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Schwerpunkt - Die Volkswirtschaft

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89. Jahrgang   Nr. 3 /2016 sFr. 12.– Die Volkswirtschaft Plattform für Wirtschaftspolitik KAPITALMARKTUNION DOSSIER Wie die EU die Investitionen ankurbeln will Lohnkontrollen für gleiche Bedingungen zwischen Mann und Frau Economiesuisse und Caritas im Streitgespräch 59 38 56 ENTWICKLUNGS­ ZUSAMMENARBEIT SWISSNESS Exporteure setzen auf die Marke Schweiz 52 SCHWERPUNKT Entwicklungszusammenarbeit: Die Prioritäten der Schweiz Wichtiger HINWEIS ! Innerhalb der Schutzzone (hellblauer Rahmen) darf kein anderes Element platziert werden! Ebenso darf der Abstand zu Format- resp. Papierrand die Schutzzone nicht verletzen! Hellblauen Rahmen der Schutzzone nie drucken! Siehe auch Handbuch „Corporate Design der Schweizerischen Bundesverwaltung“ Kapitel „Grundlagen“, 1.5 / Schutzzone www. cdbund.admin.ch Jetzt im App Store kostenlos herunterladen EDITORIAL Wie bürokratisch ist die Agenda 2030? Lob für die Schweiz – das nehmen wir gerne an. Umso mehr, wenn es von einer angesehenen Persönlichkeit kommt wie UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon. An der Jahreskonferenz der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit in Zürich rühmte er die rasche Inangriffnahme der Agenda 2030. Der Bundesrat richtet die Entwicklungspolitik an der UNO-Agenda aus. In seiner jüngst verabschiedeten Botschaft über die Internationale Zusammenarbeit schlägt er dem Parlament für die Periode 2017 bis 2020 Rahmenkredite von rund 11 Milliarden Franken vor. Zurück zur Agenda 2030: Über drei Jahre hat die Ausarbeitung gedauert, und das Resultat mutet bürokratisch an. Neben den 17 Hauptzielen gibt es 169 Unterziele. Auf den zweiten Blick wird bei der Agenda 2030 deutlich, dass es sich wie angekündigt um einen Paradigmenwechsel handelt. Denn neu beinhalten die Ziele auch Umweltanliegen und sind universell gültig. Damit bildet die Agenda ganz einfach unsere komplexe globalisierte Welt ab. Die Interdependenzen zwischen den Zielen sind bewusst. Anerkennung verdient die Tatsache, dass auch hochpolitische Ziele wie etwa der Zugang aller Menschen zur Justiz aufgenommen wurden. Unsere Interviewpartner Jan Atteslander von Economiesuisse und Hugo Fasel von Caritas sind sich in einem Punkt einig: Die eingesetzten finan­ ziellen Mittel sollen Wirkung erzeugen. Die Zielerreichung der Entwicklungsprogramme soll deshalb umfassender gemessen werden. Wir wünschen Ihnen eine aufschlussreiche Lektüre. Susanne Blank und Nicole Tesar Chefredaktorinnen «Die Volkswirtschaft» INHALT Schwerpunkt 8 12 15 Nachhaltige UNO-Ziele leiten die inter­nationale Zusammenarbeit der Schweiz Wie sind die Ziele für nachhaltige ­Entwicklung finanzierbar? Weniger Armut – mehr Ungleichheit Valérie Engammare Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit Gilles Carbonnier Universität Genf Catherine Cudré-Mauroux, Patrick Stadler Staatssekretariat für Wirtschaft 19 23 26 Unternehmergeist schafft Arbeitsplätze Ein Plan für Südafrikas Armenviertel Wirksame Entwicklungshilfe baut auf Fakten Alain Bühlmann Staatssekretariat für Wirtschaft Stephan Leiser Swisscontact Mike Ducker J. E. Austin Associates Franziska Spörri, Sibylle Hägler Staatssekretariat für Wirtschaft Isabel Günther ETH Zürich 30 34 37 Koordiniertes Vorgehen bei Interessengegensätzen Nachhaltige Entwicklung kennt keine Grenzen «Wir haben eine hohe Erfolgsquote» Werner Thut Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit Till Berger, Daniel Dubas Bundesamt für Raumentwicklung Raymund Furrer Staatssekretariat für Wirtschaft INHALT Themen 38 b 45 INVALIDENVERSICHERUNG Im Gespräch mit Jan Atteslander von Economiesuisse und Hugo Fasel, Caritas Schweiz IV-Umbau zielt auf Jugendliche und Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen Patrick Cudré-Mauroux Bundesamt für Sozialversicherungen Wie können wir die Entwicklungshilfe verbessern? 50 EINBLICK VON CHRISTELLE DUMAS 48 FINANZMÄRKTE Internationale TLACStandards als Chance für Schweizer Grossbanken Das Verbot von Verhütungsmitteln in Manila Universität Freiburg Seraina Grünewald Universität Zürich 52 DOSSIER STANDORTFAKTOREN Exportunternehmen setzen auf Swissness Ralph Lehmann, Manuel Heinzle, Lukas Horrer, Kathrin Zogg Hochschule für Technik und Wirtschaft, Chur Mit Kontrollen zur Lohngleichheit 60 56 FINANZMÄRKTE Ein neuer Anlauf zur Herstellung der Lohngleichheit Marc Schinzel Bundesamt für Justiz Die Kapitalmarktunion – ein Paradigmenwechsel in der EU soll Wachstum bringen Die Mehrheit der Unternehmen begrüsst Lohngleichheitsanalysen Aline Jörg, Lea Hungerbühler Staatssekretariat für internationale Finanzfragen Susanne Stern, Judith Trageser Infras 61 64 Spots Die Messmethoden des Bundes zur Lohngleichheit sind aussagekräftig Oliver Schröter, Claudio Marti Whitebread Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann i b STANDPUNKTE 68 IMPRESSUM ZAHLEN CARTOON Alle Informationen zum Magazin Infografik und Wirtschaftskennzahlen Ambitionierte Ziele Staatssekretariat für Wirtschaft Staatssekretariat für Wirtschaft 4 70 Stephan Bornick 72 Der Bund muss die freiwilligen Bemühungen der Arbeitgeber anerkennen Daniella Lützelschwab Schweizerischer Arbeitgeberverband 69 Mit Transparenz gegen Lohndiskriminierung Valérie Borioli Sandoz Travail Suisse i IMPRESSUM Herausgeber Eidgenössisches Departement für Wirtschaft, ­Bildung und Forschung WBF, Staatssekretariat für Wirtschaft SECO, Bern Redaktion Chefredaktion: Susanne Blank, Nicole Tesar Redaktion: Käthi Gfeller, Matthias Hausherr, Christian Maillard, Stefan Sonderegger Redaktionsausschuss Eric Scheidegger (Leitung), Antje Baertschi, ­Susanne Blank, Eric Jakob, Evelyn Kobelt, Cesare Ravara, Markus Tanner, Nicole Tesar Leiter Ressort Publikationen: Markus Tanner Holzikofenweg 36, 3003 Bern Telefon +41 (0)58 462 29 39 Fax +41 (0)58 462 27 40 E-Mail: [email protected] Internet: www.dievolkswirtschaft.ch App: erhältlich im App Store Layout Patricia Steiner, Marlen von Weissenfluh Zeichnungen Alina Günter, www.alinaguenter.ch Cartoon Stephan Bornick, www.tgd.ch Abonnemente/Leserservice Telefon +41 (0)58 462 29 39 Fax +41 (0)58 462 27 40 E-Mail [email protected] Abonnementpreise Inland Fr. 100.–, Ausland Fr. 120.–, Für Studierende kostenlos, Einzelnummer Fr. 12.– (MWST inkl.) Erscheint 10x jährlich in deutscher und franzö­sischer Sprache (französisch: La Vie économique), 89. Jahrgang, mit Beilagen. Druck Jordi AG, Aemmenmattstrasse 22, 3123 Belp Der Inhalt der Artikel widerspiegelt die Auffassung der Autorinnen und Autoren und deckt sich nicht notwendigerweise mit der Meinung der Redaktion. Der Nachdruck von Artikeln ist, nach Bewilligung durch die Redaktion, unter Q ­ uellenangabe gestattet; Belegexemplare e­ rwünscht. ISSN 1011-386X SCHWERPUNKT Entwicklungszusammenarbeit: Die Prioritäten der Schweiz Im Herbst hat sich die Staatengemeinschaft in New York auf eine neue Agenda für nachhaltige Entwicklung geeinigt. Die Agenda 2030 der UNO umfasst 17 Hauptziele, in welchen soziale, wirtschaftliche und ökologische Anliegen in einem Rahmenwerk zusammengefasst werden. Konsequenterweise richtet sich die schweizerische Entwicklungszusammenarbeit danach aus: Der Bundesrat hat dem Parlament jüngst die Botschaft zur internationalen Zusammenarbeit für die Jahre 2017 bis 2020 vorgelegt. Lesen Sie mehr über die Prioritätensetzung der Schweiz in dieser Ausgabe. ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT Die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung Armut in allen ihren Formen und überall beenden Geschlechtergleich­ stellung erreichen und alle Frauen und Mädchen zur Selbstbestimmung befähigen Eine widerstandsfähige Infrastruktur aufbauen, breitenwirksame und nachhaltige Indust­ rialisierung fördern und Innovationen unter­ stützen Ozeane, Meere und Meeresressourcen im Sinne nachhaltiger Entwicklung erhalten und nachhaltig nutzen 6  Die Volkswirtschaft 3 / 2016 Den Hunger beenden, Ernährungssicherheit und eine bessere Ernäh­ rung erreichen und eine nachhaltige Land­ wirtschaft fördern Verfügbarkeit und nachhaltige Bewirt­ schaftung von Wasser und Sanitärversorgung für alle gewährleisten Ungleichheit innerhalb von und zwischen Staaten verringern Landökosysteme schüt­ zen, wiederherstellen und ihre nachhaltige Nutzung fördern SCHWERPUNKT der UNO-Agenda 2030 Ein gesundes Leben für alle Menschen jeden Alters gewährleisten und ihr Wohlergehen fördern Zugang zu bezahlbarer, verlässlicher, nachhal­ tiger und moderner Energie für alle sichern Für nachhaltige Konsum- und Produkti­ onsmuster sorgen Friedliche und inklusive Gesellschaften für eine nachhaltige Entwick­ lung fördern Dauerhaftes, breiten­ wirksames und nach­ haltiges Wirtschafts­ wachstum, produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit für alle fördern Umgehend Massnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels und seiner Auswirkungen ergreifen Umsetzungsmittel stärken und die Globale Partnerschaft für nach­ haltige Entwicklung mit neuem Leben erfüllen DEZA Städte und Siedlun­ gen inklusiv, sicher, widerstandsfähig und nachhaltig machen Inklusive, gleichberech­ tigte und hochwertige Bildung gewährleisten und Möglichkeiten lebenslangen Lernens für alle fördern Die Ziele für nachhaltige Entwicklung heissen auf Englisch Sustainable Development Goals (SDG) Die Volkswirtschaft  3 / 2016  7 ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT Nachhaltige UNO-Ziele leiten die inter­ nationale Zusammenarbeit der Schweiz Mit ihrer internationalen Zusammenarbeit leistet die Schweiz einen Beitrag an die Umsetzung der UNO-Agenda 2030. Das Ziel ist eine nachhaltige Entwicklung – weltweit.  Valérie Engammare Abstract    Im September 2015 haben die UNO-Mitgliedstaaten die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung und die darin enthaltenen Ziele verabschiedet. Die Schweiz nimmt im Entwurf der Botschaft zur internationalen Zusammenarbeit 2017 – 2020 weitgehend Bezug auf diese weltumspannende Agenda, die für alle Staaten, aber auch für andere Akteure wie die Zivilgesellschaft gilt. Die internationale Zusammenarbeit der Schweiz setzt sich ein für eine Welt ohne Armut und in Frieden, für eine nachhaltige Entwicklung. Sie kann dabei – durch ihre thematischen und geografischen Schwerpunkte, durch ihr Engagement auf bilateraler und multilateraler Ebene und durch den Ausbau ihrer Partnerschaften mit dem Privat­ sektor – zur Umsetzung der Agenda 2030 beitragen. In einem von Herausforderungen und Krisen geprägten internationalen Umfeld spielt die Schweiz als solidarische, verantwortungsbewusste und kompetente Akteurin eine wichtige Rolle. D  1 I m Sinne der Botschaft 2017 – 2020 umfasst die «internationale Zusammenarbeit» die humanitäre Hilfe, die technische Zusammenarbeit und die Finanzhilfe zugunsten von Entwicklungsländern, wirtschafts- und handelspolitische Massnahmen im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit, Transitionshilfe sowie Massnahmen zur Förderung des Friedens und der menschlichen Sicherheit. 2 Die Position des Bundesrates zur Botschaft war bei Redaktionsschluss noch nicht bekannt. 8  ie einstimmige Verabschiedung der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung (siehe Kasten) durch die UNO-Generalversammlung am 25. September 2015 markiert nach den Worten von UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon einen «entscheidenden Moment in der Geschichte der Menschheit». Die Agenda 2030 und ihre 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung (Social Development Goals, SDG) bauen auf den Erfolgen der Millenniumsentwicklungsziele auf, die weiterentwickelt wurden. Die Agenda 2030 sucht die drei Dimensionen der nachhaltigen Entwicklung – Ökologie, Ökonomie und Soziales – im Gleichgewicht zu halten und nimmt Abschied vom Nord-Süd-Denken. Das Massnahmenpaket ist von universeller Tragweite, denn es gilt nicht nur für die Entwicklungs-, sondern auch für die Industrieländer: Letztere müssen ebenfalls einen innerstaatlichen Beitrag zur Umsetzung leisten – beispielsweise durch ein nachhaltiges Konsumverhalten. Weiter bietet die Agenda nicht nur Leitlinien für Regierungen, sondern auch für andere Akteure wie den Privatsektor und die Zivilgesellschaft, welche stark an der Ausarbeitung der Ziele beteiligt waren. Das Echo auf die Verabschiedung der Agenda 2030 fiel teilweise negativ aus. Während einige Die Volkswirtschaft 3 / 2016 Kommentatoren das Vorhaben als zu ehrgeizig oder sogar als naiv und idealistisch einschätzten, war es vor allem der Umfang, der am meisten Kritik erntete: Wenn alles Priorität habe, sei nichts prioritär. In Wirklichkeit ist die Agenda das Abbild einer komplexen Welt, in der die Probleme, mit denen die Menschheit und der Planet konfrontiert sind, immer enger zusammenhängen. Die Agenda hat den Vorteil: Sie mobilisiert die verschiedenen Akteure für eine gemeinsame Vision. An diesen Zielen sind künftige Fortschritte zu messen. Da die Agenda universell gültig ist, nimmt sie alle Länder und alle Akteure in die Pflicht, beseitigt Trennwände und knüpft Beziehungen. Eine Agenda auch für die Schweiz Die Schweiz hat sich stark an der Ausarbeitung der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung beteiligt. Eine wichtige Rolle spielte sie bei der Annahme der Einzelziele in den Themenfeldern Wasser, friedliche Gesellschaften und Gleichstellung der Geschlechter. Die Agenda 2030 bietet der Schweiz innerstaatlich wie auch bei ihren internationalen Akti­vitäten einen wichtigen Bezugsrahmen: Das zeigt die neue Strategie Nachhaltige Entwicklung 2016–2019 des Bundesrates. In der Aussenpolitik nimmt die Botschaft zur internationalen Zusammenarbeit 2017–2020 über weite Strecken darauf Bezug.1 Nach dem Bundesrat sollte auch das Parla­ment noch dieses Jahr darüber befinden.2 Inklusion fördern, Ungleichheiten reduzieren Im Rahmen der Botschaft 2017 – 2020 sind die Aktivitäten der Direktion für Entwicklung und REUTERS SCHWERPUNKT Zusammenarbeit (Deza), des Leistungsbereichs Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) sowie erstmals auch der Abteilung Menschliche Sicherheit (AMS) des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten in eine gemeinsame Strategie eingebettet.3 Sie orientieren sich an der Vision: «eine Welt ohne Armut und in Frieden, für eine nachhaltige Entwicklung». Bei der Armutsbekämpfung wird sich die internationale Zusammenarbeit mit den verschiedenen Dimensionen der Armut auseinandersetzen: Nebst einem Einkommen und menschenwürdiger Arbeit spielt auch der Zugang zum Gesundheitsund Bildungswesen eine Hauptrolle. Weiter sind die Möglichkeit eines jeden, seine Rechte geltend zu machen, sich Gehör zu verschaffen, nicht diskriminiert zu werden und unvorhersehbaren Umständen gewachsen zu sein, zentral. Der Grundsatz, niemanden auszugrenzen («leave no one behind»), ist in der Agenda 2030 fest verankert. Besondere Aufmerksamkeit gilt in der Botschaft 2017 – 2020 Frauen und schutzbedürftigen Bevölkerungsgruppen wie Kindern, Jugendlichen, alten Menschen und Kranken. Im Bundesrat Didier Burkhalter (l.) und UNO-General­ sekretär Ban Ki-moon treffen sich an der Jahreskonferenz der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit in Zürich. 3 D ie Botschaft umfasst fünf Rahmenkredite: Diese betreffen die humanitäre Hilfe und das Schweizerische Korps für humanitäre Hilfe, technische Zusammenarbeit und Finanzhilfe zugunsten von Entwicklungs­ ländern, wirtschaftsund handelspolitische Massnahmen im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit, Transitionshilfe in den Ländern Osteuropas und Zentralasiens sowie Massnahmen zur Förderung des Friedens und der menschlichen Sicherheit. Mittelpunkt stehen Inklusion und Verringerung der Ungleichheiten. Die Gleichstellung der Geschlechter wird zu einem strategischen Ziel der internationalen Zusammenarbeit. In den Ländern Osteuropas und Zentralasiens ist im Rahmen der Transitionszusammenarbeit auch die soziale Inklusion ein wichtiges Thema. Die Deza wird ihr Engagement im Bereich Grund- und Berufsbildung verstärken, um insbesondere Jugendlichen bessere Perspektiven zu bieten. Auch die wirtschafts- und handelspolitischen Massnahmen, die das Seco im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit umsetzt, werden zu einem nachhaltigen und inklusiven Wachstum beitragen. Handeln in fragilen Kontexten Um zur Verwirklichung einer friedlichen Welt beizutragen, wird die Schweiz im Zeitraum 2017 – 2020 fragilen Regionen sowie Regionen, die von einem Konflikt betroffen sind, in denen Armut, Instabilität und Gewalt herrschen, einen grossen Teil ihrer Aktivitäten widmen. Zudem gilt ihre Aufmerksamkeit der friedlichen Die Volkswirtschaft  3 / 2016  9 ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT Bei­ legung von Konflikten, der Förderung der Menschenrechte und dem Schutz der Zivilbevölkerung. Die langfristige Friedenskonsolidierung und die Verminderung von Konfliktursachen bleiben dabei weiterhin als zentrale Aspekte bestehen. Mit der zunehmenden Anzahl von Krisen wird auch die humanitäre Hilfe ihre Arbeit fortsetzen, namentlich im Rahmen der Nothilfe für Vertriebene. Überdies sind langfristige Massnahmen erforderlich, um die kumulativen Herausforderungen in fragilen Ländern und Regionen zu bewältigen, in denen derzeit rund 1,5 Milliarden Menschen leben und wo sich 2030 zwei Drittel der Armen dieser Welt befinden werden. Daher ist geplant, die bilaterale Zusammenarbeit in Subsahara-Afrika zu erhöhen. Bis 2020 soll diese die Hälfte der bilateralen Zusammenarbeit der Deza darstellen. Lösungen für globale Probleme 4 H allegatte S. et al. (2016). Shock Waves: Managing the Impacts of Climate Change on Poverty, Climate Change and Development Series, Weltbank. 5 Siehe Artikel von Werner Thut (Deza) in dieser Ausgabe. 6 Greenhill R. et al. (2015). Financing the Future: How International Public Finance Should Fund a Global Social Compact to Eradicate Poverty, Bericht, Overseas Development Institute. Die Schweiz fördert die nachhaltige Entwicklung weltweit. Da bereits die Botschaft 2013 – 2016 der Lösung globaler Herausforderungen im Zusammenhang mit Klimawandel, Ernährungssicherheit, Wasser, Gesundheit, Migration, Finanzen und Handel eine zentrale Bedeutung beigemessen hat, spielt die Schweiz hier eine Vorreiterrolle. Dieses Know-how hilft ihr bei der Umsetzung der Agenda 2030. Diese globale Herausforderungen und die damit verbundenen Themen wie Sanitärversorgung, Ernährung, Energie, nachhaltiger Konsum und nachhaltige Produktion, Migration und Mobilität sowie übertragbare Krankheiten sind nun sowohl auf UNO-Ebene wie auch in der Botschaft 2017 – 2020 verankert. Die Schweiz wird sich dabei sowohl multilateral als auch an der Seite ihrer Partnerländer für die Umsetzung der Ziele der Agenda 2030 sowie für deren Monitoring einsetzen. Zudem sieht die Botschaft 2017–2020 eine Ausweitung der internationalen Zusammenarbeit im Umweltbereich vor. Hierbei sollen insbesondere die Zusammenhänge zwischen Umwelt­ aspekten und Armut beachtet werden. Denn: Wird gegen den Klimawandel nichts unternommen, könnten infolge von hohen Lebensmittelpreisen oder Krankheiten bis im Jahr 2030 weitere 100 Millionen Menschen verarmen.4 Synergien nutzen Um die Agenda 2030 umzusetzen, braucht es ein Umdenken: Es geht nicht nur darum, mehr zu tun, sondern auch und vor allem darum, anders vorzugehen und den Übergang zur Nachhaltigkeit zu fördern. Zu diesem Zweck müssen alle an einem Strick ziehen. Diesbezüglich setzt auch die Botschaft 2017– 2020 mehrere Schwerpunkte: Gestützt auf ihre jeweiligen Kompetenzen werden Deza, Seco und AMS vermehrt ihre Synergien nutzen. Beispielsweise durch engere Zusammenarbeit in Regionen, in denen sie gleichzeitig tätig sind – wie sie es bereits in Nordafrika umsetzen. Partnerschaften mit verschiedensten Akteuren sind ebenfalls eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass die Schweiz ihre Vision und die Ziele der Agenda 2030 verwirklichen kann. Dazu arbeiten Deza, Seco und AMS bereits heute eng mit multilateralen Organisationen wie den Entwicklungsbanken und den Organisationen UNO-Agenda 2030: Eine breite Themenpalette An der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklunga haben in fast dreijährigen Verhandlungen alle 193 UNO-Mitgliedstaaten mitgearbeitet. In bisher einmaligem Umfang waren auch nicht staatliche Akteure – insbesondere aus der Zivilgesellschaft und dem Privatsektor – beteiligt. Die Agenda umfasst 17 Nachhaltigkeitsziele (SDG) und 169 Unterziele. Im Mittelpunkt steht weiterhin die Armutsbekämpfung: So ist das erste Ziel die Beseitigung 10  Die Volkswirtschaft 3 / 2016 der extremen Armut bis 2030. Die Agenda deckt gleichzeitig ein breiteres Themenspektrum ab, das die verschiedenen Säulen der nachhaltigen Entwicklung ausgewogen einbezieht und die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Bereichen hervorhebt. Neben Themen wie Bildung, Gesundheit und Ernährungssicherheit, die bereits Gegenstand der Millenniumsentwicklungsziele waren, haben in der neuen Agenda Umweltfragen (wie Klimawandel und Biodiversität) sowie Wirtschaftsthemen (Nachhaltigkeit von Wachstum, Beschäftigung, Produktion und Konsum) einen hohen Stellenwert. Spezifische Einzelziele betreffen zudem die Förderung friedlicher und inklusiver Gesellschaften und die Verringerung der Ungleichheit. a Resolution 70/1 der UNO-Generalversammlung, verabschiedet am 25. September 2015, Transformation unserer Welt: Die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung. SCHWERPUNKT des UNO-Systems und mit der Zivilgesellschaft, dem Privatsektor sowie Forschungsinstitutionen zusammen. Diese Zusammenarbeit soll künftig noch intensiviert werden. Vor allem Unternehmen kommt eine Schlüsselrolle zu. In Zukunft sind innovative Formen der Kooperation zu entwickeln, die verschiedene Akteure einbeziehen und Schweizer Know-how nutzen. Im Sinne der Agenda 2030 wird auch die Bedeutung bereichsübergreifender Ansätze sowie der Politikkohärenz für nachhaltige Entwicklung zunehmen.5 Hilfe mit Hebelwirkung vergrössern Die Herausforderungen in der internationalen Zusammenarbeit nehmen zu. Immer mehr Aufgaben sind zu erfüllen. Langfristige Investitionen sind nötig, um die Armut dauerhaft zu verringern. Allein für die Finanzierung der Grundbildung (Primar- und Sekundarstufe) für alle wären in den einkommensschwachen Ländern jährlich 32 Milliarden Dollar erforderlich.6 Doch auch der kurzfristige Bedarf steigt: Die zunehmende Anzahl grosser Krisen in den vergangenen Jahren und der Umfang der durch sie verursachten Bedürfnisse – etwa im Nothilfebereich – sind eine Belastung für die Budgets der Geber. Auch die Bekämpfung des Klimawandels wird zusätzlich zur Entwicklungshilfe erhebliche Investitionen erfordern. Was ist also zu tun angesichts der – auch in der Schweiz – knappen Budgets? Die fünf Rahmenkredite, die dem Parlament für den Zeitraum 2017–2020 vorgeschlagen werden, belaufen sich auf fast 11 Milliarden Franken.7 Die öffentliche Entwicklungshilfe der Schweiz entspricht in diesem Zeitraum einer Quote von 0,48 Prozent des Bruttonationaleinkommens.8 Sie nähert sich dadurch der 0,5-Prozent-Quote, welche das Parlament 2011 beschlossen hat. Im Übrigen anerkennt die Schweiz die von der UNO empfohlene Quote von 0,7 Prozent. Zusätzlich zur Entwicklungshilfe erfordert die Umsetzung der Agenda 2030 auch die Mobilisierung anderer Ressourcen. Beispiele sind Steu­ ererträge der Entwicklungsländer, private Investitionen sowie Überweisungen von Migranten in ihre Herkunftsländer. In der Botschaft 2017 – 2020 wird daher die internationale Zusammenarbeit vermehrt als Katalysator verstanden, welcher diesen Prozess stärkt. Um ihre Wirkungskraft zu erhöhen, setzt die internationaDie Umsetzung der le Zusammenarbeit erprobterAgenda 2030 erfordert weise auf Hebelwirkungen: Sie die Mobilisierung zustärkt die Institutionen, verbessätzlicher Ressourcen sert die Rahmenbedingungen, fördert Reformvorhaben in den wie Steuererträge der Partnerländern, beeinflusst gloEntwicklungsländer. bale Politikfelder, unterstützt Akteure des Wandels – ins­ besondere aus der Zivilgesellschaft und dem Privatsektor – und setzt sich für die Politikkohärenz für nachhaltige Entwicklung ein. Schweiz leistet wichtigen Beitrag Die Schweiz kann als solidarische, verantwortungsbewusste und kompetente Akteurin einen wichtigen Beitrag zur Umsetzung der Agenda 2030 leisten. Im Zeitraum 2017 bis 2020 trägt die internationale Zusammenarbeit der Schweiz durch ihre thematischen Akzente, durch ihre Aktivitäten auf bilateraler und multilateraler Ebene und durch eine Stärkung ihrer Partnerschaften sowie dank ihrer Rolle als Katalysator und Hebel massgeblich dazu bei. Gleichzeitig bietet die UNO-Agenda der Schweiz die Möglichkeit, das Engagement in einem grösseren Rahmen, welcher alle Nationen und alle Akteure umfasst, zu verankern. In einem internationalen Umfeld, das von Krisen erschüttert und von Zerfall bedroht ist, stellt dieses gemeinsame und weltweite Vorhaben eine grosse Chance dar. 7 D er definitive Vorschlag des Bundesrats lag bei Redaktionsschluss noch nicht vor. 8 Gemäss dem vom Bundesrat genehmigten Stabilisierungs­ programm 2017 – 2019. Die öffentliche Entwicklungshilfe der Schweiz umfasst mehr als die Budgets der internationalen Zusammenarbeit, namentlich die Kosten, die im Zusammenhang mit der Aufnahme von Asylsuchenden aus Entwicklungsländern im ersten Jahr ihres Aufenthalts in der Schweiz anfallen. Valérie Engammare Dr. iur., Programmbeauftragte, Abteilung Analyse und Politik, Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza), Bern Die Volkswirtschaft  3 / 2016  11 ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT Wie sind die Ziele für nachhaltige Entwicklung finanzierbar? Eine nachhaltige Entwicklung unseres Planeten erfordert beträchtliche Investitionen. Die Finanzierungsquellen zu diversifizieren, ist für die Schweiz eine Notwendigkeit und gleichzeitig eine Chance.  