer Depression als Erkrankung. Geschlechtsspezifische Symptomunterschiede: Frauen: eher Mutlosigkeit und Grübeln, exzessiver Altruismus. Männer: eher aggressives Verhalten; erhöhter Risikobereitschaft, exzessive Sporttätigkeit, Alkoholund Nikotinkonsum (Male Depression).
b) Krankheitsklassifikation, Verlauf und Verbreitung: Klassifikation nach ICD-10 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) • 32.0 Leichte depressive Episode: Der Patient fühlt sich krank und sucht ärztliche Hilfe, kann aber trotz Leistungseinbußen seinen beruflichen und privaten Pflichten noch gerecht werden, sofern es sich um Routine handelt. • F32.1 Mittelgradige depressive Episode: Berufliche oder häusliche Anforderungen können nicht mehr oder – bei Tagesschwankungen – nur noch zeitweilig bewältigt werden. • F32.2 Schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome: Der Patient bedarf ständiger Betreuung. Eine Klinik-Behandlung wird notwendig, wenn das nicht gewährleistet ist. • F32.3 Schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen: Wie F.32.2, verbunden mit Wahngedanken, z. B. absurden Schuldgefühlen, Krankheitsbefürchtungen, Verarmungswahn u. a.). • F33.0 - Rezidivierende depressive Störung • •
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Spezielle Winterdepression (SAD, Seasonal Affective Disorder), die durch Mangel an Sonnenlicht begünstigt wird. Altersdepression: bei den 70- bis 74-jährigen sind 14 % depressiv, bei über 80-jährigen sind es 42 %, auch hier Frauen doppelt so häufig wie Männer. Allerdings gehen die Alterspsychiater heute davon aus, dass es keine spezielle Altersdepression gibt, sondern alle Formen der Depression auch im höheren Lebensalter vorkommen können. Auch geht man davon aus, dass Depressionen im Alter nicht häufiger sind als in anderen Lebensabschnitten. Postpartale Depression: Bei etwa 10 % der Frauen kommt es nach einer Geburt zu einer Depression, für die hormonelle Ursachen vermutet werden.
Die Dauer einer einzelnen depressiven Episode beträgt unbehandelt etwa sechs bis acht Monate. Bei adäquat durchgeführter Therapie (Psychopharmakotherapie, Psychotherapie) kann die Episodenlänge auf zwei bis vier Monate reduziert und auch die Krankheitsintensität verringert werden. Verbreitung: Die Depression ist die am häufigsten auftretende psychische Erkrankung. Ca. 5% bis 20% der Personen in Industrienationen durchleben im Laufe ihres Lebens eine behandlungsbedürftige Depression. 3 Pfr. Markus Anker, 22.5.2015
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Bei Frauen werden Depressionen im Durchschnitt doppelt so oft wie bei Männern diagnostiziert. Dies kann auf eine verstärkte genetische Disposition von Frauen zur Depression hinweisen, aber auch mit den unterschiedlichen sozialen Rollen und Zuschreibungen zusammenhängen, da deutlich mehr Männer an meist depressionsbedingten Suiziden sterben als Frauen (ca. 70% der Suizide sind depressionsbedingt). In den vergangenen Jahren wurde in den hoch industrialisierten Ländern ein starker Anstieg der depressiven Erkrankungen beobachtet. Ursachen: - Stress in der Gesellschaft (in Form von gestiegener Beanspruchung und Unsicherheit durch die persönliche und berufliche Situation) - Entstigmatisierung der Depression in den letzten Jahren, häufiger ärztliche Behandlung.
c) Ursachen und Behandlung: Eine Depression hat selten eine einzige Ursache. Meist führt ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren zur Erkrankung. Die Depression lässt sich sowohl von der körperlichen, biologischen Seite her als auch von der psychischen und psychosozialen Seite her erklären und behandeln.