Gilles Carbonnier Abstract  Die Umsetzung der Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDG) bedingt jährlich Ausgaben von mehreren Billionen Dollar – dies in einem Umfeld, das aktuell von Spar­ bemühungen geprägt ist. Zusätzlich müssen für die Bekämpfung der Klima­erwärmung und die Hilfe bei mehreren akuten humanitären Krisen genügend Mittel bereitstehen. Neben der Entwicklungshilfe gehört die Mobilisierung von Steuergeldern und Privat­ investitionen zu den vielversprechendsten Finanzierungsquellen für die SDG. Zur Um­ setzung dieser Ziele braucht es jedoch nicht nur grössere Investitionen in die interna­ tionale Zusammenarbeit, sondern auch eine bessere Abstimmung staatlicher Akteure bei der Förderung der nachhaltigen Entwicklung. Die Schweiz kann von diesen Pro­ zessen profitieren und ihre Position sowohl bei der globalen Governance als auch auf dem «SDG-Markt» stärken. S  ich zuerst auf die Finanzierung einigen und erst dann die Ziele verabschieden: Diese Posi­ tion vertraten zahlreiche Entwicklungs­ länder  – und setzten sich schliesslich durch. So wurden die Ziele für eine nachhaltige Entwicklung (SDG) erst verabschiedet, nachdem zwei Monate zuvor im Juli 2015 in Addis Abeba die dritte Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung statt­ gefunden hatte. Die Teilnehmenden waren sich einig, dass die Mittel der öffentlichen Entwicklungshilfe (APD) dazu allein nicht ausreichen und eine Diversifizierung der Finanzierungsquellen unabdingbar ist. Sie wollen deshalb Privatinvestitionen mobili­sieren, die Steuereinnahmen in den Entwicklungsländern ausweiten, den Kapitalzugang verbessern und Geldüberweisungen von Migranten in ihre Herkunftsländer fördern. 1 B ericht des Expertenausschusses zur Finanzierung nachhaltiger Entwicklung. Dieser wurde der UNO-Generalversammlung am 15. August 2014 vorgelegt (Doc. A/69/315). 12  Investitionsbedarf von 5 Billionen Dollar pro Jahr Gemäss einer Schätzung der UNO beträgt der Investitionsbedarf zur Finanzierung der SDG über 5 Billionen Dollar jährlich.1  Die öffentliche Entwicklungshilfe deckt weniger als 3 Prozent Die Volkswirtschaft 3 / 2016 dieser Summe ab. Selbst wenn die reichen Länder ihrer Zusage nachkämen und 0,7 Prozent ihres Bruttonationaleinkommens in die Entwicklungshilfe investierten, wäre damit bestenfalls ein Fünfzehntel des Bedarfs gedeckt. Dringlich wäre auch, den Begriff der öffentlichen Entwicklungshilfe neu zu definieren, um Ausgaben auszuklammern, die nur entfernt zur Entwicklung beitragen (beispielsweise die Aufnahme der Flüchtlinge in der Schweiz im ersten Jahr), und andere mit einer massgeblich positiven Wirkung einzuschliessen (z. B. Sicherheitsfonds). Die öffentliche Entwicklungshilfe bleibt jedoch zum Erreichen gewisser SDG weiterhin zentral: insbesondere in fragilen oder konfliktbetroffenen Staaten, wo immer mehr Gelder hinfliessen. Dort gestaltet sich die Aufgabe der Entwicklungszusammenarbeit besonders schwierig, da die Sicherheit des Personals vor Ort beeinträchtigt ist und Hilfsprojekte gefährdet sind. Steuereinnahmen im Fokus Die Vereinbarung von Addis Abeba legt den Schwerpunkt zu Recht darauf, die Ressourcen aus Steuereinnahmen in den Entwicklungsländern zu optimieren. Diese belaufen sich in den am wenigsten fortgeschrittenen Ländern auf 10 bis 15 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) – gegenüber mehr als 20 Prozent in den meisten Ländern mit mittlerem Einkommen. In vielen Entwicklungsländern höhlen Steuerflucht und -betrug sowie substanzielle unrechtmässige Geldflüsse die Besteuerungsgrundlage aus. Bei den Verhandlungen in Addis Abeba gingen die Meinungen in diesem Punkt auseinander. Die Entwicklungsländer schlugen vor, eine neue zwischenstaatliche Organisation einzusetzen, ALAMY die gegen Steuerflucht kämpft: Diese müsste zum Beispiel sicherstellen, dass internationale Konzerne dort Steuern zahlen, wo sie ihre Gewinne erwirtschaften. Die Industrieländer lehnen eine neue zwischenstaatliche Organisation ab: Sie wollen sich auf eine Stärkung des UNO-Expertenkomitees für Steuerfragen beschränken, um dasselbe Ziel zu erreichen. Dieselbe Stossrichtung verfolgt die im vergangenen Oktober in Paris von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und den G-20 gemeinsam lancierte Initiative zur Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung (Beps) gegen unlautere Praktiken zur Steueroptimierung. Eine solche Vereinbarung zwischen OECD-Staaten und Entwicklungsländern würde es ermöglichen, das Steuersubstrat insbesondere in rohstoffexportierenden Ländern zu erweitern. Ergänzung der öffentlichen Hilfe durch Privatkapital Privatinvestitionen sollen bei der Finanzierung und der Umsetzung der SDG künftig eine immer wichtigere Rolle spielen. Die ausländischen Das Gewerbe ist für eine nachhaltige Entwicklung zentral. Mann mit Nähmaschine in Mosambik. Direktinvestitionen in die Entwicklungsländer sind in den Nullerjahren stark gewachsen. Im Jahr 2013 übertrafen sie die Direktinvestitionen in den Industrieländern sogar um 778 Milliarden Dollar. Aber: Die am wenigsten fortgeschrittenen Länder erhalten nur einen kleinen Teil davon, vor allem im Erdöl- und Bergbausektor, der weitgehend von der lokalen Wirtschaft abgekoppelt ist. Die SDG legen hingegen den Schwerpunkt auf die Infrastruktur, auf erneuerbare Energien und auf das verarbeitende Gewerbe. Öffentliche Entwicklungshilfe kann bei der Erschliessung von Privatkapital eine starke Hebelwirkung erzeugen, unter anderem mit öffentlich-privaten Partnerschaften (Public-private-Partnerships). Wichtig ist bei diesen Investitionen, Sozial- und Umweltnormen festzulegen, beispielsweise mit Blick auf die Nachhaltigkeitsziele für die Produktion und den Konsum oder für die Bekämpfung der Klimaerwärmung (SDG 12 und 13). An der UNO-Klimakonferenz vom vergangenen Dezember in Paris bekräftigten die Geberländer ihre Zusage, ab 2020 jährlich mindestens 100  Milliarden Dollar für Massnahmen zur Eindämmung des Klimawandels und für die Die Volkswirtschaft  3 / 2016  13 ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT Anpassung an dessen Folgen bereitzustellen. Die Entwicklungsländer fordern, diese «Klimafinanzierung» müsse zusätzlich zur Entwicklungs­ hilfe gewährt werden. Angesichts der angespannten Finanzlage der Geberländer scheint es jedoch kaum vorstellbar, das Ziel von 100  Milliarden Dollar bis 2020 zu erreichen, ohne die öffentliche Entwicklungshilfe anzutasten. Noch schwieriger wird es, wenn international keine Einigung über eine CO2-Abgabe oder eine «Tobin»-Finanz­ transaktionssteuer erzielt wird. Denn es bestehen zwar Synergien zwischen Armutsbekämpfung und Klimafinanzierung, bei der Mittelvergabe werden jedoch immer wieder schwierige Entscheidungen zu fällen sein, da die Klimaziele und die (übrigen) SDG in einem gewissen Wettbewerb stehen. Die Schweiz hat gute Karten In diesem Kontext legt der Bundesrat dem Parlament seine Botschaft über die internationale Zusammenarbeit für den Zeitraum 2017 – 2020 vor. Thema der Botschaft sind sowohl die strategischen Schwerpunkte als auch die Verwendung der öffentlichen Entwicklungsgelder für humanitäre Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit und Friedensförderung (menschliche Sicherheit). Die Schweiz muss mehr unternehmen, wenn sie ihren Verpflichtungen im Rahmen der SDG und des Klimawandels nachkommen und ausserdem zur Deckung des enormen humanitären Bedarfs beitragen will, der aufgrund der vielen laufenden Krisen besteht (Naher und Mittlerer Osten, ­Afrika, Afghanistan, Ukraine). In der Schweiz ist zwar ebenfalls ein gewisser Spardruck vorhanden, die meisten anderen Geberländer sind aber mit wesentlich grösseren Schwierigkeiten konfrontiert. Davon kann die Schweiz profitieren und ihren Platz unter den einflussreichen Geberländern festigen. Ausserdem ist unsere Wirtschaft besonders gut positioniert, um von Märkten im Zusammenhang mit der internationalen Zusammenarbeit zu profitieren. Diese wachsen kräftig, 14  Die Volkswirtschaft 3 / 2016 was aktuelle Studien zum Einkauf von Waren und Leistungen der internationalen Organisationen und zu den wirtschaftlichen Auswirkungen der APD belegen.2 Neben der ausländischen Hilfe bedingt die Umsetzung der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung eine kohärentere Politik staatlicher Stellen in Themenbereichen wie Energie, Die Schweizer Handel, Finanzen, LandwirtWirtschaft ist gut posi­ schaft oder Migration. Eine zentioniert, um von Märkten trale Bedeutung kommt hier der im Zusammenhang Fiskalpolitik zu: Die Schweiz hat in der Vergangenheit eine Vormit der internationalen reiterrolle bei Projekten in EntZusammenarbeit zu wicklungsländern gespielt, wo profitieren. es darum ging, die Verwaltung öffentlicher Gelder zu optimieren – insbesondere in rohstoffexportierenden Ländern. Zur Erweiterung des Steuersubstrats in Ländern, die zur Finanzierung der SDG mehr eigene Mittel aufbringen müssen, braucht es deshalb eine bessere Abstimmung zwischen Fiskalund Entwicklungspolitik. Die Schweiz als wichtiges globales Rohstoffhandels- und Finanzzentrum kann hier wesentarbonnier, Gilles lich Einfluss nehmen. Mehr Investitionen in die 2 C(2014). Procurement of goods and services by internationale Zusammenarbeit und eine kohäinternational organirentere Politik der staatlichen Stellen sind im Insations in donor countries, 2013; Deza und teresse sowohl der Schweiz als auch der EntwickSeco (2015). Öffentliche Entwicklungshilfe (APD) lungsländer. Diesen Preis werden wir bezahlen 2013 – 2014, Univermüssen, wenn wir die Nachhaltigkeitsziele der sität Neuenburg und Hochschulinstitut für UNO erreichen wollen – in unserem wie auch im internationale Studien und Entwicklung, 2015. Interesse der Entwicklungsstaaten. Gilles Carbonnier Professor für Entwicklungsökonomie, Hochschulinstitut für Internationale Studien und Entwicklung (IHEID), Universität Genf SCHWERPUNKT Weniger Armut – mehr Ungleichheit In den letzten Jahrzehnten hat die Ungleichheit innerhalb der Staaten zugenommen – was hohe politische und soziale Kosten verursachen kann. Die Schweiz will diesem Trend in ihrer wirtschaftlichen Entwicklungszusammenarbeit entgegenwirken.  Catherine Cudré-Mauroux, Patrick Stadler Abstract  Das Umfeld der wirtschaftlichen Entwicklungshilfe hat sich in den letzten 50 Jahren drastisch verändert. Die extreme Armut ist auf einen Tiefstand gefallen, die Ungleichheit zwischen Staaten hat abgenommen. Gleichzeitig sind aber die innerstaatlichen Disparitäten deutlich gewachsen. Da grosse Ungleichheiten politische und soziale Kosten verursachen können, rückt das Thema zusehends auf die Agenda der internationalen Zusammenarbeit. Die wirtschaftliche Entwicklungszusammenarbeit des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) hat den Akzent auf nachhaltiges, inklusives Wachstum gelegt. Dadurch sollen alle Bevölkerungsschichten eines Landes Perspektiven erhalten. K  1 Roser (2015a). 2 M ilanovic und Lakner (2015) sowie Anand und Segal (2014). 3 Deaton (2013): «Inequality is often a consequence of progress. Not everyone gets rich at the same time, and not everyone gets immediate access to the latest life-saving measures, whether access to clean water, to vaccines, or to new drugs for preventing heart disease.» riege, Wirtschaftskrisen und Flüchtlingsströme: Die Schlagzeilen der Medien malen ein düsteres Bild der Welt. Vergessen gehen dabei häufig die beachtlichen Fortschritte im Kampf gegen eine der grössten Miseren, mit denen wir uns konfrontiert sehen: die extreme Armut. So ist der Anteil der Menschen, die mit weniger als 1.90 Dollar pro Tag auskommen müssen, in den letzten 15 Jahren um über die Hälfte gesunken. Heute leben rund 10 Prozent der Weltbevölkerung in extremer Armut. Zum Vergleich: Im 19.  Jahrhundert waren noch mehr als 8 von 10 Personen davon betroffen (siehe Abbildung 1). Nennenswert sind auch die Fortschritte im Kampf gegen die Kindersterblichkeit, welche heute beinahe vier Mal tiefer ist als vor 50 Jahren.1 Das durchschnittliche Einkommen in Europa vor 200 Jahren glich jenem der ärmsten Länder Afrikas von heute. Damals war nahezu die gesamte Weltbevölkerung arm (siehe Abbildung 2). Im Jahr 1970 hatte sich der Kontext als Folge von über einem Jahrhundert Industrialisierung drastisch verändert. Die Welt war nun zweigeteilt in entwickelte und arme Länder, was visuell an die Höcker eines Kamels erinnert. 50 Jahre später, um die Jahrtausendwende, hat sich das Kamel in ein Dromedar verwandelt: Die klare Unterscheidung zwischen entwickelter und unter­ entwickelter Welt ist Geschichte, das weltweite Einkommen deutlich gestiegen und gleichmässiger verteilt. Innerstaatliche Ungleichheit nimmt zu Während diese Entwicklungen optimistisch stimmen, ist seit den Achtzigerjahren eine neue Tendenz feststellbar: Die Ungleichheit zwischen den Ländern nahm in den letzten 25 Jahren zwar ab, die innerstaatliche Ungleichheit stieg aber deutlich.2  Aufstrebende Volkswirtschaften wie China und Indien verzeichneten jahrelang hohe Wachstumsraten, was wesentlich zur Armutsreduktion beitrug. Gleichzeitig wurde jedoch der Graben zwischen den verschiedenen Bevölkerungsschichten immer grösser. Die wachsende Ungleichheit ist mitunter ein Nebeneffekt der wirtschaftlichen Fortschritte der vergangenen Jahrzehnte, wie Wirtschaftsnobelpreisträger Angus Deaton konstatiert.3  Denn die Wohlstandsgewinne eines aufstrebenden Staates kommen nicht allen Bewohnern zur gleichen Zeit und in gleichem Masse zugute. Seco-Entwicklungsziele 2017 – 2020 Das Staatssekretariat für Wirtschaft will nachhaltiges und inklusives Wachstum in den Partnerländern über vier Wirkungsziele erreichen. Diese leiten sich aus der globalen Agenda 2030 für eine nachhaltige Entwicklung ab und reflektieren die Stellung des Seco als wirtschaftliches Kompetenzzentrum des Bundes: –– wirksame Institutionen und Dienstleistungen; –– mehr und bessere Arbeitsplätze; –– gestärkter Handel und höhere Wettbewerbsfähigkeit; –– emissionsarme und klimaresilientea Wirtschaft. a Unter «klimaresilient» wird die Widerstandsfähigkeit gegenüber extremen Klimaereignissen verstanden. Diese stellt neben der Reduktion von Emissionen die zweite Handlungsleitlinie des Seco im Klimabereich dar. Die Volkswirtschaft  3 / 2016  15 ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT ziell negative soziale oder politische Folgen hat, sondern längerfristig auch zu tieferem Wachstum führen kann.5 Weltbank geht mit «Shared Prosperity» voran Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich weiter. Rikscha in Indien. Die wachsende Ungleichheit in vielen Ländern wirkt sich auch auf die internationale Zusammenarbeit aus. Neben dem traditionellen Fokus auf die Reduktion von Armut und globalen ­Risiken wie dem Klimawandel befassen sich Entwicklungsakteure vermehrt mit den Folgen zunehmender Disparitäten. Exemplarisch ist in dieser Hinsicht die 2013 verabschiedete Strategie der Weltbank namens Shared Prosperity. Diese enthält das ambitionierte Ziel, die extreme Armut6 bis 2030 zu überwinden – respektive auf wenige Prozentpunkte zu reduzieren. Gleichzeitig soll der Lebensstandard der untersten 40 Prozent in jedem Land drastisch verbessert werden, um den Graben zwischen Arm und Reich zu vermindern. KEYSTONE Von den Möglichkeiten einer offenen, globalisierten Weltwirtschaft haben nicht zuletzt wohlhabende Schichten profitiert. Gemäss Schätzungen der Grossbank Credit Suisse verfügen heute 0,7 Prozent der Bevölkerung über knapp die Hälfte des weltweiten Vermögens. Die untersten zwei Drittel besitzen demgegenüber weniger als 3 Prozent (siehe Abbildung 3). Entsprechend sind Verteilungsfragen in den letzten Jahren ganz zuoberst auf die politische Agenda gerückt. Zahlreiche Beobachter sprechen von strukturellen Herausforderungen, die angegangen werden müssen. So macht der französische Ökonom Thomas Piketty die höheren Renditen von Kapital im Vergleich zum Wirtschaftswachstum hauptverantwortlich für die zunehmende Ungleichheit in entwickelten Volkswirtschaften4: Das Einkommen auf Arbeit wachse langsamer als das Einkommen auf Kapital, was das Gros der Bevölkerung systematisch benachteilige. Neue Analysen von Ökonomen des Internationalen Währungsfonds (IMF) zeigen zudem auf, dass Ungleichheit nicht nur poten- 16  Die Volkswirtschaft 3 / 2016 SCHWERPUNKT 70 60 50 40 30 20 10 0 1820 1840 1860 1880 1900 1920 1940 1960 1980 2000 2015 ROSER (2015A), BOURGUIGNON/MORRISSON (2002), WORLD BANK (2015) / DIE VOLKSWIRTSCHAFT 80   extreme Armut bisher (weniger als 1.25 Dollar pro Tag)         Weltbank-Definition von extremer Armut ab 2015 (weniger als 1.90 Dollar pro Tag)      Abb. 2: Weltweite Einkommensverteilung 1820, 1970 und 2000 320     Bevölkerung (in Millionen) 300 280 260 240 ROSER (2015B), OECD (2014) / DIE VOLKSWIRTSCHAFT 220 200 180 160 140 120 100 80 60 40 20 0 100 200 300 500 1000 2000 3000 5000 10 000 20 000 30 000 50 000 100 000 Jahreseinkommen pro Einwohner (in Internationalen Dollars, 1990)   1820          1970          2000      Das Jahreseinkommen der Menschen ist hier weltweit in «Internationalen Dollars» angegeben. Diese Vergleichswährung basiert auf einem Warenkorb, gemessen in Dollar (1990). Abb. 3: Weltweite Vermögensverteilung (2015) 0,7 % 34 Millionen Menschen rso lp e ze ög la t ei en (An vo n en m t To 71 % 3 386 Millionen Menschen al) < 10 000 Dollar 31,3 Billionen Dollar (12,5%) ög 21 % 1 003 Millionen Menschen rm ve E in 98,5 Billionen Dollar (39,4 %) mt 10 000 bis 100 000 Dollar 112,9 Billionen Dollar (45,2 %) sa ne n 100 000 bis 1 Million Dollar 7,4 % 349 Millionen Menschen 7,4 Billionen Dollar (3,0 %) Anzahl Personen (Anteil an der Weltbevölkerung) Die Volkswirtschaft  3 / 2016  17 JAMES DAVIES, RODRIGO LLUBERAS AND ANTHONY SHORROCKS, CREDIT SUISSE GLOBAL WEALTH DATABOOK 2015 / DIE VOLKSWIRTSCHAFT > 1 Million Dollar Ge Die wirtschaftliche Entwicklungszusammen­ arbeit des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) geht in der Strategie 2017 – 2020 ebenfalls verstärkt auf Disparitäten ein. So stellt das Seco seine entwicklungspolitischen Aktivitäten unter den Begriff «nachhaltiges und inklusives Wachstum»: Wachstum soll ökonomische wie soziale und ökologische Aspekte berücksichtigen und den Wohlstand künftiger Generationen nicht beeinträchtigen (siehe Kasten). Der neue Akzent auf inklusives Wachstum zielt darauf ab, allen Bevölkerungsschichten der Seco-Partnerländer7  Perspektiven zu bieten – unter anderem über Jobs. Nachhaltiges und inklusives Wachstum bedingt wirksame Institutionen und Dienstleistungen, die allen Bevölkerungsschichten zugutekommen. Ohne Rechtssicherheit oder funktionierende Energieversorgung können Kleinunternehmer nur mit Mühe eine Firma aufbauen und Arbeitsplätze schaffen. Ein verantwortungsvoller Umgang mit öffentlichen Finanzen und Investitionen sowie ein gut entwickelter Finanzsektor wirken sich positiv auf die wirtschaftliche Leistung eines Landes aus, was wiederum die Armut reduziert. Konkret unterstützt das Seco beispielsweise Ghana mit Expertise und IT-Infrastruktur beim Aufbau eines effizienten und fairen Steuersystems. Dadurch konnten die Staatseinnahmen erhöht und die Steuerlast breiter verteilt werden.8 Mehr und bessere Arbeitsplätze sind der Schlüssel zu einer wirtschaftlichen Entwicklung, die möglichst viele einbezieht. So stellt ein würdiger Arbeitsplatz das wohl wirksamste Mittel gegen Armut dar. Damit neue Stellen entstehen, braucht es neben einem förderlichen Geschäftsklima auch Zugang zu Finanzierungsquellen und Fachkräften. Gleichzeitig müssen Arbeitsplätze Mindestanforderungen erfüllen, um ein sicheres und menschenwürdiges Umfeld zu bieten. Über die Finanzierungsinstitution Swiss Investment Fund for Emerging Markets (Sifem) stellt das Seco deshalb Unternehmen in Entwicklungsländern Kapital zur Verfügung, damit diese expandieren und neue Stellen schaffen können. Längerfristiges Wachstum setzt einen stärkeren Handel und höhere Wettbewerbsfähigkeit voraus. Entwicklungsländer profitieren jedoch Abb. 1: Anteil der Armen an der Weltbevölkerung 90     In % Ve rm Inklusives Wachstum als Ziel ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT häufig nicht von den ertragreichen Etappen in der Wertschöpfungskette eines Produkts. Denn Güter durchlaufen heute komplexe Wertschöpfungsketten in verschiedenen Staaten, bis sie die Konsumenten erreichen. Geeignete wirtschaftliche Rahmenbedingungen tragen dazu bei, dass die Produktivität von kleinen und mittleren Unternehmen kontinuierlich steigt und lukrative Produktionsschritte mit hoher Wertschöpfung vermehrt vor Ort anfallen. Aus diesem Grund stärkt das Seco in Indonesien beispielsweise die Managementkapazitäten von Kakao-Klein­bauern und sorgt damit für stabilere Einkommen. Arme stärker vom Klimawandel betroffen Eine emissionsarme und klimaresiliente Wirtschaft ist angesichts der Herausforderungen des Klimawandels von zentraler Bedeutung. Entwicklungsländer sind besonders exponiert und bekommen die Folgen extremer Klimaereignisse stärker zu spüren als entwickelte Staaten. Gerade die Ärmsten in diesen Ländern sind überproportional von Überschwemmungen und anderen Katastrophen betroffen. Klimarelevante Strategien umfassen sowohl Massnahmen zur Reduktion der Treibhausgase als auch solche zur Anpassung an die Folgen der Klimaerwärmung. Im Zentrum stehen Massnahmen in Städten, weil sie bedeutende Verursacher klimarelevanter Gase sind und immer mehr Bewohner zählen. In Tadschikistan hat das Seco zu einem zuverlässigeren und nachhaltigeren Zugang zu Elektrizität beigetragen. Das Energienetz wurde saniert, was unter anderem Energieverluste reduzierte. Subventionen trugen dazu bei, dass auch die Ärmsten einen verbesserten Elektrizitätszugang erhielten. Abschliessend kann gesagt werden: Disparitäten sind mitunter ein Nebeneffekt der wirtschaftlichen Fortschritte der vergangenen Jahrzehnte. Mit ihren potenziell hohen politischen und sozialen Kosten stellen sie für Entwicklungsländer eine Herausforderung dar, die sie noch lange beschäftigen dürfte. Die internationale Zusammenarbeit der Schweiz, insbesondere des Seco, begleitet sie auf diesem Weg. Catherine CudréMauroux Leiterin Politik und Qualität, Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Staats­ sekretariat für Wirtschaft (Seco), Bern Patrick Stadler Wissenschaftlicher Mit­ arbeiter, Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Staats­ sekretariat für Wirtschaft (Seco), Bern Literatur Anand, Sudhir and Paul Segal (2014). The Global Distribution of Income. International Development Institute Working Paper 2014-01, London. Bourguignon, François and Christian Morrisson (2002). Inequality Among World Citizens: 1820 – 1992. The American Economic Review, Vol. 92, No. 4. September 2002. Deaton, Angus (2013). The Great Escape: Health, Wealth, and the Origins of Inequality, Princeton. 18  Die Volkswirtschaft 3 / 2016 IMF Staff Discussion Note (2015). Causes and Consequences of Income Inequality: A Global Perspective, Washington D. C.. Milanovic, Branko and Christoph Lakner (2015). Global Income Distribution: From the Fall of the Berlin Wall to the Great Recession, in: The World Bank Economic Review, 12. August 2015. OECD (2014). How Was Life? Global Well-being Since 1820, Paris. Piketty, Thomas (2013/2014). Capital in the Twenty-First Century, Paris. Roser, Max (2015a). Child Mortality, Oxford, Ourworldindata.org. Roser, Max (2015b). Inequality Between World Citizens, Oxford, Ourworldindata.org. World Bank (2015). Global Monitoring Report 2015/2016, Washington. 4 P iketty (2013/2014). 5 IMF Staff Discussion Note (2015). 6 Einkommen pro Person von weniger als 1.90 Dollar pro Tag (kaufkraftbereinigt, 2011). 7 Schwerpunktländer im Süden: Indonesien, Vietnam, Ägypten, Ghana, Südafrika, Tunesien, Kolumbien und Peru. Im Osten: Albanien, Serbien, Kirgistan, Tadschikistan, Ukraine. 8 Die Projektbeispiele basieren auf laufenden oder früheren Projekten, welche bereits einen starken Bezug zu inklusivem Wachstum aufweisen. Siehe auch die Beiträge von Alain Bühlmann, Stephan Leiser und Mike Ducker sowie Franziska Spörri und Sibylle Hägler in dieser Ausgabe. SCHWERPUNKT Unternehmergeist schafft Arbeitsplätze In sechs ausgewählten Transitions- und Schwellenländern fördert das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) Start-ups und bestehende Unternehmen. Ziel des Entrepreneurship-­ Programms ist es, die entsprechenden Rahmenbedingungen zu verbessern. Dazu braucht es auch einen Mentalitätswandel.  Alain Bühlmann, Stephan Leiser, Mike Ducker Abstract  Menschen mit innovativen Ideen und Tatendrang sind überall auf der Welt anzutreffen. Darin liegt ein enormes Potenzial für neue Jobs und wirtschaftliches Wachstum. In den meisten Transitions- und Schwellenländern gehen Start-ups jedoch schon nach kurzer Zeit wieder ein. Zudem schöpfen bestehende Unternehmen ihr Wachstumspotenzial nur beschränkt aus. Ein wichtiger Grund dafür sind schlechte wirtschaftliche Rahmenbedingungen. Häufig fehlt es den Firmen an Zugang zu Wissen, Kapital und diversen Unterstützungsdienstleistungen im eigenen Land. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) hat in sechs ausgewählten Ländern den Fokus auf Unternehmen mit Wachstumspotenzial gelegt. Im Auftrag des Seco unterstützt die Stiftung Swisscontact – in Zusammenarbeit mit dem US-Unternehmen J. E. Austin Associates – Partnerorganisationen in Peru, ­Vietnam, Serbien, Albanien, Mazedonien und Bosnien. A  1 SDG 8, mehr unter Sustainabledevelopment. un.org. rbeitsplätze sind zentral, um der Armut langfristig zu entkommen. Für viele Menschen bieten sichere Jobs zudem eine Alternative zur Migration, was angesichts der gegenwärtigen Auswanderungswellen besonders relevant ist. Auf globaler Ebene werden Arbeitsplätze zunehmend als Instrument für die Armutsreduktion gesehen: Eines der UNO-Ziele für nachhaltige Entwicklung nach 2015 (Sustainable Development Goals, SDG) setzt genau dort an, indem es die produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit für alle anstrebt.1 Im Rahmen der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit setzt sich auch das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) in seinen Partnerländern unter dem neuen Rahmenkredit (2017 – 2020) gezielt für die Schaffung von mehr und besseren Arbeitsplätzen ein. Was als Konzept einfach zu verstehen ist, stellt die Akteure in der Praxis vor grosse Her- ausforderungen. Die Frage, wie mehr und bessere Stellen geschaffen werden können, beschäftigt Forscher und Praktiker gleichermassen. Da weltweit jede neunte Stelle durch den Privatsektor generiert wird, kommt ihm unumstritten eine zentrale Rolle zu: Neu gegründete und etablierte Firmen, die wachsen, benötigen Personal und schaffen Arbeitsplätze. Um dieses Wachstum zu ermöglichen, bedarf es einer Vielzahl an lokalen Unterstützungsmechanismen, angefangen bei Finanzierungsmöglichkeiten bis hin zu Beratungsdienstleistungen. Erfahrene Unternehmer als Mentoren Bis vor Kurzem war relativ wenig darüber bekannt, wie Regierungen und Geber den Nährboden – das sogenannte Entrepreneurship-Ecosystem (siehe Kasten 1) – verbessern und damit zur Entstehung von wachstumsorientierten Unternehmen («high growth entrepreneurs») beitragen können. In den vergangenen Jahren haben sich Forscher und Praktiker zunehmend mit diesem Ecosystem befasst. Dabei suchten sie nach Wegen, den Boden für innovative Geschäftsideen fruchtbar zu machen, damit diese nicht nach kurzer Zeit welken, sondern sich nachhaltig entwickeln und etablieren. Die Erfahrung des auf Entwicklungsländer spezialisierten US-Beratungsunternehmens J. E. Austin Associates (JAA) zeigt: Die Qualität des Eco- Kasten 1: Das Entrepreneurship-Ecosystem Jedes Entrepreneurship-Ecosystem («Unternehmertum-Ökosystem») eines Landes enthält lokale Faktoren, welche Wachstum und Bestehen von Unternehmen begünstigen. Wie die Analogie aus der Biologie («Ökosys- tem») nahelegt, sind die einzelnen Faktoren zwar wichtig, aber für sich alleine noch nicht genügend. Eine Wirkung entfaltet sich erst aus ihrem Zusammenspiel. Zum Ecosystem gehören unter anderem die Unternehmen selber, aber auch Dienstleistungen, Expertise, Finanzierungsmöglichkeiten, Gesetze und kulturelle Normen. Die Volkswirtschaft  3 / 2016  19 SWISSCONTACT / ICT HUB BELGRAD ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT systems hängt primär von erfahrenen Unternehmern ab, welche Wissen, Erfahrung und Kontakte an Jungunternehmer weitergeben und bestenfalls selber in junge Firmen investieren. Jungunternehmer erhalten durch den generationenübergreifenden Austausch ein tiefer gehendes Verständnis von Märkten, Technologien, Indus­trien, Managementstrategien, Finanzierungsmöglichkeiten und haben bessere Aussichten, schneller und nachhaltiger zu wachsen. Unternehmen durchlaufen drei Entwicklungsphasen Aktuelle Forschungsergebnisse stützen diese Erkenntnis: Unternehmer, welche von Experten beraten werden, verzeichnen mehr als dreimal höhere Wachstumsraten. Solche Mentoren sind grösstenteils Einheimische, können aber auch Mitglieder einer Diaspora im Ausland sein. Analog zum Menschen können drei grobe Phasen der Unternehmensentwicklung unterschieden werden: Kindheit, Jugend- und Erwachsenenalter. Die möglichen Formen des Mentoring richten sich danach aus und umfassen unter anderen «Inkubatoren» und «Acceleratoren». Inkubatoren begleiten neu gegründete Startups – die Kinder – in ihrer Anfangsphase, indem 20  Die Volkswirtschaft 3 / 2016 Jungunternehmer arbeiten in einem ICT-Hub in Belgrad an der Umsetzung ihrer Ideen. Das Seco unterstützt das Netzwerkprojekt. sie ihnen Büroräume und grundlegendes Wissen zur Geschäftstätigkeit vermitteln, bis sie auf eigenen Füssen stehen. Acceleratoren nehmen sich der «Jugendlichen» an: In diesem oftmals schwierigen Entwicklungsstadium haben die Unternehmen bereits erste erfolgreiche Schritte gemacht, brauchen aber weiterhin Begleitung, um sich nicht im Tagesgeschäft zu verlieren und um ihre langfristigen Ziele im Auge zu behalten. Weiter für den Erfolg verantwortlich ist die öffentliche Wahrnehmung der selbstständigen Unternehmer. Denn: Nicht überall werden Unternehmensgründer wie im kalifornischen Silicon Valley als Helden gefeiert. Vielmehr herrscht oft die Ansicht vor, dass sich nur Leute in die Selbstständigkeit begeben, die keinen gut bezahlten Job finden. Kasten 2: «Seco Entrepreneurship Program» Das vom Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) finanzierte Seco Entrepreneurship Program (2015–2019) wird von der Stiftung Swisscontact vor Ort umgesetzt. Die fachliche Expertise im Bereich Unternehmertum liefert das US-Beratungsunternehmen J. E. Austin Associates (JAA). Das ambitionierte Ziel des Programms ist es, in vier Jahren mehr als 4000 neue Stellen zu schaffen, über 800 Start-ups – beziehungsweise wachstumsorientierte Unternehmen – zu unterstützen und ihnen zu einem jährlichen Einkommenswachstum von 50 Prozent zu verhelfen. Das Programmbudget umfasst 15 Millionen Franken für die Seco-Schwerpunktländer Peru, Vietnam, Serbien, Albanien, Mazedonien, Bosnien. Der Auftrag zur Umsetzung des Programms war öffentlich ausgeschrieben worden. SCHWERPUNKT Bund finanziert Entrepreneurship-Programm Das Seco fördert Start-ups und bestehende Unternehmen mit dem «Seco Entrepreneur­ ship Program» (siehe Kasten 2), welches von der Schweizer Stiftung Swisscontact vor Ort umgesetzt wird. Der Fokus liegt auf Firmen mit Innovationskraft und hohem Wachstumspotenzial, die Arbeitsplätze schaffen. In allen sechs Ländern, in denen das Programm läuft, besteht bereits heute eine Gründerszene, und verschiedene Organisationen führen dort regelmässig Start-up-Events und Wettbewerbe durch. Eine erste Bestandsaufnahme zeigt jedoch, dass ohne weiterführende Unterstützungsmechanismen der Weg zum erfolgreichen Unternehmen selbst für die Gewinner solcher Veranstaltungen häufig bereits nach kurzer Zeit wieder endet. Wegen fehlender fachlicher Unterstützung oder nicht vorhandener finanzieller Mittel wachsen Geschäftsideen trotz Potenzial und Innovation oft kaum über das Gründungsstadium heraus. Genau da setzt das Entrepreneurship-Programm an: Mit verschiedenen Interventionen sollen lokale Unterstützungsangebote gestärkt und verbessert werden, damit Unternehmer in Zukunft gezielter und über verschiedene Entwicklungsphasen eines Start-ups hinweg unterstützt werden. Durch die Zusammenarbeit mit Der Chef einer Holzpellet-Fabrik bei Klokot im Kosovo zeigt sein Unternehmen. Das Seco hat sich finanziell beteiligt. KEYSTONE Geberfinanzierte Programme können das Entrepreneurship-Ecosystem, welches im Endeffekt ein öffentliches Gut darstellt, entscheidend verbessern. Dafür müssen die Geber aktiv die Rolle des «Matchmaker» übernehmen und Unternehmer mit Potenzial mit den passenden Mentoren und Investoren verlinken. Zusätzlich können dank solcher Programme Lernplattformen und Finanzierungsmechanismen zur Verfügung gestellt oder verbessert werden. Weitere Felder sind die Mentorenausbildung und die Aufklärung von Unternehmern über entsprechende Angebote. Nicht zuletzt können die Programme via Medien auf eine verbesserte öffentliche Wahrnehmung des Unternehmertums hinarbeiten. Die Volkswirtschaft  3 / 2016  21 ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT Inkubatoren, Acceleratoren, Investoren und Medien verfolgt das Programm einen Ansatz, der zwar indirekt, dafür aber nachhaltig ist. Durch die Stärkung des gesamten Ecosystems sollen die Unternehmer auch über das Programmende hinaus profitieren. Das Entrepreneurship-Programm stellt in erster Linie Expertise für die Entwicklung oder Weiterentwicklung von Angeboten in Partnerorganisationen zur Verfügung. Die Schlüsselkomponenten sind der Aufbau von Netzwerken mit gut trainierten lokalen Mentoren (vgl. Kasten 3) und das Lernen in Peergruppen. Weil Frauen in den Gründerszenen der Zielländer unterrepräsentiert sind, sind spezifische Angebote für Unternehmerinnen mit innovativen Geschäftsideen geplant. Potenzielle Investoren – auch aus der Schweiz Die Suche nach Partnerorganisationen hat bereits gezeigt, dass einige noch nicht auf einer stabilen Basis stehen. Hier unterstützt das Entrepreneurship-Programm die Partner bei der Entwicklung eines nachhaltigeren Geschäftsmodells, das nicht ausschliesslich auf staatliche Fördergelder oder Beitragszahlungen von Firmengründern abstützt. Denn: Letztere sollen schliesslich profitieren können. Sogenanntes Seed-Kapital, das in der frühen Entwicklungsphase von Start-ups dazu dient, eine Geschäftsidee ausreifen zu lassen, ist für den Erfolg entscheidend, da Banken Jungunternehmen wegen des hohen Risikos oft keine Kredite gewähren. Zudem verfügen die Firmengründer selten über Mittel für eine Eigenfinanzierung. 22  Die Volkswirtschaft 3 / 2016 Kasten 3: Mentoren verhelfen Fruchtsaftbar-Kette in Peru zum Erfolg Wie wichtig eine professionelle Unterstützung für ein Jungunternehmen ist, zeigt das Beispiel der Fruchtsaftbar-Kette Disfruta in Peru. Die Geschwister Azucena und Eduardo Gutiérrez gründeten das Unternehmen im Jahr 2007. Sie erweiterten den traditionellen Früchtehandel ihrer Eltern zu einem innova- tiven Geschäftsmodell basierend auf gutem Service, umweltfreundlicher Produktion und gesunden Zutaten. Auf ihrem Weg zum eigenen Geschäft erhielten die beiden Unterstützung von einem Accelerator in Form von Mentoring sowie Zugang zu einem breiten Netzwerk von Unternehmern. In Schulungen sensibilisieren Experten deshalb potenzielle private Investoren. Weiter will das Entrepreneurship-Programm mit komplementären Finanzierungsmodellen zur Risikominimierung zusätzliche Investitionen stimulieren. Potenzial verspricht sich das Programm zudem durch die Aktivierung der Diaspora in der Schweiz und in anderen Ländern: Erfolgreiche Unternehmer und Berufsleute mit Wurzeln in einem der Zielländer sollen als Mentoren oder Investoren gewonnen werden. Auf die Resultate dieser Bemühungen darf man gespannt sein, denn der programmatische Versuch einer Bündelung privater Ressourcen aus der Diaspora für die wirtschaftliche Förderung ausserhalb von Familienstrukturen ist ein Novum. Alain Bühlmann Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Ressort Privatsektorförderung, Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), Bern Stephan Leiser Programmleiter, Seco Entrepreneurship Program, Swisscontact, Zürich Mike Ducker Spezialist für Marktentwicklung, J. E. Austin Associates, Arlington (USA) SCHWERPUNKT Ein Plan für Südafrikas Armenviertel In den Armenvierteln der südafrikanischen Grossstädte wächst die Bevölkerung stark. Nur eine effiziente öffentliche Verwaltung kann die dringend benötigte Infrastruktur bereitstellen. Hier setzt die Entwicklungspolitik des Staatssekretariats für Wirtschaft an.    Franziska Spörri, Sibylle Hägler Abstract  Die Schweiz will in afrikanischen Städten die Institutionen stärken. Das Staatssekretariat für Wirtschaft unterstützt deshalb das von der südafrikanischen Regierung entwickelte City-Support-Programm, welches die Abläufe in den Stadtverwaltungen optimiert. Gerade für die stark wachsenden Armenviertel ist das entscheidend. Denn viele Haushalte in diesen «informellen Siedlungen» verfügen über keinen Strom- oder Wasseranschluss. Langfristig sollen die Anstrengungen zu weniger Armut führen. S  tädte sind in Südafrika die Motoren der wirtschaftlichen Entwicklung. Das damit zusammenhängende Bevölkerungswachstum macht eine weitsichtige Planung unabdingbar. Dazu sind jedoch starke Institutionen und qualitativ hochstehende öffentliche Dienstleistungen notwendig. In Grossstädten wie Johannesburg, Durban oder Kapstadt sind die öffentlichen Institu­ tionen und Dienstleistungen durch die starke räumliche Segregation geschwächt. Diese wurde durch die Apartheid geschaffen und hinterlässt bis heute Spuren. Die arme (meist schwarze) Bevölkerung lebt in einfachen Hütten in sogenannten informellen Siedlungen: Dies sind Armenviertel am Stadtrand, welche nur ungenügend mit Basisdienstleistungen versorgt werden und weit abgelegen von den wichtigsten Arbeitsplätzen sind. Die Herausforderung zeigt sich in Kapstadt exemplarisch, wo bereits jeder fünfte Stadtbewohner in informellen Siedlungen lebt. Eine der grössten Schwierigkeiten in diesen Quartieren KEYSTONE Die Apartheid hat die räumliche Trennung zwischen Arm und Reich verstärkt. Die Township Khayelitsha am Stadtrand von Kapstadt. Die Volkswirtschaft  3 / 2016  23 KEYSTONE ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT ist das rasche Bevölkerungswachstum. Trotz der Bemühungen, der Bevölkerung neue Sozialwohnungen zur Verfügung zu stellen, hinkt die Bautätigkeit der Nachfrage hinterher. Dadurch entsteht ein Teufelskreis: Die Lebensqualität nimmt mit steigender Bevölkerung ab, und die Erbringung der Grundversorgung wird erschwert. So haben 14 Prozent der Bevölkerung von Kapstadt keinen Zugang zu sanitären Anlagen, und jeder vierte Einwohner lebt ohne Stromanschluss. Hinzu kommt, dass die Stadt generell Mühe bekundet, komplexe Projekte umzusetzen. Ein Grund dafür sind unkoordinierte Verwaltungsabläufe: So sind oftmals mehrere Ämter gleichzeitig involviert, was zu mangelhafter Budgetkontrolle und unklaren Verantwortlichkeiten führen kann. Kanalisation und öffentlicher Verkehr als Grundlage Diese Herausforderungen werden von der südafrikanischen Regierung unter anderem durch das City-Support-Programm angegangen. Dieses 24  Die Volkswirtschaft 3 / 2016 Mädchen trägt einen Eimer mit Wasser in ihre Wohnung im Armenviertel Nyanga in Kapstadt. Viele Hütten verfügen über keinen Wasseranschluss. hat zum Ziel, dass die acht grössten südafrikanischen Metropolitanregionen nachhaltig wachsen und damit wettbewerbsfähiger und finan­ ziell effi­zienter verwaltet werden. Dank einer innovativen und nachhaltigen Planung der öffentlichen Finanzen und der städtischen Infrastruktur werden die Qualität und der Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen (z. B. im Wasser- und Abwassersektor) verbessert, wovon insbesondere die ärmsten Bevölkerungsschichten profitieren. Weitere Schwerpunkte sind Verbesserungen des öffentlichen Transports und der Rah- Strategie des Seco in Südafrika Seit 2009 ist Südafrika ein Partnerland des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco). Die Seco-Strategie für Südafrika 2013 – 2016 definiert folgende Bereiche für die wirtschaftliche Entwicklungszusammenarbeit: –– Standortförderung von südafrikanischen Städten und Regionen; –– klimafreundliches Wachstum; –– Südafrika als Wirtschaftsmotor der Subsahara-Region stärken. Dem Bund steht für die Umsetzung von Projekten und Programmen im Rahmen der Kooperationsstrategie für Südafrika (2013 – 2016) ein Budget von rund 60 Millionen Franken zur Verfügung. Für die Jahre 2017 bis 2020 ist eine neue Länderstrategie für Südafrika geplant, welche sich an der neuen Botschaft über die Internationale Zusammenarbeit orientiert und die Themenschwerpunkte der bisherigen Strategie weiter stärkt. SCHWERPUNKT menbedingungen für kleine und mittlere Unternehmen. Das Projekt setzt nicht nur in den einzelnen Städten an, sondern ist direkt mit der nationalen Ebene – dem Finanzministerium – verknüpft. Aus einzelnen Interventionen können so die Lehren für das ganze Land gezogen werden und in nationale Politikmassnahmen münden. Im Rahmen des Programms wurde die Expertise der Weltbank beigezogen. Für Kapstadt schlägt diese vor, die technischen Kenntnisse und das Wissen der städtischen Mitarbeiter zu stärken und bei den öffentlichen Dienstleistungen in informellen Siedlungen die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Verwaltungseinheiten der Stadt zu verbessern. Interdisziplinäre Teams in der Stadtverwaltung Seit Juli 2015 unterstützt das Seco im Rahmen der wirtschaftlichen Entwicklungszusammenarbeit (siehe Kasten 1) das City-Support-Programm. Dank diesem Projekt ist Kapstadt besser gerüstet, die Grundversorgung in armen Stadtgebieten zu verbessern. Eine Zusammenarbeit über die Verwaltungseinheiten hinweg hilft, die Planung und Umsetzung solcher Projekte über ein koordiniertes Vorgehen zu verbessern. Gemäss diesem Ansatz bringt die Weltbank die involvierten Ämter an einen Tisch und unterstützt die Bildung von interdisziplinären Teams, die über die Grenzen der Departemente hinweg kooperieren. Die städtischen Mitarbeiter werden dazu in Trainings geschult. Denn: Effiziente Planungsund Budgetprozesse gewährleisten die Grundversorgung in den informellen Siedlungen. Das City-Support-Programm stärkt somit die Institutionen und Dienstleistungen in den südafrikanischen Städten. Dies manifestiert sich unter anderem in gesunden öffentlichen Finanzen, mit welchen die nötigen staatlichen Ausgaben finanziert werden, sowie in einer funktionierenden Infrastruktur mit Basisdienstleistungen für Bevölkerung und Wirtschaft. Starke Institutionen führen letztlich zu einem inklusiven Wachstum und damit zu einer Reduktion der Armut. Das Engagement der Schweiz in den südafrikanischen Städten ist bereits auf die Seco-­Strategie 2017–2020 als Teil der neuen Bundesratsbotschaft über die Internationale Zusammenarbeit ausgerichtet.1 Diese sieht wirksame Institutionen und Dienstleistungen auch in Zukunft als wichtige Pfeiler für eine nachhaltige Entwicklung. Franziska Spörri Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Ressort Makroökonomische Unterstützung, Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), Bern 1 S iehe Artikel von Patrick Stadler (Seco) in dieser Ausgabe. Sibylle Hägler Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Ressort Infrastrukturfinanzierung, Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), Bern Die Volkswirtschaft  3 / 2016  25 ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT Wirksame Entwicklungshilfe baut auf Fakten In der Entwicklungszusammenarbeit kann die Wirksamkeit gesteigert werden. Dazu müssen die Entwicklungsinterventionen professionell analysiert werden. Ebenso wichtig ist es für jede Organisation, sich zu fokussieren und ihre Aktivitäten zu koordinieren.   Isabel Günther Abstract  Vor dem Hintergrund einer steigenden Anzahl an Entwicklungszielen bei gleichzeitig knappen Ressourcen bleibt eine kritische Auseinandersetzung mit der Wirksamkeit von Entwicklungshilfe relevant. Eine generelle Bewertung von Entwicklungszusammenarbeit als Instrument zur Überwindung von Armut ist weder zielführend noch methodisch möglich. Allerdings können spezifische Politikmassnahmen der Entwicklungszusammenarbeit auf ihre Wirksamkeit analysiert werden. Bestehendes Wissen sollte vermehrt genutzt werden und in globales Wissen zur Armutsreduktion investiert werden: Erfolgversprechende Projekte können gefördert, Verbesserungspotenziale identifiziert und Misserfolge vermieden werden. Eine konsequente Wirkungsorientierung erfordert spezialisierte Entwicklungsorganisationen, eine koordinierte Schweizer Politik und auch eine fehlertolerante Öffentlichkeit. D  1 Channing Arndt, Sam Jones und Finn Tarp (2015).  