Psychosoziale Aspekte: Zu den psychosozialen Aspekten, die die Neigung depressiv zu erkranken (Vulnerabilität) verstärken können, zählen zurückliegende Traumatisierungen und negative Lebenserfahrungen. Psychosoziale Auslöser einer depressiven Episode können z.B. chronische Überlastungen oder Verlusterlebnisse sein. Dabei müssen diese Auslöser nicht unbedingt negativ sein: Auch scheinbar positive Ereignisse wie eine Beförderung oder eine bestandene Prüfung können Auslöser für eine Depression sein. Oft kommt es auch ohne einen eindeutig identifizierbaren Auslöser zu depressiven Episoden. Schwere Schicksalsschläge verursachen zwar Trauer, gedrückte Stimmung und Befindlichkeitsstörungen, jedoch nicht zwangsläufig eine Depression. Auf der Seite der psychosozialen Aspekte kann therapeutisch mit der Psychotherapie eingegriffen werden. Kognitive Verhaltenstherapie: Depressionsauslösende Denkmuster erkennen, um sie dann Schritt für Schritt zu verändern. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass die Art und Weise, wie wir denken, bestimmt, wie wir uns fühlen und verhalten und wie wir körperlich reagieren. Schwerpunkte der Therapie: Bewusstmachung von Kognitionen/Denkmuster; Überprüfung von Kognitionen und Schlussfolgerungen auf ihre Angemessenheit; Korrektur von irrationalen Einstellungen. Interpersonelle Therapie: In der IPT konzentrieren sich der Patient und der Therapeut auf den Ausbau zwischenmenschlicher Beziehungen, die eine Depression ausgelöst haben könnten. In Einzel4 Pfr. Markus Anker, 22.5.2015
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oder Paarsitzungen werden Konflikte mit dem Partner oder Kollegen besprochen und analysiert. Patienten sollen alternatives Verhalten einüben. In der Therapie sollen die Patienten lernen, zwischenmenschliche Konflikte zu lösen und so besser in und mit ihrem sozialem Umfeld zurechtzukommen. Tiefenpsychologische und analytisch orientierte Verfahren: Schon in der Kindheit entstandenen psychische Probleme und daraus resultierende Haltungen analysieren. Gruppentherapeutische Verfahren / Rollenspieltechniken: Überwindung der Tendenz zum Rückzug, Interaktionsmöglichkeiten verbessern. Neurobiologische Aspekte: Hier sind genetische Faktoren zu nennen – auch sie sind bedeutsam für die Neigung depressiv zu erkranken. Wie bei fast allen Erkrankungen sind genetische Einflüsse auch bei Depressionen gut belegt, ein einzelnes Depressionsgen gibt es allerdings nicht. Neben den genetischen Faktoren spielen auch Botenstoffe im Gehirn (z.B. Serotonin und Noradrenalin) oder Stresshormone eine Rolle bei der Entstehung einer Depression. Auf der Seite der neurobiologischen Aspekte kann mit Antidepressiva therapeutisch eingegriffen werden. Pharmakotherapie: In der medikamentösen Behandlung von Depressionen gab es in den letzten Jahren Fortschritte. Neuere Antidepressiva (Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, zum Beispiel Fluoxetin), haben geringere Nebenwirkungen als die früheren Mittel. Sie wirken allerdings erst nach mehrwöchiger Einnahmedauer. Johanniskraut wird oft für leichte bis mittlere Fälle angewandt, die Wirksamkeit ist aber umstritten, da es sowohl klinische Studien gibt, die eine Wirksamkeit belegen, als auch solche, die keine Überlegenheit gegenüber Placebo zeigen.