2 Vgl. Datenbank «Impact Evaluations» der Non-Profit-Organisation 3ie unter www.3ieimpact.org.  3 Angrist, Joshua und Jörn-Steffen Pischke (2014). ie UNO hat letztes Jahr mit der Agenda 2030 die Anzahl der internationalen Entwicklungsziele erhöht: von 8 Millenniumszielen auf 17 Nachhaltigkeitsziele (SDG) mit 169 Unterzielen. Fast gleichzeitig wurde in einigen Ländern  – darunter die Schweiz – das Budget für Entwicklungszusammenarbeit gekürzt. Wie passt das zusammen? Wie soll mit weniger Mitteln mehr erreicht werden? Klar ist: Begrenzte Mittel erfordern einen effektiven Einsatz von Geldern und eine wirksame Entwicklungszusammenarbeit. Ein Massstab für die Wirksamkeit ist weder die plangetreue Umsetzung von Projekten noch, ob jeder Rappen bei den Armen ankommt. Sondern es geht darum, wie stark jeder Rappen, der ankommt, die Lebensbedingungen armer Menschen langfristig verbessert (siehe Kasten). In den letzten 25 Jahren wurde die globale Armut halbiert. Welchen Beitrag die Entwicklungszusammenarbeit hierzu geleistet hat, ist mit makroökonomischen Studien nicht präzise zu analysieren.1 Allerdings zeigen viele wissenschaftliche Studien auf, dass spezifische Interventionen in unterschiedlichen Kontexten effektiv die Lebensbedingungen ärmerer Bevölkerungsgruppen verbessert haben.2 Trotz grosser Fortschritte in der Vergangenheit bleibt jedoch die weltweite Reduktion von Armut und Ungleichheit eine Herausforderung für die Zukunft. Mit wissenschaftlichen Methoden lernen Wie kann die Wirksamkeit erhöht werden? Von Erfolgen und Fehlern in der Entwicklungszusammenarbeit muss noch mehr gelernt werden. Es ist an der Zeit, endlich von der alten Debatte «Wirkt Entwicklungshilfe, ja oder nein?» wegzukommen und eine neue Debatte anzustossen: «Welche Form der Entwicklungszusammenarbeit in welchen Kontexten wirkt und welche nicht?» Die Identifizierung von wirksamen Entwicklungsin- Wirkungsstudien Wirkungsstudien in der Entwicklungszusammenarbeit quantifizieren die Veränderung der Lebensbedingungen der Bevölkerung (Individuen, Haushalte, Dörfer oder Firmen), die einem Projekt oder einer Politikmassnahme direkt zugeschrieben werden kann. Die Frage, welche hierzu 26  Die Volkswirtschaft 3 / 2016 beantwortet werden muss, ist: Was wäre gewesen, hätte keine Entwicklungsintervention stattgefunden? Die methodische Herausforderung besteht darin, dass dieselbe Person nicht gleichzeitig mit und ohne Intervention betrachtet werden kann. Mithilfe einer geeigneten Stichprobengrösse und verschiedener (meist statistischer) Methoden wird deshalb eine Vergleichsgruppe konstruiert, die der Bevölkerung, die Teil des zu analysierenden Projekts ist, so ähnlich wie möglich ist. APA, MENSCHEN FÜR MENSCHEN, KEYSTONE SCHWERPUNKT terventionen mithilfe von wissenschaftlich anerkannten Methoden3 sollte nicht nur im Interesse der Befürworter der Entwicklungshilfe sein, zu denen 9 von 10 Einwohnern in der Schweiz zählen,4 sondern auch im Sinne der Kritiker. Armutsbekämpfung ist komplex. Das sollte uns aber nicht davon abhalten, bessere Mittel und Wege zu suchen, um diese Herausforderung anzugehen. Dazu muss bestehendes Wissen genutzt und Wissenslücken müssen identifiziert und geschlossen werden. Entwicklungszusammenarbeit sollte so weit wie möglich auf Fakten und nicht auf Meinungen aufbauen. Das heisst nun nicht, dass jedes einzelne Projekt oder Programm der Entwicklungszusammenarbeit evaluiert werden muss. Es muss auch nicht jedes Unterfangen seinen eigenen Daten- Die Reduktion von Armut bleibt eine Herausforderung. Hilfswerkmitarbeiter verteilen in Äthiopien Nahrungsmittel. 4 GFS (2014). friedhof generieren. Daten werden gesammelt, aber oft fehlen die Zeit und die Kapazität, diese Daten auszuwerten und die daraus gewonnenen Erkenntnisse anzuwenden. Studien zur Wirksamkeit der Entwicklungshilfe sollten nicht nur der Rechenschaftspflicht einer Organisation dienen, sondern sollten vor allem zu einer kontinuierlichen Verbesserung von Entwicklungsprogrammen führen, ganz im Sinne des französischen Schriftstellers André Gide: «Croyez ceux qui cherchent la vérité, doutez de ceux qui la trouvent.» Die Generierung von entwicklungspolitisch relevantem Wissen sollte sich nicht auf die eigene Organisation beschränken: Lernen muss über Institutionen hinweg stattfinden. Die Zukunft der Entwicklungszusammenarbeit liegt Die Volkswirtschaft  3 / 2016  27 KEYSTONE ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT auch darin, mehr in globales Wissen zur Armutsreduktion zu investieren5 und dieses zu nutzen. Ehrlichkeit auch bezüglich der Herausforderungen Entwicklungszusammenarbeit soll in Zukunft nicht nur zur Armutsreduktion beitragen, sondern soll sich gemäss der Agenda 2030 zusätzlich noch anderen globalen Problemen (wie Klimawandel und internationaler Sicherheit) stellen. Es ist sicher richtig, dass zur Verbesserung von weltweiten Lebensbedingungen nicht nur ökonomische, sondern genauso soziale, politische und ökologische Entwicklung gehört und ein ganzheitlicher Ansatz gefragt ist. Aber können wir all diese Herausforderungen mit den Instrumenten der Entwicklungszusammenarbeit angehen, deren Finanzierung noch reduziert wird? Entwicklungshilfe ist nicht die Lösung für alle globalen Probleme. Die Arbeitsgemeinschaft Schweizer Hilfswerke Alliance Sud hat 2015 ein Buch mit dem Titel «Zur Unübersichtlichkeit der Welt»6 publiziert. Dieser Unübersichtlichkeit der Entwicklungszusammenarbeit würde ich gerne eine neue Ehr- 28  Die Volkswirtschaft 3 / 2016 Mithilfe von Analysen können die Entwicklungsprojekte verbessert werden. Eine Agrarexpertin berät einen Bauer in Ecuador. 5 Levine, Ruth und William Savedoff (2015).  6 Alliance Sud (2015). 7 3ieimpact.org. 8 Stichwort Poverty–­ Overview unter Weltbank.org.  9 Deza, Zahlen und Statistiken. lichkeit der Entwicklungszusammenarbeit an die Seite stellen: Durch unzählige Studien7 haben wir in den letzten Jahren viel darüber gelernt, welche Art von Interventionen funktionieren und welche nicht. Sowohl über Erfolge als auch über Misserfolge sollte offener kommuniziert und diskutiert werden, ohne dabei unsere humanitäre Pflicht gegenüber den eine Milliarde Armen der Welt8 jedes Mal infrage zu stellen. Nur so können wir lernen und Verbesserungspotenziale identifizieren. Ebenso gilt es, offener zu kommunizieren, was mit den begrenzten Mitteln von insgesamt rund 3,5 Milliarden Franken öffentlicher und privater Entwicklungsgeldern,9 die in der Schweiz zur Verfügung stehen, weltweit überhaupt erreicht werden kann. Ehrlichkeit bezüglich der offenen Fragen von Entwicklungszusammenarbeit ist gefragt. Denn: Für viele scheinbar einfache Entwicklungsprobleme, wie zum Beispiel die kostengünstige und nachhaltige Bereitstellung von sauberem Trinkwasser in ruralen Gebieten, gibt es (noch) keine guten Lösungen. Auch müssen wir akzeptieren, dass aus methodischer Sicht nicht alle Entwicklungsprojekte und -­ programme bezüglich ihrer Wirksamkeit evaluiert werden können. SCHWERPUNKT Kernkompetenzen stärken Kontinuierliches Lernen für einen bestmöglichen Einsatz von Entwicklungsgeldern erfordert Fokussierung. Eine Entwicklungsorganisation kann nicht auf allen Gebieten der Entwicklungszusammenarbeit Spezialistin sein. Bei 169 Unterzielen der Agenda 2030 besteht des Weiteren die Gefahr, die Reduzierung der weltweiten Armut und Ungleichheit aus den Augen zu verlieren: Die Beendigung des weltweiten Hungers (Ziel 2.1) ist dort genauso aufgelistet wie die Förderung von nachhaltigem Tourismus (Ziel 8.9). Nach der breiten Auslegung der Agenda 2030, die richtigerweise die Komplexität von Entwicklung und Entwicklungszusammenarbeit widerspiegelt, sollten wir uns jetzt wieder fokussieren. Die Agenda 2030 ist nicht als Zielekatalog für Organisationen zu verstehen, sondern nur als normativer Rahmen für eine lebenswerte Zukunft, zu der jede Organisation ihren ganz spezifischen Beitrag leisten kann. Fokus erlaubt es einer Organisation, sich zu professionalisieren, um ihre Mittel effektiv einzusetzen. Er ermöglicht es ihr, mehr Verantwortung für durchgeführte Programme zu tragen. Fokus ist auch nötig, um zu vermeiden, dass Gelder, die für Entwicklungszusammenarbeit vorgesehen wurden, für sachfremde Zwecke, wie zum Beispiel den Klimaschutz, verwendet werden. Dafür sind andere Budgets erstellt worden. Denn: Entwicklungszusammenarbeit ist ein wichtiger Baustein zur Armutsreduktion, aber nicht der einzige. Exemplarisch seien hier unlautere Finanzflüsse aus den Entwicklungsländern genannt, die jährlich ungefähr das Zehnfache der internationalen Entwicklungszusammen­ arbeit ausmachen.10 Eine vollkommene Politikkohärenz wird man nie erreichen. Zu gegensätzlich sind die Interessen und Ziele von verschiedenen Akteuren. Jedoch kann eine verbesserte Politikkoordination und Entwicklungshilfe ist -kooperation mit Abwägen von nicht die Lösung für alle verschiedenen Interessen zu einer globalen Probleme. wirksameren Schweizer Entwicklungszusammenarbeit führen. Eine verstärkte Koordination der Politikbereiche führt nicht nur zu einer erhöhten Kohärenz der Schweizer Entwicklungspolitik, sondern kann zusätzlich zu einer sinnvollen Arbeitsteilung führen, um mit verschiedenen Instrumenten und Mitteln verschiedene globale Ziele wirksam anzugehen. Entwicklungsorganisationen können sich dafür engagieren, dass auch andere Politikbereiche ökonomische, soziale und politische Entwicklungsziele stärker in ihren Agenden 10 Kar, Dev und Joseph Spanjers (2014).  berücksichtigen. Koordination der gesamten Politik Will man die Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit erhöhen, müssen die verschiedenen Politikbereiche – darunter etwa die Finanzund Handelspolitik – besser koordiniert werden. Isabel Günther Professorin für Entwicklungsökonomie, Leitung NADEL – Center for Development and Cooperation, ETH Zürich Literatur Alliance Sud (2015). Zur Unübersichtlichkeit der Welt. Alliance Sud. Schweiz: Lausanne. Angrist, Joshua und Jörn-Steffen Pischke (2014). Mastering Metrics: The Path from Cause to Effect. Princeton University Press. United Kingdom: Woodstock. Channing Arndt, Sam Jones und Finn Tarp (2015). Assessing Foreign Aid’s Long-Run Contribution to Growth and Development. World Development, 69: 6–18. GFS (2014). Monitorstudie Entwicklungszusammenarbeit 2014. Studie im Auftrag der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA. Schweiz: Bern. Kar, Dev und Joseph Spanjers (2014). Illicit Financial Flows from Developing Countries: 2003 – 2012. Global Financial Integrity. Levine, Ruth und William Savedoff (2015). The Future of Aid: Building Knowledge Collectively. Center for Global Development Policy Paper, 050. Weblinks: 3ieimpact.org/en/evidence/impact-evaluations (20.01.2016) Eda.admin.ch/deza/de/home/aktivitaeten_­ projekte/zahlen_und_statistiken.html (20.01.2016) Worldbank.org/en/topic/poverty/overview (20.01.2016) Die Volkswirtschaft  3 / 2016  29 ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT Koordiniertes Vorgehen bei Interessengegensätzen Die Interessen von Wirtschaft und Entwicklungszusammenarbeit sind nicht immer deckungsgleich – wie sich etwa im Rohstoffhandel zeigt. Deshalb will der Bundesrat der Politik­kohärenz konsequent Beachtung schenken.  Werner Thut Abstract  Entwicklungszusammenarbeit ist seit über 50 Jahren Teil der Schweizer Aussenpolitik. Trotz Umwälzungen im internationalen Umfeld sind die strategischen Ziele und die Handlungsmotive im Wesentlichen gleich geblieben. Hierzu gehört, dass die Entwicklungszusammenarbeit nicht durch Massnahmen anderer Politikbereiche unterlaufen werden soll. Eine breite öffentliche Debatte über die sogenannte Politikkohärenz für Entwicklung hat seit den Neunzigerjahren nicht mehr stattgefunden. In der Botschaft zur internationalen Zusammenarbeit 2017 – 2020 greift der Bundesrat die Thematik als strategische Priorität neu auf. Die institutionellen Voraussetzungen für entsprechende Fortschritte sind günstig. Letztlich ist eine kohärente Politik gegenüber Entwicklungsländern jedoch abhängig von der Zusammenarbeit von Bundesrat und Parlament und allenfalls sogar vom Souverän. E  1 Der Autor dankt Prof. Gilles Carbonnier (Graduate Institute, Genf), Dr. Elisabeth Bürgi Bonanomi (Universität Bern) und Roland Widmer (Seco) für Kommentare und Anregungen. 2 Deza (1994). Bericht des Bundesrates über die Nord-Süd-Beziehungen der Schweiz in den 90er Jahren (Leitbild Nord-Süd) vom 7. März 1994, Bern. 3 Kontrovers diskutiert wurden beispielsweise die Verankerung von Sorgfaltspflichten im Schweizer Rechtsrahmen für multinationale Unternehmen der Rohstoffbranche zur Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung. Siehe dazu die gegensätzlichen Würdigungen der OECD im Länderexamen 2013 zur Schweizer Entwicklungszusammenarbeit, S. 29 einerseits und der regierungskritischen NGO Erklärung von Bern in der Analyse «Endlich mehr Transparenz?!» vom 28. März 2013 andererseits. 30  ntwicklungsziele werden einfacher erreicht, wenn verschiedene Politikbereiche unter Berücksichtigung gewisser Grundsätze aufeinander abgestimmt sind.1 Damit ist die Politik gefordert: Sie muss dafür sorgen, dass unterschiedliche sektorielle Politiken die Ziele und Massnahmen der Entwicklungszusammenarbeit nicht unterlaufen. Dieses gemeinsame Vorgehen der Akteure ist als «Politikkohärenz für Entwicklung» (Policy Co­ herence for Development) bekannt. In der Schweiz geht die Debatte zu den Auswirkungen der Politik auf Entwicklungsländer bis in die Siebzigerjahre zurück. Ein Markstein in dieser Diskussion ist das bundesrätliche Leitbild Nord-Süd von 1994. Diese Gesamtschau der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen der Schweiz zu den Entwicklungsländern war geprägt durch das Ende der bipolaren Weltordnung und die UNO-Konferenz für Umwelt und Entwicklung von 1992. Darin postulierte der Bundesrat eine «kohärente Südpolitik», in welcher er mögliche Widersprüche zwischen verschiedenen Zielen nationaler Politik zur Diskussion und Lösung bringen wollte.2 Nach der Jahrtausendwende intensivierte sich die Diskussion auch in anderen Ländern und in der Organi- Die Volkswirtschaft 3 / 2016 sation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Als Schlagwort ist «Politikkohärenz für Entwicklung» in politischen Diskussionen jeweils schnell zur Hand: Ein prominentes Beispiel ist die Debatte um den Rohstoffabbau in Entwicklungsländern.3 Fundierte Konzeptdiskussionen sind hingegen – auch im Ausland – bisher vor allem ein Thema für Insider geblieben. Ist Politikkohärenz für Entwicklung deshalb ein Papier­ tiger? Im Gegenteil. Denn das Konzept macht sich ein Kernelement von Politik zum Thema: den Umgang mit Interessengegensätzen. Dementsprechend wird das Konzept hinsichtlich seiner Ansätze, seiner Legitimation und des bisher Erreichten sowie seiner Bedeutung für die Gestaltung künftiger Politik kon­trovers diskutiert. Wie das Regierungssystem mit Inte­ ressengegensätzen umgeht, wird allerdings meist im Rahmen von Entscheiden zu konkreten Sachthemen geklärt. Beispiele hierfür sind Waffenexporte in Konfliktgebiete, Gewinnverlagerungen beim Rohstoffabbau oder Patentschutz und Preisbildung bei Medikamenten für Entwicklungsländer.4 Diese Themen – teilweise seit über 30 Jahren Teil der Politikkohärenz-Agenda – haben mit zunehmender Intensivierung der internationalen Wirtschafts- und Finanzbeziehungen zusätzlich an Aktualität gewonnen. Hinzu kamen globale Risiken, hervorgerufen durch Klima, Konflikte und Migration. Mit der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung hat die UNO einen uni­ versellen, für alle gültigen Orientierungsrahmen geschaffen, um globale Probleme gemeinsam anzugehen.5 Indem die internationale Gemeinschaft insbesondere die Wechselwirkungen zwischen sozialen, wirtschaftlichen und öko- SCHWERPUNKT logischen Zielen anerkennt, hat auch die Kohärenzdiskussion weiter an Bedeutung gewonnen: Ein koordiniertes Handeln von Regierungen wird heute als mitentscheidend für einen effizienten Einsatz knapper (Finanz-)Ressourcen und für die Erreichung der gesetzten Ziele angesehen. Umgang mit Zielkonflikten ist Teil der Regierungsroutine KEYSTONE Zielkonflikte im Regierungshandeln sind keine Besonderheit des schweizerischen Regierungssystems. In den meisten Verfassungen lassen sich Spannungsfelder zwischen verschiedenen Verfassungszielen ausmachen.6 Der Umgang mit diesen Herausforderungen ist selbstverständlicher Teil des Regierungs- und Verwaltungsalltags. So stellen seit Jahrzehnten etablierte verwaltungsinterne Abläufe sicher, dass der Bundesrat in seiner Beschlussfassung routinemässig und bewusst Güterabwägungen vornehmen kann.7 Dabei können im Bundesrat mögliche Zielkonflikte frühzeitig identifiziert und gemindert, Synergiepotenziale zwischen Politikfeldern erkannt und ausgeschöpft sowie negative Auswirkungen schweizerischer Politiken thematisiert werden. Damit folgt der Bundesrat dem, was die OECD als «Gute Praxis» postuliert (siehe Abbildung).8 Es ist Aufgabe der für die internationale Zusammen- arbeit zuständigen Bundesstellen, dem Bundesrat die nötigen Informationen zu liefern, damit er in Kenntnis der Politikdilemmata informierte Entscheidungen treffen kann. Allein die ­Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) kommentiert jährlich mindestens 70 Bundesratsgeschäfte. Am anderen Ende der Wirkungskette der Entwicklungspolitik – bei der konkreten Umsetzung von Zusammenarbeitsprogrammen in Partnerländern – sind geografische oder thematische Gesamtstrategien darauf ausgerichtet, dass die konkreten Aktivitäten verschiedener Bundes­ stellen aufeinander abgestimmt werden. Zusammenarbeit in der Verwaltung verstärken In den letzten 15 Jahren fand Politikkohärenz als Politikansatz in verschiedenen europäischen Ländern Eingang in Planung, Umsetzung und Rechenschaftsablage. Vereinzelt erreichte Politikkohärenz gar Verfassungsrang – etwa in der EU. In der Schweiz kam die Diskussion trotz guter Vor­ aussetzungen Ende der Neunzigerjahre hingegen zum Stillstand. Dank der Agenda 2030 findet der Ansatz nun in die Schweizer Politik zurück. Welche Akzente der Bundesrat in seiner Kohärenzpolitik gegenüber Entwicklungs-, Transitions- und Schwellenländern setzt, hat er in seiner Botschaft über die Internationale 4 Für eine Gesamtschau siehe beispielsweise Policy Coherence for Development (PCD) 2015 EU Report. Mit der Perspektive auf die Politikformulierung wird allerdings die Frage ausgeblendet, ob die beschlossenen Politiken in Partnerländern tatsächlich die intendierten Wirkungen zeigen. 5 Für die Nachhaltigen Entwicklungsziele siehe UNO-Resolution A/RES/70/1 vom 25. Sept. 2015; siehe auch Outcome Document der Addis Ababa Action Agenda vom 17. Juli 2015. 6 Artikel 54 Absatz 2 der Bundesverfassung zu den Auswärtigen Angelegenheiten zeigt dies exemplarisch: Während der Bund verpflichtet ist, sich einerseits für die Wahrung der Unabhängigkeit der Schweiz und ihre Wohlfahrt einzusetzen, soll er andererseits Beiträge zur Lösung globaler Probleme leisten, was in kürzeren Zeiträumen mit deutlichen Einschränkungen der innerstaatlichen Handlungsfreiheit in gewissen Politikbereichen verbunden sein kann. Je langfristiger die Betrachtungsweise, desto mehr nähern sich indessen global bedingte Handlungserfordernisse und unmittelbare Wohlfahrtinteressen der Schweiz an. 7 Die Bundesverwaltung kennt ein zweistufiges Konsultationsverfahren zur Vorbereitung von Bundesratsentscheiden: Ämterkonsultationsverfahren (technische Ebene) und Mitberichtsverfahren (politische Konsultation zwischen Mitgliedern des Bundesrats). Siehe auch: European Centre for Development Policy Management (2013). Putting Policy Coherence for Development into Perspective. Switzerland’s Promotion of PCD in Commodities, Migration and Tax Policy. Mutter mit Kind holt in der Nähe einer Kupfermine in Sambia Wasser. Der Rohstoffabbau führt mancherorts zu Inte­ ressenkonflikten. Die Volkswirtschaft  3 / 2016  31 ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT Die wichtigsten OECD-Ziele der Politikkohärenz Förderung von Synergien zwischen Politikbereichen mit wirtschaftlicher, sozialer und umweltbezogener Ausrichtung Nutzung und Bewältigung von grenzüberschreitenden Wirkungen innerstaatlicher Politiken Zusammenarbeit 2017–2020 umrissen.9 Besondere Aufmerksamkeit lässt er künftig Themenbereichen zukommen, wo die Schweiz und der Wirtschaftsstandort Schweiz eine besonders bedeutsame Rolle spielen und eine besondere Verantwortung haben. Dazu zählen Finanzdienstleistungen, Landwirtschaft und Ernährung, Chemie und pharmazeutische Produkte sowie der Rohstoffhandel. Schwerpunkte bei ihren Bemühungen für mehr Politikkohärenz werden die zuständigen Bundesämter – gemeinsam mit weiteren Akteuren – deshalb insbesondere in den Politikfeldern Internationale Finanzflüsse und Steuerfragen, Umwelt, Handel, Investitionen und Unternehmensverantwortung, Migration sowie Gesundheitsfragen setzen. Der Bund sucht dabei, wo es möglich und zielführend ist, den Austausch und die Kooperation mit anderen Geberländern, internationalen Organisationen sowie regierungsunabhängigen Akteuren aus Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft. Bundesrat als zentraler Akteur Die reale Bedeutung und der damit verbundene Handlungsbedarf für eine konsequente Umsetzung der Kohärenzperspektive haben zugenommen. Mit der Botschaft zur internationalen Zusammenarbeit 2017–2020 signalisiert der Bundesrat, dass er bereit ist, diesem Ansatz bei der Umsetzung der Agenda 2030 hohe Priorität einzuräumen. 32  Die Volkswirtschaft 3 / 2016 Nachhaltige Entwicklung OECD 2015 / DIE VOLKSWIRTSCHAFT Identifikation von Zielkonflikten und Ausgleich zwischen Zielen innerstaatlicher Politik und international vereinbarten Zielen 8 OECD (2015). Better Policies for Development 2015, S. 41. 9 Die Position des Bundesrats stand bei Redaktionsschluss noch nicht fest. Die Abstimmung war für den 17. Februar geplant. 10 Monitoringsysteme regierungsunabhängiger Organisationen wie etwa der Commitment to Development Index des Center for Global Development oder der Sustainable Governance Indicator der Bertelsmann-Stiftung kommen zu unterschiedlichen Resultaten. Teilweise weisen sie zudem beträchtliche methodische Schwächen auf. 11 In der Peer Review 2013 hat der OECD-Entwicklungsausschuss die Schweiz eingeladen, ihre Politiken mit Auswirkungen auf Entwicklungsländer systematisch zu monitorieren und analysieren. Vgl. in diesem Zusammenhang European Centre for Development Policy Management (2015). Monitoring and Reporting on Policy Coherence for Sustainable Development (PCD): the Example of Switzerland. Case Studies on Food Security, Illicit Financial Flows and Migration & Development. Das Schweizer Regierungs- und Verwaltungssystem zeichnet sich durch institutionelle Eigenheiten aus, welche Politikkohärenz tendenziell positiv beeinflussen. Namentlich die weitreichenden Beteiligungsmöglichkeiten der Fachämter für Internationale Zusammenarbeit an der Vorbereitung von Regierungsentscheiden liefern dafür eine wichtige Basis. Gleiches gilt für den traditionell gepflegten Einbezug nicht staatlicher Akteure in Politikformulierung und Umsetzung bei der internationalen Zusammenarbeit. Denn: Offene Diskussionsräume sind unabdingbar für informierte und tragfähige Entscheide der Behörden. Günstige institutionelle Voraussetzungen und eine langjährige Kohärenzdebatte haben jedoch nicht zwingend kohärentere Politiklösungen zur Folge. So ist eine informierte Diskussion mangels zuverlässiger Daten und Instrumente faktisch kaum möglich.10 Der Bundesrat will diesen Fragen deshalb künftig mehr Raum geben und dazu regelmässig Bericht erstatten. Damit entspricht er einer Forderung der OECD. Diesbezügliche Grundlagen gilt es aber erst noch zu schaffen.11 Günstige institutionelle Voraussetzungen, solide methodische Ansätze und eine gute Datenlage sind zwar eine wichtige Grundlage für mehr Poli­ tik­kohärenz. Dies lassen bisherige Erfahrungen vermuten. Entscheidend sind letztlich aber die Akteure – so namentlich die Zusammensetzung des Bundesrats. Dazu kommt, dass der Bundesrat nur einer unter mehreren gewichtigen Akteuren ist, neben Parlament und letztlich Souverän. In diesem Sinne bleibt Politikkohärenz für Entwicklung auch in Zukunft eine Herausforderung. Werner Thut Dr. phil., Senior Policy Advisor, Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza), Bern 20 1996 – 2016 Jahre Europa Forum Luzern Frühjahr 2. Mai 2016 KKL Luzern HERAUSFORDERUNG U R O www.europaforum.ch unter andern mit: ÖFFENTLICHE VERANSTALTUNG Thomas J. Jordan Präsident des Direktoriums der SNB Sabine Lautenschläger Mitglied des EZBDirektoriums SYMPOSIUM Johann N. Schneider-Ammann Bundespräsident 2016, Vorsteher WBF Josef Ackermann ehem. Vorstandsvorsitzender Deutsche Bank Jan Mischke Senior Fellow McKinsey Global Institute (MGI) Franziska A. Tschudi Sauber CEO WICOR ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT Nachhaltige Entwicklung kennt keine Grenzen Zum Erreichen einer nachhaltigen Entwicklung bedingen sich Innen- und Aussenpolitik gegenseitig: Phänomene wie der Klimawandel oder der Ressourcenverbrauch machen vor der Grenze nicht halt. Deshalb richtet der Bundesrat seine «Strategie Nachhaltige Entwicklung 2016–2019» auf die Agenda 2030 der UNO aus.  Till Berger, Daniel Dubas Abstract  Die Schweiz unterstützt die Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDG) der Agenda 2030 der UNO. Die Strategie Nachhaltige Entwicklung 2016 – 2019 des Bundesrates hat bereits wichtige Punkte daraus aufgenommen. Künftig wird eine umfassende Ausrichtung auf die Agenda 2030 angestrebt. Der Bund will dazu noch stärker mit Kantonen, Gemeinden sowie Wirtschaft, Gesellschaft und Wissenschaft zusammenarbeiten und auch die nationale und internationale Nachhaltigkeitspolitik besser verbinden. Die notwendigen Umsetzungsstrukturen werden in den nächsten beiden Jahren aufgebaut. M  1 Bundesrat, Strategie Nachhaltige Entwicklung 2016 – 2019, 27. Januar 2016. 34  it der Verabschiedung der Agenda 2030 haben sich die UNO-Mitgliedsstaaten letzten Herbst dazu bereit erklärt, die globalen Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDG) bis 2030 gemeinsam zu erreichen. Die Agenda ist sowohl ein Referenzrahmen für die nationalen Nachhaltigkeitsstrategien als auch für die Umsetzung auf internationaler Ebene. Sie ist rechtlich nicht verbindlich. Für die Schweiz, wo die nachhaltige Entwicklung in der Verfassung verankert ist, stellt sie dennoch einen wichtigen Orientierungsrahmen dar. Der Bundesrat setzt sich international und national für die Umsetzung der Agenda ein. Bei der innenpolitischen Umsetzung kommt der erneuerten Strategie Nachhaltige Entwicklung 2016 – 20191 des Bundesrates eine wichtige Rolle zu. Neu verfügt die seit 1997 bestehende Strategie auch über Ziele, die der Bundesrat bis 2030 erreichen will. Diese orientieren sich bereits jetzt in zentralen Punkten an den SDG und sollen künftig noch stärker mit diesen abgestimmt werden. Längerfristig ist eine möglichst umfassende Ausrichtung der Strategie Nachhaltige Entwicklung auf die Agenda 2030 anzustreben, um damit den Schweizer Beitrag zur Erreichung der SDG bis 2030 sicherzustellen. Dabei Die Volkswirtschaft 3 / 2016 ist es besonders wichtig, dass Bund, Kantone und Gemeinden eng mit Akteuren der Zivilgesellschaft, der Privatwirtschaft und der Wissenschaft zusammenarbeiten. Auch wird die Schweiz gegenüber der UNO regelmässig über die Fortschritte bei der Umsetzung der Agenda 2030 Bericht erstatten. Innen- und Aussenpolitik koordinieren Für eine kohärente und effektive Umsetzung der Agenda 2030 ist eine verstärkte Abstimmung zwischen Innen- und Aussenpolitik wichtig. Dies ist etwa bei Konsumgütern der Fall, bei deren Produktion mehr als zwei Drittel der Umweltbelastung im Ausland anfallen. Um die Energieversorgung umwelt- und klimaverträglich zu machen, müssen die Nachbarländer intelligent vernetzt werden. Weitere Beispiele sind die Gewährleistung des wirtschaftlichen Wohlstands und der Sicherheit. Aus diesem Grund legt der Bundesrat in der Strategie Nachhaltige Entwicklung neben den innenpolitischen Schwerpunkten neu auch einen verstärkten Fokus auf das internationale Engagement der Schweiz. Die entsprechenden innen- und aussenpolitischen Instrumente des Bundes sind dahin gehend konsequent aufeinander abzustimmen. Bei der internationalen Zusammenarbeit unterstützt die Schweiz ausserdem ihre Partnerländer bei der Erarbeitung und der Umsetzung kohärenter Politiken und beteiligt sich in internationalen Gremien und Prozessen für eine gut abgestimmte und möglichst widerspruchsfreie Nachhaltigkeitspolitik. KEYSTONE SCHWERPUNKT Analyse und Umsetzung Während der Übergangsphase sind in den nächsten beiden Jahren weitere Grundlagen zu schaffen; die institutionellen Vorkehrungen sind genauer zu klären, und erste Umsetzungsschritte sind einzuleiten. Das Ziel ist es, einen effizienten bundesinternen Prozess zur Umsetzung der Agenda 2030 zu schaffen, der möglichst auf bestehenden Strukturen aufbaut. Dadurch werden Synergien genutzt und Doppelspurigkeiten vermieden. Folgende Arbeiten stehen an: –– Es wird analysiert, wo die Schweiz in Bezug auf die Umsetzung der SDG steht. Anschliessend wird der künftige Handlungsbedarf ermittelt, welcher notwendig ist, um die Nachhaltigkeitsziele bis 2030 zu erreichen. –– Der Umsetzungsprozess und die Modalitäten für die Überführung der SDG in die Zustän- digkeit der verantwortlichen Bundesstellen werden festgelegt. –– Das Indikatorensystem des Bundes für nachhaltige Entwicklung (Monet) wird erweitert. Dies gewährleistet ein umfassendes Monitoring der nationalen und internationalen Berichterstattung. –– Es wird festgelegt, welche bundesexternen Stakeholder (einschliesslich der Kantone und Gemeinden) zur Partizipation eingeladen werden. Die Beiträge der verschiedenen Stakeholder zur Agenda 2030 werden ausgewiesen. Die Nachhaltigkeitsstrategie des Bundes für die Schweiz richtet sich an den UNO-Zielen aus. Vogelbeobachter am Pfäffikersee. Die Umsetzung der Agenda 2030 erfolgt dabei begleitend zu den strukturellen Vorbereitungen. Bis zum Abschluss der Transitionsphase werden die entsprechenden Arbeiten in den bestehenden Strukturen durchgeführt. Anfang 2018 soll der Bundesrat über das Vorgehen zur Umsetzung der Die Volkswirtschaft  3 / 2016  35 KEYSTONE ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT Agenda 2030 entscheiden und Mitte 2018 einen ersten Länderbericht an die Vereinten Nationen senden. Austauschplattform «Dialog 2030 für nachhaltige Entwicklung» Nachhaltige Entwicklung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Dies erfordert neben einer koordinierten Zusammenarbeit der drei Staatsebenen auch eine konstruktive Zusammenarbeit mit der Privatwirtschaft, Nicht­ regierungsorganisationen, Verbänden und der Wissenschaft. Nur wenn alle gesellschaftlichen Akteure ihren Teil beitragen, kann die nachhaltige Entwicklung erfolgreich umgesetzt werden. Eine breite Abstützung ist hilfreich: Die bestehenden partizipativen Prozesse zur nationalen und internationalen Nachhaltigkeitspolitik werden daher künftig im gemeinsamen «Dialog 2030 für nachhaltige Entwicklung» zusammengeführt. Dadurch sollen die Expertise und die Interessen aller Akteure möglichst frühzeitig integriert und eine breite und transversale Diskussion zur nachhaltigen Entwicklung ermöglicht werden. 36  Die Volkswirtschaft 3 / 2016 Der Dialog 2030 startete im November 2015 mit einer ersten Veranstaltung. Er beinhaltet Konsultationen zur Nachhaltigkeitspolitik des Bundes, den Austausch zu Partnerschaften für die Umsetzung der Agenda 2030 sowie Aktivitäten im Kommunikationsbereich. Im Rahmen der Transitionsphase werden der Handlungsbedarf der Schweiz, Umsetzungsfragen sowie die Rollen und Beiträge der verschiedenen Akteure im Vordergrund stehen. Die Agenda 2030 und ihre Umsetzung auf internationaler Ebene sind für die nachhaltige Entwicklung der Schweiz ein wichtiger Impulsgeber. Es gilt, diesen Schwung nun aufzunehmen, zu verstärken und gemeinsam umzusetzen. Till Berger Koordinator Strategie Nachhaltige Entwicklung, Bundesamt für Raumentwicklung (ARE), Ittigen Daniel Dubas Leiter Sektion Nachhaltige Entwicklung, Bundesamt für Raumentwicklung (ARE), Ittigen Nicht nachhaltig: Weisse Planen schützen den Rhone­ gletscher im Wallis vor der Sonne. SCHWERPUNKT «Wir haben eine hohe Erfolgsquote» Die Entwicklungszusammenarbeit des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) will die Rahmenbedingungen in den Partnerländern verbessern. Dies sagt Raymund Furrer, Leiter des Leistungsbereichs Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, gegenüber der «Volkswirtschaft».   Herr Furrer, braucht es die Entwicklungszusammenarbeit überhaupt? Absolut. Selbst die grössten Kritiker der Entwicklungszusammenarbeit bestreiten nicht, dass viele Projekte Armut und Leid effektiv lindern und die Rahmenbedingungen verbessern. Es gibt Menschen, die haben dank unseren Projekten wieder eine Perspektive. Ich habe das kürzlich in Peru und in Serbien gesehen. Wir müssen den Hebel dort ansetzen, wo wir mit innovativen Projekten und kalkuliertem Risiko etwas in Gang bringen und die Nachhaltigkeit von Verbesserungen sichern können. Ich bin erfreut, dass wir insgesamt eine hohe Erfolgsquote haben. Sie leiten seit vergangenem Oktober den Leistungsbereich Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung im Seco. Was macht Ihre Abteilung? Wir unterstützen unsere Partnerländer dabei, ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum zu erzielen. Schauen Sie, um Armut lindern zu können, braucht es in erster Linie gute Jobs. Hier ist vor allem der Privatsektor gefordert. Damit Unternehmen aber Arbeitsplätze schaffen können, sind sie beispielsweise auf eine gute Versorgung mit Wasser und Energie angewiesen. Deshalb versuchen wir die staatlichen Rahmenbedingungen zu stärken – etwa in Indonesien, Ghana oder Kolumbien. Weiter unterstützen wir Projekte, welche klimaschädigende Emissionen reduzieren oder den nachhaltigen Handel mit Naturprodukten fördern. Dann gibt es natürlich noch globale Risiken wie Wirtschafts- und Finanzkrisen: Das Seco arbeitet hier mit Entwicklungsbanken wie der Weltbank zusammen. Gibt es konkrete Erfolge? In den letzten Jahren hat das Seco dazu beigetragen, dass Tausende von Stellen geschaffen wurden, etwa über den Swiss Invest­ment Fund for Emerging Markets (Sifem), der in Unternehmen in Entwicklungsländern investiert. Unter anderem dank dieser Unterstützung konnte beispielsweise eine Muschel­ auf­ zucht in Südafrika ihre Produktion massiv ausbauen und die Ar- Raymund Furrer beitsplätze auf 500 verdoppeln. Der 55-jährige Raymund Furrer leitet seit Die neuen Stellen kommen nicht Oktober 2015 den Leistungsbereich Wirtschaftzuletzt weniger gut ausgebildeten liche Zusammenarbeit und Entwicklung des Menschen in einer Region mit ho- Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco). Zuvor war er Chef des Business Hubs der Exportförher Arbeitslosigkeit zugute. derorganisation Switzerland Global Enterprise (S-GE) in Dubai. In den Jahren 2008 bis 2012 Wo sehen Sie grosse Herausfor- arbeitete er als Leiter des Ressorts Multilaterale Finanzierungsinstitutionen im Seco; zuvor war derungen bis 2030? er bei der Weltbank tätig gewesen. In vielen Ländern wächst die Ungleichheit zwischen den Bevölke- Seco zieht Bilanz rungsschichten. Deshalb müssen Resultate der wirtschaftlichen Entwicklungswir uns dafür einsetzen, dass zusammenarbeit der Schweiz zwischen 2012 Wirtschaftswachstum inklusiv und 2015 finden sich in der Broschüre «SECO zieht Bilanz» unter ausfällt, also allen Menschen eine www.seco-cooperation.admin.ch. Perspektive bietet. Gleichzeitig wird die Umweltdimension immer wichtiger – die Herausforderungen im Klimabereich haben zugenommen. Im Weiteren werden wir mit der zunehmenden Verstädterung in Entwicklungsländern konfrontiert. Die Volkswirtschaft  3 / 2016  37 CHRISTOPH BIGLER / DIE VOLKSWIRTSCHAFT Die UNO-Agenda 2030 begrüssen beide: Jan Atteslander von Economiesuisse (l.) und Hugo Fasel von Caritas Schweiz vor dem Restaurant Grosse Schanze in Bern. SCHWERPUNKT Wie können wir die Entwicklungshilfe verbessern? Die Entwicklungspolitik der Schweiz soll an ihren Resultaten gemessen werden. Dies fordert Jan Atteslander, Leiter Aussenwirtschaftspolitik von Economiesuisse. Caritas-Schweiz-­Direktor Hugo Fasel sagt, in seiner Organisation sei dies schon längst der Fall. Die «Volkswirtschaft» wollte von den beiden wissen, wie die Schweiz die UNO-Agenda 2030 umsetzen soll.  Susanne Blank Spenden Sie privat, Herr Fasel? Hugo Fasel: Auf jeden Fall spende ich. Ich will ja ein Beispiel sein für die Caritas. Und wenn es nicht um die Beispielfunktion ginge? Fasel Ich habe auch früher immer gespendet. Das ist ein Teil meiner Lebenshaltung. Jan Atteslander: Ich spende auch. Herr Atteslander, als Leiter Aussenwirtschaftspolitik bei Economiesuisse waren Sie involviert bei der Erarbeitung der Agenda 2030. Was halten Sie davon? Atteslander: Wir waren erst am Schluss dabei, als die grundsätzlichen Entscheide schon gefallen waren. Trotzdem finden wir das Resultat gut: Ein umfassender Zielkatalog ist der richtige Weg und wird unterstützt von der Wirtschaft. Kritiker sagen, diese Agenda mit ihren vielen Zielen und Unterzielen sei naiv und unrealistisch. Fasel: Dieser Katalog hochgesteckter Ziele ent- spricht einer Art Verfassungsgrundlage, die man nun konkretisieren muss. Die Welt ist global vernetzt, insofern war der Schritt auf politischer Ebene schon längst überfällig. Atteslander: Die Agenda ist zwar unverbindlich, aber sie wirkt. Das hat sich beim Klimaabkommen von Paris gezeigt. Wichtig ist, dass sie eine Dynamik auslöst: Es entstehen nun Initiativen auf nationaler Ebene im staatlichen, aber auch im privaten Bereich. Fasel: Wichtig im internationalen Bereich sind Monitoringberichte, in welchen die Entwicklung in den einzelnen Ländern beobachtet wird. Das sieht man auch in der Schweiz: Sobald sie international aufgrund solcher Berichte unter Druck gerät, bewegt sie sich. Hat sich die Schweiz zwingend an diesen Zielen auszurichten? Atteslander: In den Kernbereichen der Nachhaltigkeit sollte man die Politik in aller Ruhe überprüfen. Die Gesprächspartner Jan Atteslander ist seit sieben Jahren als Leiter Aussenwirtschaft in der Geschäftsleitung des Wirtschaftsdachverbands Economiesuisse. Von 2000 bis 2008 war er Mitglied der Geschäftsleitung von Swissholdings, dem Verband der Industrie- und Dienstleistungskonzerne der Schweiz. Der 52-jährige Ökonom studierte an der Universität Bern, wo er einen Doktortitel erwarb. Er ist in Biel aufgewachsen und lebt im Waadtland. Agenda 2030 Der 60-jährige Hugo Fasel ist seit 2008 Direktor des Hilfswerks Caritas Schweiz. Zuvor sass der deutschsprachige Freiburger 17 Jahre für die Christlich-soziale Partei (CSP) im Nationalrat. Neben seiner Tätigkeit als Nationalrat leitete der Ökonom die Gewerkschaftsdachorganisation Travailsuisse. Die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung der UNO ist ab 2016 der global geltende Rahmen für nationale und internationale Bemühungen zur nachhaltigen Entwicklung und Armutsbekämpfung. Die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDG) ersetzen die Millenniumsentwicklungsziele. Die Volkswirtschaft  3 / 2016  39 ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT Da würde man sehen: Mit der jetzt eingeschlagenen Energiepolitik erreichen wir die CO2-Ziele nicht. Auch in der Forschung müsste man wahrscheinlich mehr tun. Wir haben in der Schweiz keine Ahnung, wie sich «Im Parlament hätte die Entwicklungszusammenarbeit auf die Nachhaltigkeit ausdie Botschaft des Bunwirkt. Es fehlen grundlegende desrats eine bessere Entscheidungs­informationen in Chance, wenn die Deza der Schweiz. aufzeigen könnte, welche Ziele sie erreicht hat.»  Jan Atteslander Es soll mehr gemessen werden? Atteslander: Ja, unbedingt. In der internationalen Entwicklungszusammenarbeit – einer der grössten Bundesausgaben – gibt es keine publizierte Messung der Zielerreichung. Sie sprechen von einer Wirksamkeitsanalyse. Atteslander: Ja. Wir wissen nicht genau, wo wir in der Entwicklungszusammenarbeit welche Ziele erreicht haben. In den anderen wichtigen politischen Bereichen weiss man das. Es ist sicher 40  Die Volkswirtschaft 3 / 2016 auch leichter zu erfassen. Ich darf das schon sagen: Die NGOs sind in ihren Publikationen viel weiter – was das Management ihrer Programme anbelangt und die Überprüfung ihrer Zielsetzungen – als die Deza in ihrer Publikation. Herr Fasel, wissen Sie, was Sie in Ihren Programmen bei der Caritas erreicht haben? Fasel: Messungen haben gerade in unserer Organisation einen hohen Standard erreicht. Unsere internationalen Geldgeber wie die EU oder die USA verlangen Wirkungsergebnisse. Wirkung heisst aber auch, Misserfolge zu zeigen. Denn: Misserfolge sind das beste Lernstück. Der Begriff Messung ist dabei nicht technisch zu verstehen. Sondern es geht um die Idee, Rechenschaft abzulegen über das, was man erreicht hat. Da gibt es in der Entwicklungszusammenarbeit einen Nachholbedarf – leider hat man häufig Hemmungen. Zurück zur Agenda 2030. Es wird oft von einem neuen Denkansatz gesprochen. Inwiefern? SCHWERPUNKT Atteslander: Und dann machen wir in armen Ländern, wo Tuberkulose kein Problem ist, einfach nichts? Das wäre ja unethisch. Die Armutsbekämpfung ist eines der wichtigsten Themen. Es gibt keine Nachhaltigkeit ohne die Bekämpfung der Armut. Fasel: Diese Aussage von Lom«Sobald die Schweiz borg ist doch Blödsinn. Dass Dinge miteinander verknüpft international aufgrund sind, lernt man heute in der Privon Monitoring-­ marschule. Es ist naiv, zu sagen, Berichten unter Druck wir erreichen diese globalen gerät, bewegt sie sich.» Ziele, wenn wir mehr bei der Malaria­bekämpfung machen.  Hugo Fasel Atteslander: Der neue Schritt ist, dass eine Verantwortlichkeit für alle – auch für den Norden – aufgezeigt wird. Vieles, was im Süden passiert, hat einen Effekt auf den Norden und umgekehrt. Deshalb macht es keinen Sinn, Nord und Süd zu trennen. Das ist eine entscheidende Weiterentwicklung. Fasel: Die nachhaltige Bekämpfung der Armut ist für die Caritas das wichtigste der 17 UNO-Ziele – auch in der Schweiz: Gerade für Jugendliche, die keine Ausbildung haben, ist das Armutsrisiko besonders gross. Es darf nicht sein, dass sie ein Leben lang auf Sozialhilfe angewiesen sind. Der Direktor des Copenhagen Consensus Center, Bjørn Lomborg, sagt, die Agenda 2030 sei gar nicht notwendig: Es wäre viel besser, sich auf ausgewählte Massnahmen zu konzentrieren. Beispielsweise auf die Reduktion von Krankheiten wie Tuberkulose und Malaria oder auf die Aufhebung der Subventionierung von fossilen Treibstoffen. Dies gäbe den betroffenen Ländern einen solchen Schub, dass die Agenda überflüssig werde. Können die Länder des Südens mit der Agenda 2030 mehr fordern? Atteslander: Es geht eben gerade nicht darum, wer welche Forderung hat und wer welche Zahlung macht. Das Ziel ist ein anderes: Man muss Prozesse, welche eine nachhaltige Entwicklung stärken, in Gang setzen. Man könnte bei den SDG allenfalls kritisieren, dass die Bedeutung von Reformen in der Wirtschaft und in der Politik relativ schwach formuliert ist. Die Millenniumsziele, die Vorläufer, konnten dank wirtschaftspolitischer und gesellschaftlicher Reformen in zwei Ländern erreicht werden: China und Indien. Das hat Wachstumsprozesse ermöglicht, welche die Armut stark reduzierten. Die Dinge sind miteinander verknüpft: Was wir in der Schweiz in der Finanz-, der Handels- und der Landwirtschaftspolitik machen, wirkt sich global aus. Fasel: Nehmen wir die Landwirtschaftsinitia­ tive, welche die Selbstversorgung in der Schweiz noch erhöhen möchte. Es macht keinen Sinn, mit Subventionen bei uns noch mehr zu produzieren. Denn es gibt viele Länder, die ihre Überschüsse loswerden wollen. (Atteslander nickt) Fasel: Eine andere konkrete Ableitung aus den SDG ist der Automatische Informationsaustausch: Mit der EU haben wir diesen eingeführt. Das Gleiche muss nun weltweit auch gegenüber den Ländern des Südens – gegenüber Diktatoren – passieren, damit wir das Abfliessen von Milliarden transparent machen können. Die Volkswirtschaft  3 / 2016  41 ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT Atteslander: Das können wir abhaken. Bei Diktatorengeldern oder bei Geldern mit unbekannter Herkunft ist die Schweiz kein geeigneter Landeplatz mehr. Da geht man besser in ein anderes Land. Der Punkt ist doch: Die anderen Länder sollten diese Gelder auch nicht in Empfang nehmen. Atteslander: Im Zusammenhang mit dem Arabischen Frühling hat sich gezeigt, wie schnell Gelder weltweit blockiert werden können. Gleichzeitig ist es wichtig, dass die Finanzströme in diese Staaten nicht behindert werden. Wenn Sie heute Geld in ein Land überweisen, das kein entwickeltes Bankensystem hat, verlieren Sie bis zu 20 Prozent davon wegen der Gebühren. Ein erschwerter Zugang zu Finanzdienstleistungen ist ein grosses Investitionshemmnis – auch für die Privaten, für die Familien. Es gibt Studien, die besagen, dass doppelt so viel Geld vom Süden in den Norden fliesst als umgekehrt. Insbesondere geht es um unlautere Finanzflüsse und Steueroptimierungen von Kon«Es geht nicht darum, zernen. Hier geht es um riesige wer mehr Geld transSummen. ferieren kann. Das Ziel Atteslander: Das sind alles Symmuss sein, qualitativ ptome. Die zentralen Fragen sind nämlich: Stimmen in diemehr zu erreichen.» sen Ländern die Rahmenbedin Jan Atteslander gungen für Investitionen? Und: Sind die Länder offen für die Investitionen von Privaten – auch ausserhalb der herrschenden Klassen? Wenn zum Beispiel in afrikanischen Grossstädten die Rahmenbedingungen einigermassen stabil sind, wird sofort investiert. In zwei, drei Jahren sieht man bereits einen Unterschied in solchen Pockets of Stability. Da findet Wachstum statt. Deshalb muss man die Ursachen und nicht die Symptome angehen. Was ist mit den Geldflüssen innerhalb von Konzernen? Atteslander: Bei diesen Transaktionen sind die Konzerne transparent: Das sind alles deklarierte Einkommen. Das Problem liegt anderswo: Nicht in allen Ländern sind die Steuersysteme genügend entwickelt. Hier hat die Schweiz interessante Programme, bei denen Staaten beigebracht wird, wie 42  Die Volkswirtschaft 3 / 2016 man ein funktionierendes Steuersystem entwickelt. Das ist bei den lokalen Eliten nicht immer beliebt, wenn sie plötzlich Steuern zahlen müssen. Fasel: Herr Atteslander gibt diese klassische Antwort: Investoren ziehen ab, weil Instabilität herrscht. Aber wir wollen die Instabilität ja beseitigen. Wir haben in der Schweiz die Rohstoffkonzerne, was mit einem Reputationsrisiko verbunden ist. Jetzt kann man rein marktwirtschaftlich argumentieren: Die Konzerne wälzen in Ländern, wo Rohstoffe abgebaut werden, die Risiken voll auf die örtliche Bevölkerung ab. Wenn der Weltmarktpreis sinkt, werden die Leute nach Hause geschickt – ersatzlos. Und die Gewinne stabilisiert man weiterhin. In der Schweiz wäre das nicht möglich, denn der Arbeitgeber hat bei Entlassungen eine gewisse Verantwortung. Da sind unsere Rohstoffkonzerne noch im 19. Jahrhundert stecken geblieben. Atteslander:  (schüttelt den Kopf) Im Mining sind wir in einem kolossalen Lernprozess – hin zu globalen Standards. Es gibt eine Schweizer Firma, deren Social-Investment-Budget in Afrika 40 Prozent des Budgets der Deza auf diesem Kontinent ausmacht. Zum Teil in Gegenden, wo Deza-Mitarbeiter aus Sicherheitsgründen nicht mehr hinkommen. Was ist das für eine Firma? Atteslander: Das ist Glencore. Die bauen Schulen, Strassen, Spitäler in einem ganz schwierigen Umfeld. Ich kenne kein einziges Unternehmen, das seine Gewinne auf Kosten der Lokalbevölkerung stabilisiert. Im Gegenteil: Die Rohstoffkonzerne machen momentan riesige Verluste – etwa im Kohle- und Erzabbau. Bei solch langfristigen Investitionen stellt sich deshalb vielmehr die Frage: Wie organisiert man die Abgaben – die Schürfrechte? Fliessen die Gelder nur in den zentralen Staatshaushalt, oder schaut man, dass auch die Lokalbevölkerung davon profitiert? Das Gleiche gilt für Umweltstandards: Die Grossen können es sich nicht mehr leisten, flächendeckend die Regionen, wo sie operieren, zu vergiften. Das akzeptieren weder die lokalen Behörden noch die Investoren. Fasel: Ich bin ein bisschen erstaunt, Herr Atteslander, über diese Argumentation. Das mit Glencore würde ich jetzt wirklich nicht verteidigen. Die haben eine riesige PR-Kampagne aufgezogen. Sie haben auch mich angefragt, ob ich nicht bereit wäre, SCHWERPUNKT ein bisschen zu helfen, ihr Image aufzupolieren. Jeder und jede weiss, dass die in einigen Ländern – zum Beispiel im Kongo – machen, was sie wollen. Und die Umweltbelastung ist immens. Der Grund, warum sich solche Firmen trotzdem bewegen, ist die Mobilisierung in der Schweiz – von uns oder anderen Organisationen. Die kürzlich lancierte Konzernverantwortungsinitiative, die auch von namhaften Leuten aus der Wirtschaft unterstützt wird, ist ein Beispiel dafür. Diese Volksinitiative will den Menschenrechten und dem Umweltschutz in den Unternehmen einen höheren Stellenwert beimessen. Fasel: Das ist eine nächste Etappe, um die SDG konkret umzusetzen. Atteslander: Die Konzernverantwortungsinitiative ist das Gegenteil von SDG. Das würde bedeuten, dass ein Schweizer Richter in Bern darüber befindet, was eine Firma X in Sambia macht. Wie soll der arme Friedensrichter die Chance haben, nur in die Nähe der Fakten zu kommen. Das ist nicht umsetzbar. Kommen wir auf die Finanzierung der Agenda zu sprechen: Für die Umsetzung der Agenda 2030 braucht es laut UNO allein in den Entwicklungsländern jährlich zwischen 3000 und 5000 Milliarden Dollar. Woher sollen diese Mittel kommen? Fasel: Wir dürfen keine Angst vor dieser grossen Zahl haben, denn sie betrifft die Weltgemeinschaft als Ganzes. Zum Vergleich: Die USA haben in den letzten zehn Jahren gleich viel in den Afghanistankrieg investiert wie die Zahl, die wir hier nennen. Diese Summe muss man hinunterbrechen auf die Schweiz. Da kommt man auf rund 3  Milliarden Franken. Diese Zahl beinhaltet vor allem Investitionen: Jede Investition bedeutet ja auch wieder Einkommen. Atteslander: Investitionen sind «Der Bundesrat muss der richtige Ansatz: Solche Wachstumsprozesse verbessern sich aktiv zur humanitädie Nachhaltigkeit. Der Holzweg ren Schweiz bekennen. wäre es aber, Transferleistungen Das ist keine Frage der in diesem Ausmass zu verlangen. Die Finanzierungslücke wäre reWirtschaftspolitik, sonalpolitisch einfach zu gross. dern der Aussenpolitik – es ist eine Grundhal- Sie meinen die klassische Entwicktung.»  