2. Seelsorge und Psychologie a) Oskar Pfister (1873-1956) – Pionier der Psychoanalyse: - Pfarrersohn mit pietistischer Mutter - Studium von Theologie, Philosophie und Psychologie an den Universitäten Basel, Zürich und Berlin. - 1897 bis 1920 Pfarrer in Wald ZH; ab 1920 bis 1939 in ZürichWiedikon. - 1909 und 1939: Intensiver Kontakt und Austausch mit Sigmund Freud; Mitglied im Kreis der Zürcher Schule der Psychoanalyse um Carl Gustav Jung. 1919 Mitgründer der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse. Pfister entwickelte und praktizierte eine Form analytisch-seelsorglicher Gesprächsführung, die sich sowohl von der klassischen Psychoanalyse als auch von der traditionellen Seelsorge unterschied. In seinen Gesprächsreihen, mehrheitlich mit jüngeren „Pastoranden“, finden sich Elemente der heute so genannten Kurzpsychotherapie und die konstruktive Einbeziehung der religiösen Symbolik. Dies geschieht auf der Grundlage seines Lebensmottos: des Kampfes der Liebe gegen die Angst, analytisch gewendet gegen die Angst- und Zwangsneurose und entsprechend gegen angsterregende theologische Konzepte in der gesamten Christentumsgeschichte (Strafangst, Gewissensangst). - Publikationen: Die Zukunft einer Illusion, 1928: spiegelbildliche Auseinandersetzung über die „Zukunft einer Illusion“ (Freud 1927); Das Christentum und die Angst: Eine religionspsychologische, historische und religionshygienische Untersuchung. Zürich, 1944 5 Pfr. Markus Anker, 22.5.2015
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b) Aktuelle psychotherapeutische Ansätze in der Seelsorge: Lösungsorientierte Beratung (Solution Focused Brief Therapy, SFBT) Die lösungsorientierte Therapie ist eine spezielle Art der Gesprächstherapie, die von den Psychotherapeuten Steve de Shazer und Insoo Kim Berg 1982 erstmals vorgestellt wurde. Um eine Lösung zu finden, müssen nicht das Problem und dessen Ursachen erörtert werden. Viel wirkungsvoller ist es, das Positive zu betrachten, die Ressourcen, die hypothetischen, neuen Lösungsideen und ganz besonders die Ausnahmen, in denen das Problem nicht in Erscheinung tritt. Potential und Lösung – so die Erfahrung des lösungsorientierten Arbeitens – sind bei jedem Menschen bereits vorhanden, lediglich versteckt oder blockiert durch die immer gleichen, erfolglosen Lösungsversuche. Ausgehend vom Grundsatz «Wenn etwas funktioniert, so tu mehr davon!» werden sowohl vergangene, wie auch ausgedachte, zukünftige Erfolge genau unter die Lupe genommen. Durch gezieltes, differenziertes Befragen von bereits erfolgreichen Erfahrungen, durch gedankliche und emotionale Auseinandersetzung mit neuen Lösungsvarianten und durch genaues Erkennen der eigenen Ressourcen gelangen die Klienten zu neuen, überraschenden Lösungen. Voraussetzungen: - Alle Menschen haben Ressourcen, um ihr Leben zu gestalten. In eigener Sache ist der Einzelne kundig und kompetent. Der Klient ist der Experte für das eigene Leben. - Menschen können nicht «nicht kooperieren». Jede Reaktion ist eine Form von Kooperation (auch das, was wir als Widerstand wahrnehmen.) - Nichts ist immer gleich. Ausnahmen deuten auf Lösungen hin. Menschen beeinflussen sich gegenseitig. Sie kooperieren eher und ändern sich leichter in einem Umfeld, das ihre Stärken und Fähigkeiten unterstützt. - Es ist nützlich dem Klienten genau zuzuhören und ernst zu nehmen, was er sagt. - Es ist hilfreich, sich am Gelingen in der Gegenwart zu orientieren und davon kleine Schritte für die Zukunft abzuleiten. - Mit etwas aufzuhören, etwas zu stoppen ist die schwierigste Form der Veränderung. - Etwas Neues zu beginnen ist viel leichter und macht mehr Spass. - Man muss das Problem nicht kennen und analysieren, um eine Lösung zu finden. Was wir bekämpfen, verstärken wir.
6 Pfr. Markus Anker, 22.5.2015
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Zielsetzungen: Lösungen statt Probleme: Nicht das Problemverständnis vertiefen, sondern erkunden, wie es ist, wenn es besser ist. Interaktion statt isolierter Individualität: Unser Verhalten entwickelt sich in der Interaktion mit anderen. In der Lösungsfokussierten Arbeit wird nicht über Meinungen, Glaubenssätze oder Werte diskutiert, sondern über beobachtbares Handeln. Repariere nicht, was nicht kaputt ist! Finde heraus, was gut funktioniert und passt – und tu mehr davon! (Miracle Question).