lungshilfe von G ­ eberstaaten? Atteslander: Ja, es wäre durch Transferleistungen nie möglich gewesen, die gesellschaftlichen und die wirtschaftlichen Veränderungsprozesse in den Schwellenländern auszulösen. Es waren vielmehr Verbesserungen in der Governance und Technologietransfers im grossen Stil. Für mich sind die fehlenden Mittel nicht die Hauptsorge, sondern die politische Sta- Hugo Fasel Die Volkswirtschaft  3 / 2016  43 ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT bilität: Es besteht die Gefahr, dass militärische und politische Konflikte solche Prozesse behindern. ren Ausgabenbereiche des Bundes. Denn: Die internationale Entwicklungszusammenarbeit hat durchaus eine Lobby im Parlament. Es gibt das UNO-Ziel, dass die Entwicklungszusammenarbeit mindestens 0,7 Prozent des Brutto­ nationaleinkommens betragen soll. Statt sich diesem Ziel anzunähern, hat nun das Parlament in der Schweiz die Entwicklungsgelder um 100 Millionen Franken gekürzt. Und Economiesuisse war dafür. Atteslander: Dass man da BNP-Zahlen statt qualitativer Grössen zur Berechnung verwendet, ist der komplett falsche Ansatz. Das gibt es in keinem anderen Bereich. Das ist ein Wunschkatalog. Es geht nicht darum, wer mehr Geld transferieren kann. Das Ziel muss sein, qualitativ mehr zu erreichen. Herr Fasel sagt, man müsse die Krisengebiete erst stabilisieren, bevor man investieren könne. Wie wollen Sie denn stabilisieren? Atteslander: Entwicklungszusammenarbeit hat dort eine Chance, wo man die Zusammenhänge wirklich kennt. Dazu gehört erstens die Zielmessung. Zweitens muss die Staatengemeinschaft alles machen, damit sich diese Regionen politisch und militärisch stabilisieren können. Kommt hinzu: Die Aussichten für den Staatshaushalt sind nicht rosig. Fasel: Ich war 17 Jahre im Parlament. Ich habe nie ein anderes Argument gehört. Es geht um die Prioritätensetzung: In der Schweiz sind wir dabei – trotz dieses Arguments fehlender Finanzen –, die Unternehmenssteuern milliardenhoch zu senken. Da fehlt das Geld anscheinend nicht. Im Budget 2016 hat man die Mittel der Landwirtschaft erhöht. Da sieht man: Das ist Machtpolitik und nicht Finanzpolitik. Wenn man die Leute heute nach den drängendsten Problemen fragt, nennen viele die Flüchtlingskrise. Dies zeigt doch die Wichtigkeit der humanitären Hilfe. Mit diesem Geld sollen Regionen stabilisiert werden, wo eben kein Unternehmen hingeht. Anschliessend kann man mit Privatkapital zu wirken beginnen. Die beschlossene Kürzung ist absolut realitätsfern. Atteslander: Man darf die Vorgeschichte nicht vergessen: Es war ein Fehler, die Entwicklungszusammenarbeit so schnell so stark auszubauen. Auch mit diesen Einsparungen ist diese in den letzten Jahren stärker gewachsen als alle ande- 44  Die Volkswirtschaft 3 / 2016 Die UNO soll es richten, nicht die Schweiz? Atteslander: Alle zusammen. Die Schweiz ist ein neutrales Land. Wenn die Staatengemeinschaft wirklich etwas will, können Verbesserungsprozesse eingeleitet werden. Solange das nicht der Fall ist, bleiben Krisenregionen wie etwa Syrien weiterhin unruhig. Ist die Sicherheit nicht gewährleistet, gibt es Hungersnöte und Migrationsströme. Fasel: Im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise muss man vor Ort helfen. Da sind sich alle einig. Die Schweiz hat auf unser kontinuierliches Drängen beim Bundesrat die Hilfe in Syrien vor Ort auf 50 Millionen Franken erhöht. Der Bedarf ist hier aber noch viel grösser. Der Bundesrat muss sich aktiv zur humanitären Schweiz bekennen. Das ist keine Frage der Wirtschaftspolitik, sondern der Aussenpolitik – es ist eine Grundhaltung. Atteslander: Es gibt viele Projekte, die hören auf, wenn der Geldfluss versiegt. Das ist nicht nachhaltig. Im Parlament hätte die Botschaft des Bundesrats eine bessere Chance, wenn die Deza aufzeigen könnte, welche Ziele sie erreicht hat. Aber genau diese Vorarbeit wurde nicht geleistet. Interview: Susanne Blank, Chefredaktorin «Die Volkswirtschaft» INVALIDENVERSICHERUNG IV-Umbau zielt auf Jugendliche und Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen Die geplante Revision der Invalidenversicherung will die Chancen von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen auf dem Arbeitsmarkt erhöhen. Der Bundesrat hat die Vorlage im Dezember in die Vernehmlassung geschickt. Diese endet am 18. März 2016.   Patrick Cudré-Mauroux Abstract    Die Invalidenversicherung (IV) soll optimiert werden. In den letzten Revisionen wurde zwar der Grundsatz «Eingliederung vor Rente» umgesetzt; bei Jugendlichen und Personen mit psychischen Beeinträchtigungen zeigen die Massnahmen jedoch noch nicht den gewünschten Erfolg. Der Bundesrat richtet deshalb in der laufenden Vernehmlassungsvorlage zur «Weiterentwicklung der Invalidenversicherung» den Fokus auf diese Gruppen. Da bei Jugendlichen der Übergang von der Schule in die Arbeitswelt zentral ist, will die IV kanto­nale Brückenangebote mitfinanzieren. Weiter brauchen psychisch beeinträchtigte Erwachsene eine bessere Betreuung am Arbeitsplatz. Ebenfalls mehr Aufmerksamkeit widmet die Vorlage Kindern, denn hier sind die Kosten gestiegen. Zudem sieht sie die Einführung eines stufenlosen Rentenmodells vor. Weiter muss die Zusammenarbeit zwischen Gesundheitswesen, Schule, Berufsbildung, Arbeitgeber und den Sozialversicherungen ausgebaut werden. D  ie ersten Ergebnisse der Evaluationen der vierten und der fünften IV-Revision sowie der Revision 6a zeigen: Die Invalidenversicherung wurde in eine Eingliederungsversicherung umgestaltet (siehe Kasten). Obwohl bei den Wiedereingliederungen aus Rente gemäss der Revision 6a die gesetzten Ziele noch nicht erreicht werden konnten, ist der Rentenbestand rascher gesunken als erwartet. Seit 2005 hat der Rentenbestand kontinuierlich abgenommen, obwohl die versicherte Bevölkerung von 4,8 Millionen Personen (Stand Ende 2005) auf 5,2 Millionen (Ende 20s13) angestiegen ist. Aus den Statistiken geht jedoch hervor, dass die Abnahme des Rentenbestands bei jungen Erwachsenen und Personen mit psychischen Beeinträchtigungen deutlich geringer ist. Bei Letzteren fiel der Rückgang der Neurenten im Verhältnis zur versicherten Bevölkerung bis im Jahr 2006 deutlich geringer aus (siehe Abbildung 1). Seit 2007 verläuft die Abnahme der Anzahl Neurenten aufgrund psychischer Leiden in etwa parallel zur Abnahme bei den übrigen Neurenten. Das Verhältnis zwischen der Zahl der Rentenbezüger und der versicherten Bevölkerung (Rentenbestandsquote) erreichte im Dezember 2005 mit 5,3 Prozent seinen Höchststand (siehe Abbildung 2). Seither ging diese Quote zurück und betrug im Dezember 2013 noch 4,5 Prozent. In absoluten Zahlen war in diesem Zeitraum eine Abnahme von 252 000 auf 230 000 Renten zu verzeichnen. Dieser Rückgang ist hauptsächlich eine Folge der sinkenden Neurentenquote, die sich in den letzten zehn Jahren halbiert hat. Die Rentenbestandsquote bei psychischen Erkrankungen ist jedoch trotz abnehmender Neurentenquote konstant geblieben. Der Rückgang der IV-Neurenten in der Schweiz schliesst die 18- bis 24-jährigen Versicherten nicht ein (siehe Abbildung 3): Von 2009 bis 2013 wurde jährlich im Durchschnitt rund 2000 Personen un- ter 25 Jahren erstmalig eine IV-Rente zugesprochen. Seit 2011 liegt die Neurentenquote bei dieser Altersgruppe sogar über jener der 25- bis 65-Jährigen. Bessere Unterstützung für Arbeitgeber Eine Untersuchung bei den Rentenbezügern unter 25 Jahren hat ergeben, dass über 90 Prozent dieser Personen vorgängig andere IV-Leistungen zugesprochen wurden. Zwei Drittel dieser Rentenbeziehenden litten an einer psychischen Erkrankung und ein Drittel an einem Geburtsgebrechen. In ihrem im Januar 2014 veröffentlichten Länderbericht zur psychischen Gesundheit und Beschäftigung in der Schweiz1 hat die OECD anerkannt, dass die IV gut funktioniert. In diesem Bericht wurden jedoch auch Mängel bei den Arbeitgebern festgestellt: Diese sind für den Umgang mit psychisch erkrankten Arbeitnehmenden kaum gerüstet, und ihre Rolle bei der Wiedereingliederung ist unzureichend. Das IV-System schenkt den Erwerbsanreizen noch zu wenig Aufmerksamkeit. Die Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) und die Sozialdienste können Personen mit psychischen Problemen nur bedingt Unter­ stützung bieten. Trotz der Interinstitutionellen Zusammenarbeit (IIZ) bestehen nach wie vor 1 OECD (2014). Psychische Gesundheit und Beschäftigung: Schweiz; siehe auch Soziale Sicherheit CHSS 2/2014. Von der Rente zur Wiedereingliederung Die Invalidenversicherung (IV) wurde seit ihrem Inkrafttreten 1960 und der Jahrtausendwende dreimal revidiert. Die vierte Revision trat am 1. Januar 2004 in Kraft. Mit dieser Revision wur­ den die regionalen ärztlichen Dienste (RAD) und die Dreiviertelsrente eingeführt. Ausserdem baute sie die Leistungen für die berufliche Weiterbildung aus und verstärkte den Anspruch auf aktive Arbeitsvermittlung. Im Weiteren wurde die Hilflosen­entschädigung für Personen erhöht, die zu Hause leben. Schliesslich wurde mit der vierten Revision die Grundlage für die Interinstitutionelle Zusammenarbeit (IIZ) geschaffen. Die fünfte Revision trat am 1. Januar 2008 in Kraft. Um ihre Leit­idee Ein­ gliederung vor Rente in die Praxis umzusetzen, wurden verschiedene Massnahmen eingeführt. Dazu gehören die Früherfassung und die Früh­intervention, Integrations- massnahmen zur Vorbereitung auf die berufliche Eingliederung und die Ausweitung der beruflichen Eingliederungsmassnahmen. Ausserdem wurden verschiedene Anreize für Arbeitgeber geschaffen. Das erste Massnahmenpaket der sechsten Revision (6a) trat am 1. Januar 2012 in Kraft. Es umfasste die folgenden vier Elemente: eingliederungsorientierte Rentenrevision, Neuregelung des Finanzierungs- mechanismus, Preissenkungen im Hilfsmittelbereich und Einführung des Assistenzbeitrags. Das zweite Massnahmenpaket der sechsten Revision (6b) wurde von den eidgenössischen Räten in drei Vorlagen unterteilt. Die Vorlage 2 (Kostenver­ gütung für stationäre Massnahmen) trat am 1. Januar 2013 in Kraft. Im Juni 2013 wurde die Vorlage 1 vom Parlament abgeschrieben, während die Vorlage 3 sistiert wurde. Die Volkswirtschaft  3 / 2016  45 INVALIDENVERSICHERUNG Dank den vorgenommenen Gesetzesrevisionen kann der Grundsatz «Eingliederung vor Rente» im Rahmen der IV umgesetzt werden. Trotzdem muss das System weiter optimiert werden. Die letzten IV-Revisionen zeigten bei den 18- bis 24-Jährigen und bei Personen mit psychischen Beeinträchtigungen nicht den erwarteten Erfolg. Die Zusammenarbeit mit den Akteuren des Gesundheitswesens und der schulischen und beruflichen Bildung sowie mit den Arbeitgebern und den anderen Sozialversicherungen muss ausgebaut werden. Im Rahmen dieser Reform hat der Bundesrat drei Zielgruppen definiert und für jede dieser Gruppen spe­ zifische Verbesserungen vorgesehen: 1. Kinder (bis 13 Jahre) 2. Kinder, Jugendliche und junge psychisch erkrankte Versicherte (13 bis 25 Jahre) 3. Psychisch erkrankte Versicherte Die Ausgaben bei Kindern in den Griff bekommen Bei Kindern mit einem anerkannten Geburtsgebrechen deckt die IV die Kosten 46  Die Volkswirtschaft  3 / 2016 0,6    Anteil am Total aller Versicherten, in % 0,5 25 000 0,4 20 000 0,3 15 000 0,2 10 000 0,1 5 000 0 0 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 IV-STATISTIK / DIE VOLKSWIRTSCHAFT Anzahl Rentenbezüger    30 000 2014   Psychische Erkrankungen (absolut)           Andere Erkrankungen (absolut)          Alle Erkrankungen (Quote)          Psychische Erkrankungen (Quote) Neues Verfahren ab 2006. Abb. 2: Rentenbestand nach Invaliditätsursache 6    Anteil am Total aller Versicherten, in %  Anzahl Rentenbezüger    300 000 5 250 000 4 200 000 3 150 000 2 100 000 1 50 000 0 0 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 IV-STATISTIK / DIE VOLKSWIRTSCHAFT Das System optimieren Abb. 1: Neurenten nach Invaliditätsursache 2014   Psychische Erkrankungen (absolut)           Andere Erkrankungen (absolut)          Alle Erkrankungen (Quote)          Psychische Erkrankungen (Quote) Neues Verfahren ab 2006. Abb. 3: Neurenten nach Alterskategorie 0,6    Verhältnis Rentenbezüger / versicherte Bevölkerung, in % Anzahl Rentenbezüger    3000 0,5 2500 0,4 2000 0,3 1500 0,2 1000 0,1 500 0 0 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012   18- bis 24- Jährige (absolut)           18- bis 24- Jährige (Quote)          25- bis 65- Jährige (Quote) Neues Verfahren ab 2006. 2013 2014 IV-STATISTIK / DIE VOLKSWIRTSCHAFT Koordinationsprobleme zwischen den verschiedenen Akteuren. Würde das kostenintensive schweizerische Gesundheitssystem seine bestehenden Ressourcen effizienter einsetzen, könnte es in Bezug auf den Arbeitsmarkt noch bessere Leistungen erbringen. Schliesslich werden mit den beträchtlichen Mitteln, die für das Bildungssystem aufgewendet werden, weder Schulabbrüche noch frühe Übergänge zur IV verhindert. Die OECD empfiehlt deshalb: –– Ausbau der Massnahmen am Arbeitsplatz; –– Annäherung der Invalidenversicherung an die Arbeitswelt, indem die Rolle der Arbeitgeber und der Nutzen von auf den Arbeitsplatz ausgerichteten Frühinterventionen betont werden; –– Ausbau der Kompetenzen innerhalb der RAV und Sozialdienste, mit denen sich Probleme am Arbeitsplatz bewältigen lassen, die mit der psychischen Gesundheit zusammenhängen; –– Gleichstellung des Gesundheitssystems mit den anderen Partnern mithilfe der IIZ und Ausbau der Zusammenarbeit zwischen Institutionen mit teilweise entgegengesetzten Interessen; –– Ausrichtung des psychiatrischen Versorgungssystems, das über ausreichende Ressourcen verfügt, auf den Arbeitsplatz; –– vermehrte Ausrichtung der Bildungspolitik auf den Übertritt ins Berufsleben. INVALIDENVERSICHERUNG KEYSTONE Rahmen der Arbeitsvermittlung ist es daher von zentraler Bedeutung, relevante Anzeichen zu einem frühen Zeitpunkt zu erkennen und adäquat zu intervenieren. Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen benötigen spezifische Unterstützung, damit sie im Arbeitsleben verbleiben oder Eingliederungsmassnahmen erfolgreich abschliessen können. Daher sollen Personen mit psychisch bedingtem Invaliditätsrisiko über die Eingliederung hinaus von der IV begleitet und beraten werden. Die sozialberuflichen Integrationsmassnahmen müssen über einen längeren Zeitraum angewendet werden. Die Einführung eines Personalverleihs erleichtert Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen den Wiedereinstieg ins Erwerbs­leben und erhöht ihre Vermittlungschancen. Junger Mann in einer therapeutischen Schlosserwerkstatt. Der Übergang ins Berufsleben ist für Jugendliche wichtig. von medizinischen Behandlungen. Die Gesamtkosten dieser medizinischen Massnahmen sind von 458 Millionen Franken im Jahr 2001 auf 784 Millionen Franken im Jahr 2013 angestiegen. Dies entspricht einer Gesamtzunahme von 71 Prozent innerhalb von zwölf Jahren. Daher sind verschiedene Massnahmen vorgesehen: Festlegung der Kriterien für die Übernahme der medizinischen Massnahmen, Aktualisierung der Geburtsgebrechenliste, Anpassung der gewährten IV-Leistungen gemäss den geltenden Kriterien bei der Krankenversicherung, Ausbau und Verbesserung der Steuerung und Fallführung der medizinischen Massnahmen. Übergang in die Arbeitswelt für Jugendliche verbessern Bei Kindern im Primarschulalter können weitere Probleme wie Lern- oder Verhaltensstörungen auftreten. Der Übergang I (Übertritt von der Volksschule zur erstmaligen beruflichen Ausbildung / beruflichen Grundbildung) ist für die Erfolgschancen auf dem Arbeitsmarkt von grosser Bedeutung. Dieser Übergang ist besonders heikel für Jugendliche, die noch nicht in der Lage sind, eine erste Ausbildung zu beginnen, und für Jugendliche, die weder eine Lehrstelle noch eine Zwischenlösung gefunden haben. Die betroffenen Jugendlichen müssen angemessen begleitet werden, um die Entstehung, Verschlechterung oder Chroni­fizierung psychischer Probleme zu verhindern. Die IV verfügt derzeit über keine gezielten Massnahmen, um die betreffenden Jugendlichen beim Übergang ins Erwerbsleben zu unterstützen. Neu sollen die Instrumente, die sich bei Erwachsenen bewährt haben (Früherfassung, sozialberufliche Integrationsmassnahmen), auf Jugendliche ausgeweitet werden. Die IV sieht auch eine Mitfinanzierung kantonaler Brückenangebote zur Vorbereitung auf die erste Berufsausbildung sowie des kantonalen Case-Managements Berufsbildung vor. Sie richtet die IV-finanzierten Erstausbildungen und die in diesem Rahmen ausgerichteten Taggelder stärker auf einen erfolgreichen Einstieg in den ersten Arbeitsmarkt aus. Zudem erhalten die Jugendlichen von der IV mehr Beratung und Begleitung. Im Weiteren werden die medizinischen Eingliederungsmassnahmen der IV über einen längeren Zeitraum erbracht. Psychische Krankheiten bei Erwachsenen frühzeitig erkennen Untersuchungen bei Erwachsenen zeigen, dass erste Auffälligkeiten bereits mehrere Jahre vor einer Arbeitsunfähigkeit aus psychischen Gründen festgestellt werden können. Für den Erhalt des Arbeitsplatzes des Versicherten oder seine Neuplatzierung im Koordination zwischen den beteiligten Akteuren Abgesehen von den spezifischen Massnahmen für die vorstehend aufgeführten drei Zielgruppen sind im Hinblick auf die Koordination der beteiligten Akteure folgende Verbesserungen angezeigt: Verstärkung der Unterstützung für Arbeitgeber und Abschluss einer Zusammenarbeitsvereinbarung mit Arbeitgebern, Ausbau der Zusammenarbeit mit behandelnden Ärzten, Verlängerung des Schutzes der Versicherten im Fall von Arbeitslosigkeit nach einer Rentenrevision, Gewährleistung ausreichender Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts nach der Meldung an die IV und Einführung eines stufenlosen Rentensystems. Patrick Cudré-Mauroux Anwalt, Leiter des Bereichs Gesetzgebung und Recht, Geschäftsfeld Invalidenversicherung, Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV), Bern Literatur Bolliger et. al. (2012). Eingliederung vor Rente. Evaluation der Früherfassung, der Frühintervention und der Integrationsmassnahmen in der Invalidenversicherung. Beiträge zur Sozialen Sicherheit, Forschungsbericht 13/12;  Soziale Sicherheit CHSS 2/2013, S. 88. BSV (2014). IV zieht insgesamt positive Zwischenbilanz der beruflichen Eingliederung. Medienmitteilung vom 18. August 2014. Die Volkswirtschaft  3 / 2016  47 FINANZMÄRKTE Internationale TLAC-Standards als Chance für Schweizer Grossbanken Die Schweiz setzt die internationalen Mindeststandards für verlustabsorbierendes Kapital (TLAC) im Eiltempo in nationales Recht um. Dies verschafft den beiden Schweizer Grossbanken einen Vorteil gegenüber der ausländischen Konkurrenz.   Seraina Grünewald Abstract  Die anhaltenden Bemühungen der Schweizer Behörden zur Entschärfung der «Too big to fail»-Problematik haben durch die kürzlich verabschiedeten internationalen Mindeststandards für verlustabsorbierendes Kapital (total loss-absorbing capacity, TLAC) entscheidenden Rückenwind erhalten. Dieser Kurzbeitrag würdigt die TLAC-Standards und die in Aussicht gestellte Schweizer Umsetzung. Die Stossrichtung stimmt, eine entscheidende Frage bleibt aber offen: Wer kauft die neuen Papiere? N  ach mehrjährigen Vorarbeiten hat das Financial Stability Board (FSB) am 9. November 2015 internationale Mindeststandards für verlustabsorbierendes Kapital («total loss-absorbing capacity, TLAC») verabschiedet.1 Die inzwischen von den G-20 gutgeheissenen Standards gehen über die Kapitalvorschriften von Basel III2 hinaus, welche nicht in jedem Fall gewährleisten, dass eine Bank ihre Geschäfte fortführen kann. Damit die Behörden systemrelevante Banken im Krisenfall sanieren bzw. geordnet abwickeln können, müssen die Finanzinstitute über zusätzliche finanzielle Mittel verfügen. Die TLAC ist die Summe aus den Eigenkapitalanforderungen («going concern») und zusätzlichem verlustabsorbierendem Kapital («gone concern»). Durch die Einführung der ergänzenden «Gone concern»-Anforderungen tragen künftig die Gläubiger – und nicht der Staat – die mit der Aufrechterhaltung systemrelevanter Funktionen verbundenen Kosten. Dies stellt einen Meilenstein in den internationalen Bemühungen zur Entschärfung des «Too big to fail»-Problems dar. Die derzeit 30 als global systemrelevant eingestuften Banken («global systemically important banks»)3 müssen über quantitativ und qualitativ hinreichende Verbindlichkeiten verfügen, welche die Behörden im Bedarfsfall abschreiben bzw. in Eigenkapital umwandeln und somit zur Finanzierung von Abwicklungsmassnahmen he1 FSB, Total Loss-Absorbing Capacity (TLAC) Principles and Term Sheet, 9. November 2015. 2 Basler Ausschuss für Bankenaufsicht, Basel III: Ein globaler Regulierungsrahmen für widerstandsfähigere Banken und Bankensysteme, Dezember 2010. 3 Vgl. FSB, 2015 Update of List of Global Systemically Important Banks (G-SIBs), 3. November 2015. 