c) Systemische Beratung: Systemische Therapie ist ein psychotherapeutisches Verfahren, dessen Schwerpunkt auf dem sozialen Kontext psychischer Störungen, insbesondere auf Interaktionen zwischen Mitgliedern der Familie und deren sozialer Umwelt liegt. Der historisch aus der Familientherapie entwickelte Ansatz sieht das familiäre System bzw. das organisatorische System eines Unternehmens als Ressource, durch welche das einzelne Mitglied sowohl seine Fähigkeiten und Stärken als auch Verhaltensstörungen entwickeln kann. Dies kann sich beispielsweise in typischen privaten Konflikten mit dem Partner oder in immer wiederkehrenden Problemen mit Kunden oder Kollegen zeigen. Im Gegensatz zu den klassischen tiefenpsychologischen Schulen, die jeweils einen Gründer und ein Zentrum hatten (Freud, Adler, Jung, Frankl), hat die systemische Therapie viele Gründungorte. Familientherapeutisches Denken entwickelte sich so in den 1970er und 1980er Jahren im Kontext von Kybernetik und Systemtheorie. Virginia Satir (1916-1988) hat das systemische Repertoire und die Methodik erweitert und weiterentwickelt durch die Familienskulptur und Familienrekonstruktion. Familienaufstellung bzw. Systemaufstellung sind als weiterentwickelte Methoden der Familienskulptur heute in der Systemischen Therapie im deutschen Sprachraum weit verbreitet und werden (Bert Hellinger) Arbeitsformen: In der Systemischen Therapie werden soziale oder psychische Auffälligkeiten nicht als „krank“ bzw. pathologisch, sondern als prinzipiell verstehbare Reaktion auf Probleme oder Anforderungen gesehen, die gelegentlich selbst problematisch sein können. • Skalenfragen, zur Verdeutlichung von Unterschieden und Fortschritten • Positives Konnotieren und Herausarbeiten der positiven Aspekte von problematischen Sachverhalten • Paradoxe Intervention, Verschreibung des problematischen Verhaltens, um Automatismen zu verändern
7 Pfr. Markus Anker, 22.5.2015
Psychische Belastungen in seelsorgerischer Perspektive
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Ausnahmen zum beklagten Sachverhalt erfragen, um die Änderbarkeit von als statisch angenommenen Sachverhalten zu verdeutlichen Skulptur, Darstellen von Familienbeziehungen als Standbild aus Personen im Raum Soziogramm, die grafische Darstellung der sozialen Beziehungen
8 Pfr. Markus Anker, 22.5.2015
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3. Abschliessende Gedanken: Jürg Zürcher, Depression und Seelsorge in: Kantonal-Bernischer Hilfsverein für psychisch Kranke, 125. Jahresbericht 2005/2006
Königswege und Holzwege der Seelsorge Es müssen Menschen da sein, die es verstehen, in der Gesinnung Jesu sich zwar ganz in das Elend des Menschen hineinzustellen, aber doch nicht sich verführen lassen, als ob durch blosses Herumrühren in diesem Elend Wesentliches gewonnen werden könnte; Menschen müssen sein, die ungekränkt und unverbittert eine höhere Hilfe wissen und festhalten. Christoph Blumhardt Es ist etwas anderes, ob ich für einen Menschen in innerer Not bete oder ob ich ihn dazu bringen will, er müsse nun seine Depression im Gebet Gott darlegen. Leicht lenkbar wie jeder in seinem Selbstbewusstsein Geschwächte wird mir zwar der depressive Mensch zuerst bereitwillig folgen. Er versucht alle seine Kräfte zu bündeln und ein echtes Gebet zustande zu bringen. Es kann sein, dass ihm noch vertraute Worte zur Verfügung stehen. Nun jedoch kommen sie ihm hohl und leer vor. Dass Gott ein lebendiges Gegenüber sein könnte für sein Gebet, erinnert er als theoretische Wahrheit. Andere mögen das noch gefüllt empfinden. Für ihn selber ist dieser lebendige Gott nicht mehr erfahrbar. Am Schluss fasst er seine Situation zusammen in den kraftlos hervorgestossenen Satz: „Ich kann nicht mehr beten.