48  Die Volkswirtschaft  3 / 2016 ranziehen können (sogenanntes Bail-in). Dies sehen die TLAC-Standards vor. Die betroffenen Banken – darunter auch die Schweizer Grossbanken UBS und Credit Suisse – werden verpflichtet, ab 2019 ein Verlustpolster von mindestens 16 Prozent der risikogewichteten Aktiva (ohne Puffer) und 6 Prozent der Bilanzsumme zu halten. Ab 2022 erhöht sich diese Quote auf 18 Prozent bzw. 6,75 Prozent. TLAC schafft Vertrauen In erster Linie will die «total loss-absorbing capacity» Vertrauen in die Abwicklungsfähigkeit grosser Bankkonzerne schaffen. Das gilt insbesondere für die internationale Zusammenarbeit: Werden verlustabsorbierende Verbindlichkeiten schon im Vorfeld einer Abwicklung in der richtigen Qualität und am richtigen Ort innerhalb des Konzerns platziert, ist die Versuchung der Aufnahmestaaten von Konzerneinheiten kleiner – so hofft man –, lokale Einheiten im Krisenfall vom Konzern abzuspalten und dadurch eine geordnete grenzüberschreitende Abwicklung zu unterlaufen. An die TLAC-Quoten anrechenbar sind nur Verbindlichkeiten, die im Abwicklungsfall einem Bail-in unterliegen würden. Somit fallen gesicherte Einlagen sowie privilegierte, verrechenbare oder durch Sicherheiten unterlegte Forderungen prinzipiell ausser Betracht. Umgekehrt bildet die TLAC jedoch nur eine Teilmenge der im Rahmen eines Bail-in wandel­ baren oder abschreibbaren Verbindlichkeiten. Um das nötige Vertrauen zu schaffen, muss die TLAC erhöhten Anforderungen genügen, die international gelten. Dazu gehören eine Mindestrestlaufzeit von einem Jahr sowie die Nachrangigkeit von TLAC-Verbindlichkeiten gegenüber anderen ungesicherten und unprivilegierten Verbindlichkeiten der Bank. Die erforderliche Nachrangigkeit lässt sich prinzipiell gesetzlich, vertraglich oder strukturell sicherstellen. Eine gesetzlich festgelegte Nachrangigkeit generiert dabei am ehesten die gewünschte Rechtssicherheit – sie ist aber ein rechtliches Novum, welches von den FSB-Mitgliedstaaten erst implementiert werden müsste. Eine vertragliche Umsetzung birgt grös­sere Anfechtungsrisiken und ist träger in der Umsetzung. Holding-Strategie für CS und UBS Für die beiden Schweizer Grossbanken drängt sich eine strukturelle Lösung auf: Die Konzernholding gibt dabei nur TLAC-kompatible Verbindlichkeiten aus, welche nachrangig zu den Verbindlichkeiten der unteren Konzernstufen ausgestaltet sind. Diese Lösung fügt sich nahtlos in die von der Eidgenössischen Finanzmarktaufsicht (Finma) bevorzugte Abwicklungsstrategie eines «single point of entry» (siehe Kasten) für Grossbanken ein, wonach die Struktur des Gesamtkonzerns erhalten bleiben soll.4 4 Vgl. Finma, Positionspapier Sanierung und Abwicklung von G-SIBs, 7. August 2013. Single und Multiple Point of Entry Wird ein Konzern über eine einzige Anlaufstelle abgewickelt, spricht man von einem single point of entry (SPE). Somit ist die Abwicklung unabhängig davon, wo die finanziellen Schwierigkeiten ihren Ursprung haben. Dies soll eine einheitliche Abwicklung durch eine einzige Behörde ermöglichen. Beim multiple point of entry (MPE) findet die Abwicklung dezentral statt. Es kommt zur Aufspaltung des Konzerns in Untergruppen (z. B. entlang von Geschäftsbereichen oder von Ländergrenzen), die einzeln abgewickelt werden. In diesem Verfahren sind mehrere Behörden parallel aktiv. FINANZMÄRKTE KEYSTONE «Too big to fail»-Bestimmungen integrieren.5 Dies erfolgt per 1. Juli 2016 durch eine Revision der Eigenmittelverordnung.6 Dass die TLAC-Quoten mit 28,6 Prozent der risikogewichteten Aktiva und 10 Prozent der Bilanzsumme (ohne Rabatte) höher als die internationalen Mindeststandards ausfallen, ist angesichts der nationalen Bedeutung der Schweizer Grossbanken begrüssenswert. Der «Gone concern»-Teil (14,3% bzw. 5%) ist im Prinzip vollumfänglich durch sogenannte Bail-in-Bonds zu erfüllen. Das sind Schuldinstrumente, welche die Grossbanken spezifisch zur Verlusttragung im Fall von Insolvenzmassnahmen ausgeben. Für die inländischen systemrelevanten Banken (Zürcher Kantonalbank, Raiffeisen, Postfinance) sollen «Gone concern»-Anforderungen mit der nächsten Überprüfung der «Too big to fail»-Bestimmungen Ende 2017 folgen. Mit den TLAC-Standards schwenkt die internationale Gemeinschaft auf ein Kongelten für systemrelevante Banken Halte­ zept ein, das die Schweiz mit ihrem «Too verbote, um direkte Ansteckungseffekte big to fail»-Regime schon früh angestoszu vermeiden, und ausserhalb der Schweiz sen und national bereits teilweise implewird teilweise der Kauf durch Retailkunden mentiert hat. Trotz der internationalen Eiunterbunden. Ob Pensionskassen und Versi- nigung verbleiben aber Unterschiede im cherungen zu den Hauptabnehmern solcher Vergleich zum Ausland: So können sich Papiere zählen sollten, ist aus volkswirt- in der EU niedergelassene Grossbanken schaftlicher Sicht wiederum fraglich. Es wird Mittel aus sogenannten Abwicklungssich weisen, ob der Markt ausserhalb dieser fonds in einem gewissen Umfang an ihre Gruppen – und in Zeiten weniger expansiver TLAC-Quote anrechnen lassen. Zwar sind Geldpolitik – genügend Nachfrage generie- die EU-Abwicklungsfonds primär durch ren wird. Immerhin geniessen die Schweizer Beiträge der Banken (vor)finanziert. DenGrossbanken dank der raschen Umsetzung noch führen sie durch ihren kollektiven der internationalen Standards als «First-­ «Versicherungsschutz» unter Umständen Mover» möglicherweise einen Vorteil ge- zu Wettbewerbsvorteilen für Banken im genüber der ausländischen Konkurrenz. Vergleich zur Schweiz, die kein analoges Der Frage nach der «idealen» Käufer- Instrument kennt. schaft von TLAC-Anleihen liegt die Sorge zugrunde, die finanziellen Probleme we- 5 Vgl. Bundesrat legt Eckwerte zur Anpassung der Toobig-to-fail-Bestimmungen fest, Medienmitteilung niger Bankkonzerne könnten auf andere des Staatssekretariats für Internationale Finanzfragen Finanz­marktakteure übergreifen oder sich (SIF), 21. Oktober 2015; Finma, Faktenblatt: Die neuen Too-big-to-fail-Kapitalanforderungen für global systemgar in einen Flächenbrand verwandeln. Banken in der Schweiz, 21. Oktober 2015. Diese Sorge ist nicht unberechtigt und 6 relevante Vgl. die Vernehmlassungsunterlagen vom 22. Dezember 2015 unter Admin.ch. könnte die Behörden im Krisenfall dazu veranlassen, die Verluste von Grossbanken doch nicht im vollen Umfang auf die Anleihegläubiger abzuwälzen. Ungelöst bleibt mit der TLAC auch das Liquiditätsproblem: Woher kommen die substanziellen liquiden Mittel, auf die jede angeschlagene Bank während und nach ihrer Sanierung bzw. Abwicklung angewiesen ist? Der Vorsitzende des Financial Stability Board, Mark Carney (r.), in Basel. Das Gremium hat die Vorschriften für global systemrelevante Banken verschärft. Gemäss dieser Strategie gibt die Holding als einzige Abwicklungseinheit der Gesamtgruppe sämtliche externen TLAC-Verbindlichkeiten aus. Sofern sich wesentliche Teilkonzerne («material sub-groups») in der Abwicklungsgruppe befinden, müssen diese eine hinreichende Menge an «interner TLAC» – d. h. Verbindlichkeiten gegenüber der Holding – halten. Bei einer Abwicklung können dadurch die Verluste eines Teilkonzerns auf die Holding übertragen werden. Dies geschieht durch ein konzerninternes Bail-in. Es kommt also zu einer Art Schuldenerlass der Holding gegenüber dem Teilkonzern und zur Bündelung der Gesamtschulden auf oberster Konzernstufe. Sieht die Abwicklungsplanung für eine Grossbank hingegen vor, dass ein Bail-in bei verschiedenen Einheiten des Gesamtkonzerns ansetzen soll, spricht man von einem «multiple point of entry» (siehe Kasten). Dies wirkt sich auch auf die Verteilung der TLAC im Konzern aus: Jede der so entstehenden Abwicklungsgruppen muss in diesem Fall die externen und internen TLAC-Standards für ihre Gruppe erfüllen. Suche nach geeigneten Käufern Die internationale Einigung zur TLAC ist gerade für die Schweiz ein Meilenstein. Die Wunderwaffe TLAC wirft aber auch neue Probleme auf: Wer soll diese neuartigen Anleihen im erforderlichen Umfang kaufen? So Schweiz als Musterschülerin Der Bundesrat will die internationalen Vorgaben zur TLAC rasch in die Schweizer Seraina Grünewald Assistenzprofessorin für Finanzmarktrecht, UFSP Finanzmarktregulierung, Universität Zürich Die Volkswirtschaft  3 / 2016  49 ALAMY EINBLICK Das Verbot von Verhütungsmitteln in Manila Viele arme Länder sehen sich mit einer Bevölkerungsexplosion konfrontiert. Diese ist auf weiterhin hohe Geburtenraten zurückzuführen, während die Sterberaten dank den medizinischen Fortschritten und einer besseren Hygiene deutlich zurückgegangen sind. Für diese Entwicklung der Geburtenraten gibt es mehrere Gründe: Selbst wenn jede Frau weniger Kinder zur Welt bringt, bleibt der Anteil der Geburten pro tausend Einwohner sehr hoch, wenn die Bevölkerung insgesamt jung – d. h. im fortpflanzungsfähigen Alter – ist. Zu einer solchen Ausgangslage kommt es, wenn die Geburtenrate die Sterberate übersteigt und so dieses Phänomen aufrechterhält. Die Bevölkerung in den Entwicklungsländern ist deutlich jünger als in den Indus­ trieländern: Ein Drittel der Einwohnerinnen und Einwohner ist weniger als 15 Jahre alt. Zudem ist die Geburtenkontrolle für viele Frauen schwierig. Entweder weil sie keinen Zugang zu verlässlichen Verhütungsmethoden haben oder weil ihr Ehemann jegliche Empfängnisverhütung ablehnt. In armen Ländern haben Frauen im Durchschnitt ein Kind mehr als gewünscht. Trotzdem wird der Zugang zu Verhütungsmitteln in einigen Ländern oder an bestimmten Orten eingeschränkt. So hat in Manila, der Hauptstadt der Philippinen, der Stadtpräsident nach seiner Wahl 1998 beschlossen, die Abgabe von empfängnisverhütenden Mitteln in den öffentlichen Gesundheitszentren zu verbieten. Während sich die Frauen zuvor zu sehr tiefen Kosten die Pille oder Verhütungsimplantate beschaffen konnten, ist ihnen der Zugang zu den gewünschten Verhütungsmitteln seither verwehrt. Eine Einschränkung mit gravierenden Folgen In einem Arbeitspapier1 haben wir kürzlich untersucht, wie sich das Verbot von Verhütungsmitteln auf die Bildung der Kinder auswirkt. Ein Vergleich zwischen Manila und den Nachbargemeinden hat Folgendes ergeben: In der Hauptstadt, die einen höheren Entwicklungsstand aufweist als der Rest des Landes, wurden vor der Einführung des Verbots mehr Verhütungsmittel benutzt als in den anderen Gemeinden. Doch im Verlauf der Nullerjahre haben diese Gemeinden ihren Rückstand gegenüber Manila aufgeholt. Dies liegt daran, dass die Bewohnerinnen der Hauptstadt Schwierigkeiten haben, sich Verhütungsmittel zu beschaffen. Die Geburtenzahl steigt an, vor allem bei den jüngsten und somit fruchtbarsten Frauen. Dies hat sofortige Folgen: Die Zunahme der Kinderzahl pro Frau geht mit einem Rückgang des Bildungsniveaus einher. Die geschätzte Wirkung ist sogar verhältnismässig stark: Ein zusätzliches Kind erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass das älteste Geschwister eine Klasse wiederholen muss, um 13 Prozent. Dies liegt hauptsächlich daran, dass bei mehr Geschwistern weniger Ressourcen pro Kind zur Verfügung stehen. Dabei geht es nicht nur um die finanziellen Mittel, sondern auch um die Zeit und die Aufmerksamkeit, die Eltern für ihre Kinder aufbringen können. Entsprechend verringern sich die Chancen auf schulischen Erfolg: entweder weil die Eltern das Schulgeld nicht bezahlen können oder weil die Mutter nicht in der Lage ist, den bereits eingeschulten Kindern zu helfen, da sie von ihren jüngeren Kindern vereinnahmt wird. Eine solche Politik wirkt sich somit negativ auf das Wohl der Frauen und auf die Bildung ihrer Kinder aus. Längerfristig werden dadurch auch die Einkommen abnehmen. Und letztlich leiden auch die menschliche Entwicklung und das wirtschaftliche Wachstum unter diesem Verbot. Die Forschungstätigkeit fortsetzen Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, dass der Zugang zu Verhütungsmitteln ausgebaut wird und mehr Informationen zu den Methoden zur Verfügung stehen, die optimal auf die Bedürfnisse der Frauen abgestimmt sind. In meiner neuesten Forschung beschäftige ich mich mit dem Zugang zu Verhütungsmitteln in Indien. Die Sterilisation bei Frauen ist dort das häufigste Mittel zur Geburtenkontrolle. Dies wirft grundlegende Fragen zu den Menschenrechten, zur Gesundheit der Mütter und der Rolle des Staates auf. Christelle Dumas Professorin am Lehrstuhl für Entwicklungsökonomie und Wirtschafts­ geschichte, Universität Freiburg 1 Diese Arbeit wurde in Zusammenarbeit mit Arnaud Lefranc verfasst: Sex in Marriage Is a Divine Gift: For Whom? Evidence from the Manila Contraceptive Ban, IZA Working Paper, 7503, 2013. Die Volkswirtschaft  3 / 2016  51 STANDORTFAKTOREN Exportunternehmen setzen auf Swissness Unternehmen, die mit der Marke Schweiz werben, haben nur noch wenige Monate Zeit, sich auf das sogenannte Swissness-Gesetz einzustellen. Dieses tritt Anfang 2017 in Kraft. Für viele Exporteure ist die Werbung mit dem Schweizer Kreuz zentral.   Ralph Lehmann, Manuel Heinzle, Lukas Horrer, Kathrin Zogg Abstract  Anfang 2017 treten in der Schweiz ein revidiertes Wappenschutzgesetz und ein angepasstes Markenschutzgesetz in Kraft. Diese Gesetze regeln die Verwendung des Schweizer Wappens und definieren Kriterien, die erfüllt werden müssen, um mit der Herkunftsbezeichnung Schweiz werben zu dürfen. Eine Studie der Hochschule für Technik und Wirtschaft Chur hat untersucht, welche Bedeutung die Herkunftsbezeichnung für international tätige Schweizer Unternehmen hat, wie gut diese den Anforderungen der neuen Gesetzgebung entsprechen und welche Unterstützung sie bei deren Umsetzung benötigen. Dabei zeigt sich: Während Industrie- und Dienstleistungsunternehmen relativ gut aufgestellt sind, herrscht bei vielen Lebensmittelherstellern noch Unklarheit, ob sie weiterhin mit der Marke Schweiz werben dürfen. Erstaunlich wenig betroffen vom Swissness-Gesetz scheinen innovative und technologie­ getriebene Firmen, da die Herkunftsangabe für sie eine untergeordnete Rolle spielt. D  ie Schweiz hat bei Konsumenten im Ausland einen guten Ruf. Sie wird mit Schokolade, Käse, Uhren, Banken und Bergen assoziiert und steht für eine schöne Landschaft, hohe Lebensqualität, Zuverlässigkeit, Vertrauenswürdigkeit und Sauberkeit. Unternehmen nutzen dieses positive Image, indem sie den Begriff Schweiz in ihren Namen einbauen. Sie integrieren das Schweizer Kreuz in ihr Logo und wählen für ihre Marke Symbolbilder wie das Matterhorn. Beispiele dafür sind die Fluggesellschaft Swiss, der Messerhersteller Victorinox und die Schokoladenmarke Toblerone. Ein solches Co-Branding zwischen der Marke des Produktes und der Marke Schweiz generiert einen Mehrwert, wenn die Produkteigenschaften und die Merkmale der Marke Schweiz gut harmonieren.1 So sind ausländische Konsumenten bereit, für Schweizer Schokolade einen Aufpreis von nahezu einem Drittel zu zahlen. Bei Uhren erhöht die «Swissness» die 1 Bruhn, Schwarz und Batt (2011), S. 153. Zahlungsbereitschaft um 43 Prozent, bei Kosmetika um 14 Prozent und bei Computerzubehör um 7 Prozent im Vergleich zu Produkten ohne Herkunftsangabe.2 Bei der internationalen Vermarktung von Produkten spielt das Herkunftsland eine bedeutende Rolle.3 Während Schweizer Unternehmen vor zehn Jahren noch befürchteten, als rückständig und provinziell wahrgenommen zu werden, liegen Produkte mit der Herkunftsbezeichnung Schweiz im Trend. So vervierfachte sich die Zahl der beim Eidgenössischen Institut für Geistiges Eigentum (IGE) eingegangenen Neuanmeldungen von Marken mit dem Co-Brand «Swiss» in der ersten Dekade des Jahrtausends auf rund 5700 im Jahr 2010. Die Marke Schweiz wird aber nicht nur genutzt, sie wird auch missbraucht. So warb ein Kosmetikahersteller für seine Produkte mit einer angeblichen Schweizer Herkunft, obwohl die zur Herstellung verwendeten Rohstoffe aus dem Ausland 2 Feige et al. (2013), S. 42. 3 Pharr (2005), S. 34. stammten und die Produkte in Frankreich produziert wurden. Eine Bank bezeichnete sich als schweizerisch, obwohl sich der Schweizer Anteil auf drei in der Schweiz domizilierte Briefkastenfirmen und die Kapitalgeber beschränkte.4 Einheimische Rohstoffe verlangt Solche Missbräuche waren der Anlass für zwei parlamentarische Vorstösse zum Schutz der Marke Schweiz im Jahr 2006. Daraus resultierte zum einen das revidierte Wappenschutzgesetz, welches die Verwendung des Schweizer Wappens und anderer öffentlicher Zeichen regelt.  Zum andern hält das revidierte Markenschutzgesetz fest, wann ein Produkt oder eine Dienstleistung mit der Herkunftsbezeichnung Schweiz werben darf. So können Lebensmittel neu nur noch dann mit dem Schweizer Kreuz versehen werden, wenn der wesentliche Produktionsschritt in der Schweiz stattfindet und die Rohstoffe zu mindestens 80 Prozent aus der Schweiz kommen.5 Industrieprodukte dürfen mit der Marke Schweiz gekennzeichnet werden, wenn die Herstellkosten zu 60 Prozent und der wesentliche Produktionsschritt in der Schweiz anfallen.6 Dienstleistungen können unter dem Schweizer Kreuz angeboten werden, wenn der Sitz und das Verwaltungszentrum des Unternehmens in der Schweiz angesiedelt sind und die ge4 Feige et al. (2013), S. 73. 5 Ausnahmen für Milch und Rohstoffe, die in der Schweiz nicht oder nicht in genügender Menge hergestellt werden. 6 Ausnahmen für Rohstoffe wie oben. Studiendesign Im Juni 2015 hat die Hochschule für Technik und Wirtschaft Chur 199 international tätige Schweizer Unternehmen aus dem Mitgliederverzeichnis von Switzerland Global Enterprise befragt. 15 Prozent der Unternehmen können als gross, ein Drittel als mittel und über die Hälfte als klein eingestuft 52  Die Volkswirtschaft  3 / 2016 werden. 52 Prozent der befragten Firmen stammen aus dem industriellen Sektor, 23 Prozent aus dem tertiären, 13 Prozent aus dem Lebensmittelbereich und 12 Prozent aus anderen Wirtschaftsbereichen. Die Unternehmen erhielten einen elektronischen Fragebogen, welcher in einem ersten Teil Fragen zur Grösse, zur Branche und zum Innovationsgrad (gemessen als Umsatzanteil von Produkten, die jünger als drei Jahre sind) enthielt. Im zweiten Teil wurden sie aufgefordert, anzugeben, ob und allenfalls in welcher Form sie «Swissness» im Marketing verwenden. Im dritten Teil mussten die Firmen einschätzen, inwieweit sie die vom Swissness-Gesetz vorgegebenen Anforderungen erfüllen. Im letzten Teil des Fragebogens gaben die Unternehmen an, wie gut sie sich über die neue Gesetzgebung informiert fühlen und welche Art von Unterstützung sie für deren Umsetzung benötigen. STANDORTFAKTOREN KEYSTONE Das Matterhorn steht für die Schweiz: Unter­ nehmen wie die Fluggesellschaft Swiss setzen bei der Werbung auf diese Symbolik. Die Volkswirtschaft  3 / 2016  53 STANDORTFAKTOREN schäftsführende Person einen Schweizer Pass oder Wohnsitz hat. Das revidierte Marken- und Wappenschutzgesetz wurde vom Parlament im Juni 2013 verabschiedet und tritt Anfang 2017 in Kraft. Für international tätige Schweizer Unternehmen verändern sich dadurch die Rahmenbedingungen massgeblich. So müssen sie prüfen, inwieweit sie die neuen Bedingungen des Swissness-Gesetzes erfüllen und welche Veränderungen im Rahmen von Einkauf und Produktion nötig werden. organisation Switzerland Global Enterprise untersucht, welche Bedeutung die Herkunftsbezeichnung für international tätige Schweizer Unternehmen hat. Die Unternehmen wurden befragt, ob ihre Produkte den Anforderungen des Swissness-­ Gesetzes genügen und ob sie Unterstützung bei der Umsetzung der Gesetzgebung benötigen (zum Design der Studie siehe Kasten). Dabei zeigt sich: 72 Prozent der befragten Unternehmen verwenden die Herkunftsbezeichnung im Marketing. Die grösste Bedeutung scheint «Swissness» bei den Lebensmitteln zu haben, wo 83 Prozent der Unternehmen angaben, dass sie darauf hinweisen. Im industriellen Sektor tun dies 74 Prozent und im Bereich der Dienstleistungen 56 Prozent (siehe Abbildung 1). Swissness im Marketing beliebt Die Hochschule für Technik und Wirtschaft Chur hat im Auftrag der Exportförderungs- Abb. 1: Unternehmen, die Swissness im Marketing verwenden Dienstleistungen HTW CHUR / DIE VOLKSWIRTSCHAFT Lebensmittel Industrieprodukte 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 In %   Ja          Nein  Anzahl befragte Unternehmen = 197 Abb. 2: Erfüllung der Swissness-Kriterien in der Industrie HTW CHUR / DIE VOLKSWIRTSCHAFT Herstellungskosten mind. 60 Prozent in der Schweiz wesentlicher Produktionsschritt in der Schweiz 0 10 20 30 40 In % 50 60 70 80 90 Swissness wird von den meisten Unternehmen verbal und bildhaft hergestellt: Der Begriff Schweiz erscheint im Namen oder in Slogans und wird durch die Abbildung des Schweizer Kreuzes oder durch Bilder, die einen Bezug zur Schweiz aufweisen, zusätzlich verstärkt. Die Möglichkeit zur Auszeichnung einzelner Wertaktivitäten als schweizerisch («designed in Switzerland» usw.) wird von den Firmen jedoch kaum genutzt. Lediglich 5 Prozent der Industrie- und 13 Prozent der Dienstleistungsunternehmen gaben an, eine solche Kennzeichnung zu verwenden. Mehr als jedes vierte Unternehmen verzichtet auf eine Herkunftsbezeichnung. Als Gründe dafür gaben die Befragten an, Swissness stelle keinen Mehrwert dar (15%) oder die Produkte würden nicht in der Schweiz hergestellt (31%). Zusätzlich zeigen die Analysen, dass der Bezug zur Schweiz für innovative Unternehmen eine signifikant kleinere Bedeutung aufweist und seltener verwendet wird als für weniger innovative Betriebe. Dies deckt sich mit dem Ergebnis einer Studie der Universität St. Gallen und des Beratungsunternehmens HTP zur Marke Schweiz, wonach das Land von Konsumenten bezüglich Technologie und Innovation nicht als führend wahrgenommen wird.7 Industrie- und Dienstleistungs­ unternehmen gut unterwegs Die Branchen sind unterschiedlich auf die Gesetzesänderung vorbereitet. In der Lebensmittelsparte erfüllen nur 17 Prozent der befragten Unternehmen die Anforderung, dass mindestens 80 Prozent der verwendeten Rohstoffe aus der Schweiz stammen. Das Kriterium, dass der wesentliche Produktionsschritt in der Schweiz stattfindet, halten dagegen fast alle (96%) ein. In der Industrie erfüllen 72 Prozent das Kriterium bezüglich der Herstellungskosten. Den Swissness-Vorschriften zur Produktion kommen 82 Prozent der befragten Industriefirmen nach (siehe Abbildung 2). Dabei zeigt sich: Kleine und mittlere Unternehmen erfüllen diese Vorgaben deutlich besser als Grossunternehmen. Dienstleistungsbetriebe scheinen den Anforderungen am besten zu genügen: 93 Prozent der befragten Dienstleister haben den Firmensitz und das Verwaltungszentrum in der Schweiz. Eine Mehrheit der befragten Firmen hat zwar eine Vorstellung davon, was An-   Ja          Nein  Anzahl befragte Unternehmen = 118 54  Die Volkswirtschaft  3 / 2016 7 Feige et al. (2013), S. 14. STANDORTFAKTOREN Abb. 3: Informationsstand der Unter­ nehmen bezüglich des Swissness-­ Gesetzes 2 % 19 % HTW CHUR / DIE VOLKSWIRTSCHAFT 31 % 48 %   sehr gut          gut           genügend          ungenügend  KEYSTONE Anzahl befragte Unternehmen = 182 Für die Lebensmittelbranche ist der Schweizbezug besonders wichtig. Toblerone-Fabrik in Bern. fang 2017 auf sie zukommt. Der Informationsstand könnte aber besser sein: Lediglich 2 Prozent der befragten Firmen geben an, sehr gut orientiert zu sein (siehe Abbildung 3). 46 Prozent der Unternehmen benötigen bei der Umsetzung Unterstützung. Dabei wünscht mehr als die Hälfte aller Befragten eine Beratung durch Experten, ein Fünftel bevorzugt einen vermehrten Austausch mit anderen Unternehmen innerhalb der gleichen Branche, 10 Prozent möchten eine Hotline, wo sie Fragen zum Swissness-Gesetz stellen können, und 2 Prozent erhoffen sich Musterdokumente, die ihnen bei der Analyse des Erfüllungsgrades des Swissness-Gesetzes helfen. Lebensmittelhersteller vor grossen Herausforderungen Insgesamt zeigt die Studie: Swissness hat für international tätige Schweizer Unternehmen eine grosse Bedeutung. In ausländischen Märkten scheint das positive Image der Schweiz die Wertschätzung der Produkte zu erhöhen. Einzig innovative und technologieorientierte Unternehmen vermögen weniger vom Schweizer Image zu profitieren, da die Schweiz im Vergleich zu anderen Industrieländern – trotz entgegengesetzten Experteneinschätzungen8 – von Konsumenten als weniger innovativ eingestuft wird. Der Grund dafür könnte darin liegen, dass innovative, forschungsintensive Schweizer Unternehmen beispielsweise aus der Pharmabranche ihre Schweizer Herkunft nicht betonen.9 Einschränkend muss jedoch angemerkt werden: Der Innovationsgrad wurde durch den Umsatzanteil von Produkten mit einer Lebensdauer von weniger als drei Jahren gemessen. Dieses Kriterium repräsentiert die Innovativität von Unternehmen in Branchen mit längeren Produktlebenszyklen nicht optimal. Die grösste Herausforderung aus der Swissness-Gesetzgebung scheint für die Hersteller von Lebensmitteln zu entstehen, da viele von ihnen die Rohstoffanforderungen des Gesetzes nicht erfüllen. Die Unternehmen müssen prüfen, inwieweit die Ausnahmeregelungen bezüglich der Herkunft von Rohstoffen für sie relevant sind und welche Anpassungen im Bereich der Beschaffung und Produktion nötig werden. 8 Schwab und Sala-i-Martin (2014). 