“ Jedes Wort in diesem Satz meint er sehr real: Andere können – ich kann nicht; ich war einmal imstande zu beten – jetzt nicht mehr, und bestimmt nie mehr! Absolute Isolation und ewige Gottferne kennzeichnen das Erleben des Menschen in schwerer Depression. Es ist kein Zufall, wird genau mit diesen Attributen in traditioneller Diktion die Hölle umschrieben. Letztes Getrenntsein von den Menschen und allem Sinn: Die Depression ist Hölle mitten im Leben. Ein Gebet in Stellvertretung kommt ganz anders an. Dazu ist der Mitmensch ohne besondere Beauftragung oder Ausbildung genau so imstande wie die geschulte Seelsorgerin. Vielleicht müssen sie den Schritt zum Beten ohne explizite Zustimmung wagen – was kann der depressive Mensch schon schlechter als sich entscheiden? Sie stehen nun vor Gott ein für den Mitmenschen in seiner Not. Das darf durchaus mit hörbarer Stimme geschehen, nicht bloss verschämt und leise bei sich. Das stellvertretende Gebet bleibt selten ohne nachhaltige Resonanz. Nachhaltigkeit ist nicht zu verwechseln mit raschem Beifall, wie oben schon dargelegt. Ein kurzes, echtes Gebet ohne irgendwelche versteckten Belehrungen: Wieder ein Lebenszeichen in der Wüste! – Die junge Theologin berichtete im Spezialkurs ihren Kolleginnen und Kollegen von erlebter schwerer Depression. Ja, sie sei dann auch einige Wochen in der Klinik gewesen. Fromme Worte hätten sie damals nicht erreicht. Aber einen bestimmten Zuspruch einer Besucherin erinnere sie immer noch sehr gut und dankbar. Damals habe sie ihn wie alles ohne sichtbare Reaktion entgegen genommen. Aber er sei tatsächlich schon damals sehr gut bei ihr angekommen. Später habe sie zum Glück der Kollegin ausdrücklich danken können: „Weißt du, womit du mir damals am meisten geholfen hast? Das war, als du zu mir sagtest: du, dein ganzes Dasein jetzt, alles das mit deiner Depression und mit deinem ganzen Leiden, das ist doch als solches schon ein einziges Gebet zu Gott! Du mit deiner jetzigen Existenz bist ein Gebet zu Gott – und was für eines!“ 9 Pfr. Markus Anker, 22.5.2015
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Leider hilft auch eine sorgfältige Empathie, ein Mitgehen mit den Gefühlen und Gespächsinhalten nicht weiter in der Depression. Die Erkrankte wird zwar das Mitgefühl zunächst dankbar quittieren. Ihre Augen saugen sich fest an der veständnisvollen Seelsorgerin. Das Gespräch wird jedoch je länger desto mehr zur Bestätigung der schweren Empfindungen und trüben Gedanken. Das von Blumhardt genannte „Herumrühren im Elend“ ist erreicht. Wesentliches ist nicht gewonnen. – Mit seelsorgerlicher Echtheit mache ich mich zwar beim Depressiven im Moment nicht nur beliebt. Schon nur das Benennen, dass ich seinen Zustand als „gegenwärtig schlimm“ erlebe, kann Widerspruch wecken. „Ja, Sie meinen, das werde einmal anders. Leider täuschen Sie sich, Herr Pfarrer!“ Vielleicht muss der Seelsorger buchstäblich seine Augen vom Gegenüber lösen, um ruhig zu verstärken: „Doch, ich glaube tatsächlich, dass Sie später wieder besser dran sein werden.“ Nur bewahrt weder durchgehaltene Echtheit noch vermiedene Empathie den Seelsorger vor schwierigen Gefühlen nach dem Besuch. Einmal wird er sich sehr hilflos und nutzlos vorkommen – die Stimmung des Depressiven hat ihn angesteckt. Ein anderes Mal fühlt er sich zornig und möchte irgendwo eine kräftige Faust platzieren – die unbewusst unterdrückten Aggressionen des Besuchten begleiten nun auch ihn! Das klar gestaltete Abschütteln der depressiven Stimmung und das bewusste Zurückfinden zu den eigenen Empfindungen gehört zu den Anforderungen an jede Seelsorgeperson. Wenn ihr das nach ihren Kontakten nicht gelingt, wird sie nicht nur selber in schwierige Stimmungslagen kommen. Ob bewusst oder „ganz automatisch“ wird sie auch depressive Menschen je länger desto seltener aufsuchen. Mit sorgfältiger Psychohygiene findet die Seelsorgeperson schliesslich den Rhythmus der Kontakte und die Dauer der einzelnen Besuche, die ihr selber entsprechen und möglich sind. Es wird immer weniger sein, als der depressive Mensch möchte. Übermenschen und Mitmenschen Lass mich eines lernen, heiliger Gott: dass ich kein Übermensch bin. Meine Kräfte haben Grenzen und viel bleibt unfertig an meinem Werk und an mir selbst. Das lass mich lernen: dass nichts in dieser Welt ganz fertig zu werden braucht. Jörg Zink Aus der Depression herausfinden heisst einen langen Weg gehen. Der Schritt vom ganz hohen Ideal zum mir möglichen Ziel gelingt nicht von heute auf morgen. Alles ganz richtig machen wollen, kann mich daran hindern, das Nächstliegende anzupacken. In der Kirche finden sich vor allem Menschen zusammen mit einem hohen ethischen Anspruch an andere und an sich selber. Wo aber an jeder Ecke schwarz-weiss vereinfachende Handlungsalternativen angeboten werden, verlangsamt sich der Schritt. Vom abwägenden Innehalten bis zum grübelnden Sich-Zermartern ist es nicht mehr weit. Ein ethisch überladenes kirchliches Milieu erweist sich somit als hinderlich beim Herausfinden aus einer Depression und kann eine anlaufende depressive Erkrankung sogar verstärken. Martin Luther forderte zu einem fröhlichen Leben als Sünder auf. Er wusste nur zu genau um die Spirale eines angeheizten Schuld-Bewusstseins. Sie dreht sich munter gegen unten, bis der Sünder sich selber als derjenige erlebt, der die Sünde der Welt trägt. Der zu Erlösende nimmt den Platz des Erlösers ein. Das übersteigt aber jedes Menschenmass. Die dunklen Wellen der Depression schlagen über dem Frommen zusammen. Eine Kirche, die Schuld verwechselt mit Schuldgefühlen, handelt nicht nur theologisch fahrlässig. Sie fördert auch ein therapeutisch ungünstiges Milieu. „Fröhliche Sünder“ hingegen ermutigen sich gegenseitig zu aufrechtem Gang. Depression macht hilflos. Der Betroffene wie seine Helferinnen und Helfer möchten wissen, wie es dazu kam. Warum wurde er depressiv? Warum ist sein Wille gelähmt, seine Stimmung im tiefsten Keller und sein Denken schwer gestört? Die Medizin weiss heute weitgehend, wie eine Depression funktioniert. Nicht geklärt ist damit, 10 Pfr. Markus Anker, 22.5.2015
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Vorlesung 4: Depression
warum bei gleicher Belastung der eine fröhlich weiter lebt, während z.B. sein Arbeitskollege schwer krank wird. Risikofelder sind zwar bekannt. Von Wochenbettdepressionen hat schon jeder gehört. Dass gehäufte Verlusterfahrungen – nach der Arbeit verliert einer noch die Partnerin und erkrankt somatisch – die Wahrscheinlichkeit für depressives Erkranken erhöht, leuchtet unmittelbar ein. Zu erklären bleibt aber das letzte „Klick“, der berühmte Faktor X. Wer aus der Depression aufgetaucht ist, blickt häufig recht erstaunt zurück auf die mächtigen Geröllhalden an Schuldgefühlen, die nun hinter ihm liegen. Was, das alles nahm er damals auf sich? Ist ja wahnsinnig! Ist ja auch überheblich. Wer trägt denn die ganze Schöpfung – etwa er als Geschöpf? – Gute Rituale fürs Zurückfinden ins unbelastete Leben stehen noch aus. Ob sie in den bestehenden Selbsthilfegruppen für Depressive zu entwickeln wären? Oder ob sich kreative Gemeindepfarrerinnen daran machen, solche Lebensfeiern zu entwickeln? Das gemeinsame Aufatmen, das Lachen und Danken für wiedergewonnenes Leben könnte leicht ansteckend werden weit über den Kreis der direkt Betroffenen hinaus.
11 Pfr. Markus Anker, 22.5.2015