9 Feige et al. (2013), S. 14. Angesichts der hohen Bedeutung der Herkunftsbezeichnung und des baldigen Inkrafttretens der Gesetzgebung ist der Informationsstand der international tätigen Schweizer Unternehmen relativ tief. Es scheint deshalb wichtig, dass die Unternehmen differenziert über die neue Gesetzgebung orientiert werden und Erfahrungen austauschen können. Nützlich wären zudem Instrumente zur Einschätzung des unternehmensspezifischen Erfüllungsgrades der neuen Gesetzgebung und Methoden zur Anpassung der Wertschöpfungskette im Sinne eines ökonomisch bewussten Entscheides für oder gegen Swissness. Ralph Lehmann Professor für International Business, Hochschule für Technik und Wirtschaft Chur Manuel Heinzle Master-Student Business Administration, Hochschule für Technik und Wirtschaft Chur Lukas Horrer Master-Student Business Administration, Hochschule für Technik und Wirtschaft Chur Kathrin Zogg Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Hochschule für Technik und Wirtschaft Chur Literatur Bruhn M., Schwarz J., Batt, V. (2011). Swissness als Erfolgsfaktor, in: Die Unternehmung, 2011 (2). Feige, S., Fischer, P., von Matt, D., Reinecke S. (2013). Swissness Worldwide 2013: Image und internationaler Mehrwert der Marke Schweiz, St. Gallen. Pharr J. (2005), Synthesizing Country of Origin Research from the Last Decade (2005). In: Journal of Marketing Theory and Practice, 2005 (Vol. 13, Issue 4). Schwab K., Sala-i-Martin X. (2014). The Global Competi­tiveness Report 2014 – 2015, Geneva. Die Volkswirtschaft  3 / 2016  55 FINANZMÄRKTE Die Kapitalmarktunion: Ein Paradigmenwechsel in der EU soll Wachstum bringen Mit der Integration der nationalen Kapitalmärkte will die EU den Grundstein für eine neue Wachstumspolitik legen. Für den Erfolg des Projekts braucht es allerdings den Willen zu Veränderung bei den politischen Institutionen und den Marktteilnehmern. Auch die Schweiz könnte von einem EU-Kapitalmarkt profitieren.   Aline Jörg, Lea Hungerbühler Abstract  Die Kapitalmärkte in den EU-Mitgliedstaaten sind stark fragmentiert und spielen bei der Unternehmensfinanzierung eine weit geringere Rolle als Bankkredite. Während der Finanz­ krise 2008 vermochten sie daher die rückläufigen Investitionen der Banken nicht zu kompensieren. Um das Wachstum zu fördern und dazu nötiges Kapital zu mobilisieren, lancierte die EU-Kommission das Vorhaben der Kapitalmarktunion. Tiefere, stärker integrierte Kapitalmärkte sollen die Bankenfinanzierung ergänzen und mehr Investitionen ermöglichen. Dadurch vergrössert sich das Angebot für Kreditsuchende, und Kreditklemmen wird entgegengewirkt. Anders als die regulatorische Erstreaktion auf die Finanzkrise strebt die Kapitalmarktunion die Eliminierung unnötiger regulatorischer Belastungen an.  Der Erfolg der Kapitalmarkt­ union hängt schliesslich entscheidend davon ab, ob das Projekt in den Mitgliedstaaten und bei Marktteilnehmern Anklang findet. Aufgrund der wirtschaftlichen Verflechtung ist anzunehmen, dass auch die Schweiz davon profitiert. D  ie Finanzkrise 2008 hat die EU mit voller Wucht erfasst. Das Wachstum wurde gebremst, die Stabilität des Bankwesens infrage gestellt, und die Finanzierung der Wirtschaft geriet ins Stocken. Die ersten gesetzgeberischen Reaktionen auf die Finanz- und Wirtschaftskrise fokussierten primär auf Systemstabilität und Anlegerschutz. Diese fanden ihren Ausdruck in zahlreichen neuen Regulierungen, so auch in der EU. Mitte 2014 legte die Kommission mit der Investitionsoffensive demgegenüber Massnahmen vor, welche nicht regulatorische Aktivitäten, sondern die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und des Wachstums in der EU zum Ziel haben. Teil dieses Massnahmenpakets ist die Kapitalmarktunion, welche eine Vertiefung und Integration der Kapitalmärkte in der EU anstrebt und so einen weiteren Schritt zur Vollendung der Wirtschaftsunion darstellt. Als Vorbild fungieren die USA: Der US-Kapitalmarkt ist trotz vergleichbarer Grösse der Volkswirtschaften rund doppelt so gross wie jener der EU. Während in der EU die Finanzierung von KMU heute zu 75 Prozent durch Bankkredite1 sicher­gestellt wird, ist die Kapitalmarkt­ finanzierung eher von untergeordneter Bedeutung.2 Dadurch entsteht eine hohe Abhängigkeit von Bankkrediten, was im Krisenfall zu Finanzierungsengpässen, sogenannten Kreditklemmen, führen kann. Um dem entgegenzuwirken, sollen die gegenwärtig unterentwickelten Märkte für Eigenkapital und Anleihen in der EU belebt werden. Angestrebt wird ein optimales Zusammenspiel von Bankfinanzierungen und einem starken, integrierten Kapitalmarkt. Dies soll Kapital mobilisieren sowie die ­Risiken auf verschiedene Träger verteilen und in Krisenzeiten helfen, das Risiko abzufedern. Dadurch sollen zukünftige Bankenkrisen in der EU keine derart massiven Auswirkungen mehr auf die Realwirtschaft zeitigen, und das Wachstum soll weder durch Kreditklemmen noch durch natio­ nale Grenzen im Kapitalmarkt eingeschränkt werden. 1 Siehe den Aktionsplan zur Schaffung einer Kapitalmarktunion vom 30. September 2015, S. 7. 2 Dabei gibt es grosse Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten. 56  Die Volkswirtschaft  3 / 2016 Kapitalmarktzugang für KMU fördern Im Herbst 2015 publizierte die Kommission einen Aktionsplan zur Kapitalmarktunion, welcher konkrete Massnahmen vorschlägt und Berichte sowie Konsultationen in Aus- sicht stellt. Da die KMU über die Hälfte der Wertschöpfung im EU-Raum erwirtschaften3 und Start-ups als Wachstums- und Innovationstreiber schlechthin gelten, legt der Plan einen besonderen Fokus auf die Finanzierung für Innovation, Start-ups und nicht börsennotierte Unternehmen. Die Anpassung verschiedener Verordnungen4 soll die grenzüberschreitende Finanzierung von KMU und Start-ups vereinfachen und so entsprechende Investitionen auch für private Sparer attraktiv machen. Weitere Massnahmen sieht die Kommission für kapitalsuchende Unternehmen vor, um den Gang an die Kapital­märkte zu erleichtern und die Abhängigkeit von Bankkrediten zu reduzieren. Neben hohen Notierungsgebühren von bis zu 15 Prozent des Emissionswertes halten momentan vor allem regulatorische Vorgaben die Unternehmen in der EU davon ab, sich über den Kapitalmarkt zu finanzieren.5 Durch niedrigere Anforderungen an die Prospekte, welche über Art und Risiko von Wertpapieren informieren, sollen KMU kostengünstigeren Zugang zum Kapitalmarkt erhalten. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Förderung langfristiger und nachhaltiger Investitionen, insbesondere Infrastrukturinvestitionen. Dafür plant die Kommission eine eigene Anlageklasse, bei welcher eine geringere Eigenkapitaldeckung für Versicherer zulässig sein soll. Zudem soll die im Dezember 2015 in Kraft getretene Verordnung über europäische langfristige Investmentfonds6 neue Möglichkeiten eröffnen, um grenzüber3 Europäische Kommission (2014). Annual Report on European SMEs 2014/2015, S. 10. 4 Verordnung (EU) Nr. 345/2013 vom 17. April 2013 über europäische Risikokapitalfonds (EuVECA); Verordnung (EU) Nr. 346/2013 vom 17. April 2013 über Europäische Fonds für soziales Unternehmertum (EuSEF). 5 European IPO Task Force, EU IPO Report, 23. März 2015, S. 30. 6 Verordnung (EU) 2015/760 vom 29. April 2015 über europäische langfristige Investmentfonds (ELTIF). FINANZMÄRKTE schreitend in Infrastrukturprojekte zu investieren. Zur Mobilisierung von Kapital möchte die Kommission die Anlagetätigkeit von Kleinanlegern und institutionellen Anlegern fördern. Besonders für Kleinanleger werden erhöhte Transparenz und besser verständliche Informationen über Investitionen an Kapitalmärkten angestrebt. Im Bereich der institutionellen Anleger sieht der Aktionsplan die Förderung von langfristigen Investitionen und KMU-Finanzierungen vor. Ausserdem sollen Onlinedienstleistungen zu einer zusätzlichen Kapitalmobilisierung führen. Die Kommission hat zu dieser Thematik Ende 2015 eine Konsultation eröffnet. Auch die Banken werden vom Aktionsplan erfasst. Der Kapitalmarkt soll zwar parallel zur Bankenfinanzierung gefördert werden, diesen aber nicht verdrängen. So setzt mehr Kapital bei den Unternehmen auch neue Kapazitäten für die Fremdkapitalfinanzierung frei, welche durch die Banken gewährt werden kann. Für die Kapitalmobilisierung soll zudem die Verbriefung als Risikotransferinstrument dienen: Standardisierte Verbriefungsprodukte sollen das Vertrauen der Investoren fördern, den Verwaltungsaufwand reduzieren und die Bankbilanzen entlasten. Auch eine Anpassung der Eigenkapitalanforderungen für Banken wird dafür diskutiert. Die Kapitalmärkte in den EU-Mitgliedstaaten sind heute weitgehend lokal ausgerichtet. Um grenzüberschreitende Investitionen anzukurbeln, soll dieser sogenannte Home Bias überwunden werden. Dazu überprüft die Kommission die Regulierungskonvergenz innerhalb der EU, schlägt Massnahmen zur Erhöhung der Rechtssicherheit bei grenzüberschreitenden Verbriefungsgeschäften und Forderungsabtretungen vor und erwägt Harmonisierungen im Steuer- und Insolvenzrecht. Im Steuerkontext wird in erster Linie die steuerliche Bevorzugung des Fremd­ kapitals gegenüber dem Eigen­kapital hin- KEYSTONE Investitionen ankurbeln Händler in Frankfurt: Unternehmen in der EU sollen sich einfacher Geld auf dem Kapitalmarkt beschaffen können. terfragt. Aufgrund der häufigen Doppelbesteuerung innerhalb der EU und der Schwierigkeiten bei der Rückforderung zieht die Kommission zudem Erleichterungen bei der Quellensteuer in Erwägung. Grössere Wahlmöglichkeit und mehr Wettbewerb Während die erste Reaktion der EU auf die Finanzkrise in einer eigentlichen Regulierungswelle resultierte, geht der Aktionsplan in die entgegengesetzte Richtung. So sieht dieser eine weitgehende Überprüfung der bereits erlassenen Rechtsakte auf Widersprüchlichkeiten und unnötige regulatorische Belastungen, die sich langfristig negativ auf Investitionen und Wachstum niederschlagen, vor. Der Aktionsplan umfasst die verschiedenen Wachstumsphasen eines Unternehmens: vom Start-up über die Expansionsphase bis hin zum etablierten Grossunternehmen. Dieser ganzhei­ tliche Ansatz scheint zielführend, da er den Investoren eine grosse Wahlmöglichkeit zwischen unterschiedlichen Risiko-­ Rendite-Konstellationen bietet. Auch die Marktintegration erweitert mittels grenz­ überschreitender Geschäfte das Anlagespektrum. Die Massnahmen vergrössern zudem das Angebot auf der Seite der Kapitalgeber, was mehr Wettbewerb unter diesen und damit tiefere Finanzierungspreise nach sich ziehen könnte. Eine grössere Auswahl auf beiden Marktseiten führt in einem funktionierenden Markt zu einer effizienteren Ressourcenallokation. Ausserdem verteilt die breitere Angebotspalette die Risiken auf verschiedene Schultern. Die Kapitalmarktunion birgt auch Risiken Diese Risikostreuung birgt aber auch Gefahren: Risiken werden nicht mehr lokal getragen – wo sie womöglich besser eingeschätzt werden können –, sondern über Auch die Schweiz kann profitieren Auch hierzulande hat der Kapitalmarkt eine geringere Bedeutung als die Bankenfinanzierung. Aufgrund der engen wirtschaftlichen Verflechtung zwischen der Schweiz und der EU ist anzunehmen, dass auch die Schweiz von einem vertieften EU-Kapitalmarkt profitieren wird. Kooperationen mit Drittstaaten sind im Aktionsplan nur am Rande erwähnt: Zur Stärkung der Integration der Kapitalmärkte soll die Kommission mit wichtigen Drittländern einen Rahmen für die regulatorische Zusammenarbeit im Bereich der Finanzdienstleistungen ausarbeiten.a Aufgrund der Globalität der Finanzmärkte ist ein Blick über die EU-Grenzen hinweg für den Erfolg der Kapitalmarkt­ union essenziell. Gerade die Schweiz als wichtiger Standort für Wealth- und Asset-Management hätte das Potenzial und die Mittel, um massgeblich zur Finan­zierung der europäischen Wirtschaft beizutragen. Die regulatorischen Entwicklungen in der EU werden von der Schweiz verfolgt, um allfälligen Handlungsbedarf zur Wahrung der Wettbewerbsfähigkeit oder zur Verbesserung der Marktzutrittsbedingungen rechtzeitig zu erkennen. a Aktionsplan zur Schaffung einer Kapitalmarktunion vom 30. September 2015, S. 31. Die Volkswirtschaft  3 / 2016  57 FINANZMÄRKTE den gesamten EU-Raum verteilt. Gleichzeitig bringt die zunehmende Vernetzung in Krisen eine erhöhte Ansteckungsgefahr mit sich. Bei der Förderung innovativer Finan­zierungsformen und den geplanten Massnahmen zur Erleichterung des Kapital­ marktzugangs durch eine Reduktion des Kosten- und Verwaltungsaufwands ist es von grosser Bedeutung, dass auch Aspekte des Anlegerschutzes Beachtung finden. Durch gewisse Vorhaben der Kommission ist eine Verschiebung typischer Banken­ tätigkeiten vom regulierten Banken- in den nicht regulierten Schattenbankenbereich möglich, womit systemische Gefahren und Anlegerschutzfragen verbunden sind. Ein weiteres Spannungsfeld betrifft die Eigenkapitalanforderungen von Banken und Versicherungen. So ist beim vorgesehenen Ausbau von Bankfinanzierungen und der Förderung von Infrastruktur­ finanzierungen durch Versicherungen den Bedenken hinsichtlich einer genügenden Eigenkapitalausstattung Rechnung zu tragen. Beim Verbriefungsmarkt ist schliesslich zu beachten, dass Verbriefungen je nach Ausgestaltung auch Gefahren mit sich bringen können, wie die Finanzkrise 2008 eindrücklich zeigte. Diese sind bei der Ausgestaltung der Regulierung nicht ausser Acht zu lassen – eine Vertiefung der Kapitalmärkte darf nicht über die Gefahr möglicher neuer systemischer Risiken hinwegtäuschen. Als grösste Hürde für einen einheitlichen Kapitalmarkt werden schliesslich regelmässig die nationalstaatlich geprägten Steuerregime angesehen.7 Wenngleich die Kommission diese Problematik erkannt hat, ist eine zeitnahe Verbesserung der Situation kaum möglich, da die Besteuerungskompetenz weiterhin bei den einzelnen Mitgliedstaaten liegt. Die Kommission kann somit lediglich Anregungen geben, deren Umsetzung liegt aber im Belieben der einzelnen Mitgliedstaaten. 7 CFA Institute, Capital Markets Union Survey Report, April 2014, S. 5 ff. 58  Die Volkswirtschaft  3 / 2016 Ob die Ausrichtung am Vorbild der USA mit einem international angelegten Kapital­markt zielführend ist, wird sich weisen müssen: So verfügen in der EU beispielsweise gegenwärtig die Banken vor Ort, nicht aber andere Kapitalgeber über die notwendige Expertise, um die Finanzierung lokaler KMU zu gewährleisten. Ausserdem gelten europäische Anleger als risikoaverser, wodurch eine Kopie des amerikanischen Kapitalmarktmodells nur in beschränktem Masse als aussichtsreich erscheint. Der Erfolg hängt von den Akteuren ab Zusammengefasst stellt die Kapitalmarkt­ union einen Paradigmenwechsel in der EU-Finanzmarktregulierung dar, wenngleich kritisiert wird, dass das Bestreben noch zu wenig konkrete Aktionen vorsehe. Der Hauptfokus wechselt von weitgreifenden Regulierungen in den Bereichen Anlegerschutz und Systemstabilität hin zu einem Integrationsprojekt, bei welchem das Wirtschaftswachstum im Vordergrund steht. Die Balance zwischen diesen sich teilweise widersprechenden, teilweise aber auch ergänzenden Zielen zu finden, wird für die EU eine grosse Herausforderung sein. Die Komplementarität des Kapitalmarktes zur Bankenfinanzierung sollte als Chance wahrgenommen werden, ohne aber dazu zu führen, dass Banktätigkeiten in hohem Ausmass in den nicht regulierten Schattenbankenbereich verschoben werden. Eine Vereinheitlichung und Vertiefung des Kapitalmarktes dürfte sich als schwierig erweisen, wenn zentrale Aspekte wie das Steuer- und Konkursrecht nicht in der ganzen EU harmonisiert werden können. Damit wird der Erfolg der Kapitalmarktunion zu einem beträchtlichen Teil von den Harmonisierungsmöglichkeiten im national geprägten Wirtschaftsrecht und der Bereitschaft der EU-Mitgliedstaaten zu entsprechenden Anpassungen abhängen. Zudem wird das Verhalten der Marktteil- nehmer ein wichtiger Erfolgsfaktor sein, um beispielsweise das Vertrauen der Anleger wiederherzustellen. Die Kapitalmarktunion ist ein langfristiges Vorhaben mit einer Vielzahl involvierter Akteure, deren Massnahmen noch nicht vollends feststehen, sondern in der Entwicklung begriffen sind. Der Erfolg der Kapitalmarktunion wird sich dann einstellen, wenn es gelingt, sämtliche EU-Mitglieder sowie die wichtigen Partnerstaaten und Finanzmarktakteure in den Prozess mit einzubeziehen und das richtige Gleichgewicht zwischen Banken- und Kapitalmarktfinanzierung sowie zwischen Anlegerschutz und administrativen Erleichterungen zu finden. Wenngleich eine abschliessende Prognose, ob die Kapitalmarktunion tatsächlich zu einer Steigerung von Investitionen und Wachstum führen wird, zum jetzigen Zeitpunkt kaum möglich ist, kann das Projekt als zielgerichteter Ansatz gewertet werden, um europaweit einen integrierten, tieferen ­Finanzmarkt hervorzubringen. Aline Jörg Sektion Finanzmarktbeziehungen, Staatssekretariat für internationale Finanzfragen (SIF), Bern Lea Hungerbühler Sektion Finanzmarktbeziehungen, Staatssekretariat für internationale Finanzfragen (SIF), Bern Mit Kontrollen zur Lohngleichheit Die in der Verfassung festgeschriebene Lohngleichheit zwischen Mann und Frau ist in der Schweiz nicht immer gewährleistet. So sind gemäss dem Bundesamt für Statistik rund 40 Prozent der Lohndifferenz zwischen Frauen und Männern nicht durch Faktoren wie etwa Alter oder Ausbildung erklärbar. Nachdem der freiwillige Lohngleichheitsdialog nicht die gewünschte Resonanz gezeigt hat, geht der Bundesrat im Entwurf zur Änderung des Gleichstellungsgesetzes deshalb einen Schritt weiter: Er will grosse Unternehmen mit mehr als 50 Mitarbeitenden gesetzlich dazu verpflichten, regelmässig die Lohngleichheit im Betrieb zu analysieren. Doch wie lässt sich Lohndiskriminierung feststellen? Und wie muss die Regulierung aus betrieblicher und volkswirtschaftlicher Perspektive beurteilt werden? Die Studien im Dossier geben Antworten auf diese Fragen. Sie zeigen auch, dass viele Unternehmen Lohnanalysen als grundsätzlich sinnvoll beurteilen. CORBIS DOSSIER LOHNGLEICHHEIT Ein neuer Anlauf zur Herstellung der Lohngleichheit Die bisherigen Versuche, die Lohngleichheit zwischen den Geschlechtern herzustellen, blieben erfolglos. Der Entwurf zur Änderung des Gleichstellungsgesetzes sieht nun für grössere Unternehmen verbindliche Lohnanalysen vor. Doch bei der Umsetzung lässt der Bundesrat den Unternehmen viele Freiheiten.   Marc Schinzel eit 1981 hält die Bundesverfassung fest, dass Mann und Frau für gleichwertige Arbeit gleich zu entlöhnen sind.1 Am 1. Juli 1996 trat zudem das Bundesgesetz über die Gleichstellung von Frau und Mann (Gleichstellungsgesetz, GlG) in Kraft. Dieses untersagt geschlechterbezogene Diskriminierungen im Erwerbsleben, insbesondere bei den Löhnen. 2006 wurde das Gleichstellungsgesetz evaluiert. Es zeigte sich, dass die Lohngleichheitsklagen zwar deutlich zugenommen hatten.2 Trotzdem hielten die Angst vor Arbeitsplatzverlust und die schwierige Informationsbeschaffung aber noch immer viele Arbeitnehmende davon ab, sich gegen vermutete Lohndiskriminierungen zur Wehr zu setzen. Der Bundesrat hielt deshalb fest, dass sich die Gleichstellung im Erwerbsleben mit dem geltenden Gesetz nicht erreichen lässt.3 2009 lancierten die Sozialpartner mithilfe des Bundes das Projekt «Lohngleichheitsdialog». Mittels freiwilliger Lohnanalysen sollte die Lohndiskriminierung von Frauen in ihren Unternehmen möglichst rasch beseitigt werden. Der freiwillige Ansatz war indes nicht erfolgreich: Mit 51 Unternehmen blieb die Teilnahme hinter den Erwartungen von mindestens 100 Unternehmen deutlich zurück. Fast die Hälfte der Teilnehmer waren überdies staatliche oder staatsnahe Betriebe. Die Projektevaluation ergab, dass der freiwillige Lohngleichheitsdialog zur Verwirklichung der Lohngleichheit nicht genügte.4 Als Reaktion darauf beschloss der Bundesrat im Oktober 2014, mit zusätzlichen staatlichen Mitteln für eine Verwirkli1 Siehe Artikel 8, Absatz 3 der Bundesverfassung. 2 Vor Inkrafttreten des Gleichstellungsgesetzes gab es auf der Basis des Lohngleichheitsartikels in der Bundesverfassung etwa 15 Lohngleichheitsklagen, in den ersten zehn Jahren des Gleichstellungsgesetzes dagegen 153 Gerichtsentscheide zur Lohngleichheit. 3 Bericht des Bundesrates vom 15.02.2006 über die Evaluation der Wirksamkeit des Gleichstellungsge­ setzes: Abrufbar unter www.admin.ch. 4 Der Lohngleichheitsdialog. Ein Projekt der Sozialpartner und des Bundes. Bericht vom 30.06.2014 zuhanden der Trägerschaft des Lohngleichheitsdialogs. Abrufbar unter www.bj.admin.ch. 60  Die Volkswirtschaft  3 / 2016 KEYSTONE S  Der Bundesrat will Lohnkontrollen für Unternehmen mit mehr als 50 Mitarbeitern einführen. Davon wäre beispielsweise auch die Post betroffen. chung der Lohngleichheit zwischen Frau und Mann zu sorgen. Denn auch über dreissig Jahre nach der Einführung des Verfassungsanspruchs auf gleiche Entlöhnung zeigt die Lohnstrukturerhebung 2012 des Bundesamtes für Statistik deutlich tiefere Frauenlöhne: So liegen die Löhne von Frauen in der Privatwirtschaft durchschnittlich um 21,3 Prozent und im öffentlichen Sektor um 16,5 Prozent tiefer. Von dieser Lohndifferenz sind in der Privatwirtschaft 40,9 Prozent nicht erklärbar.5 Diese potenzielle Lohndiskriminierung entspricht rund 8,7 Prozent oder 678 Franken eines durchschnittlichen Männerlohns. 5 Als objektive Gründe für Lohnunterschiede gelten persönliche Merkmale wie Alter, Ausbildung und Dienstjahre oder mit der Art der Arbeitsstelle im Unternehmen und der ausgeübten Tätigkeit zusammenhängende Kriterien. Lohnanalysen sollen zur Pflicht werden Der im November 2015 vom Bundesrat in die Vernehmlassung geschickte Entwurf zur Änderung des Gleichstellungsgesetzes (VE GlG) setzt weiterhin auf eine möglichst grosse Eigenverantwortung der Unternehmen. Das Kernelement des Entwurfs ist die Pflicht von Arbeitgebern6, alle vier Jahre eine Lohnanalyse durchzuführen. Diese Pflicht gilt aber nur für Unternehmen mit 50 oder mehr Mitarbeitenden und mit mindestens 10 Beschäftigten beider Geschlechter. Diese Kriterien dienen dazu, statistisch relevante Ergebnisse aus der Lohngleichheitsanalyse zu erhalten. Sie entsprechen dem Standard-Analysemodell des Bundes und der auf dieser Grundlage entwickelten Datenanalysesoftware namens Logib, welche der Bund den Unternehmen für die Lohn6 Aus Gründen der einfacheren Lesbarkeit wird im Folgenden für beide Geschlechter die männliche Form verwendet. DOSSIER analyse gratis zur Verfügung stellt. Auch wenn sich die Pflicht zur Lohnanalyse nicht auf sie erstreckt, müssen auch Arbeitgeber mit weniger als 50 Mitarbeitenden die Lohngleichheit einhalten. Gemäss Entwurf sind nur anerkannte Analysemethoden zugelassen. Der Bundesrat legt nach Anhörung der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände die Anerkennungskriterien für diese Analysemethoden fest und veröffentlicht diese in einer Liste. So wird garantiert, dass die zugelassenen Methoden wissenschaftlichen Ansprüchen genügen. Viele Freiheiten bei der Prüfung Dem Obligationenrecht unterstehende Arbeitgeber, die zur Analyse ihrer Löhne verpflichtet sind, müssen diese von einer externen Kontrollstelle überprüfen lassen. Bei öffentlich-rechtlichen Arbeitgebern geht man davon aus, dass diese Prüfung intern stattfindet. Wichtig dabei ist: Die Kontrollstellen überprüfen nicht das Ergebnis der Lohnanalyse, sondern nur, ob diese richtig durchgeführt wurde, was den Zeitraum der Analyse, die Methode und die Erfassung aller Arbeitnehmenden angeht. Als externe Kontrollstellen kommen wahlweise Revisionsunternehmen mit einer Zulassung nach dem Revisionsaufsichtsgesetz oder anerkannte Selbstregulierungsorganisationen (SRO) infrage. Denkbar sind SRO für einzelne oder mehrere Unternehmen oder für eine ganze Branche. Damit sie anerkannt werden können, müssen sie jedoch gewisse Anforde- rungen erfüllen: So müssen sie etwa über ein Reglement verfügen und eine einwandfreie Kontrolltätigkeit gewährleisten können. Mit einem Bericht informieren die Kontrollstellen die Führung des kon­ trollierten Unternehmens darüber, ob die Lohnanalyse korrekt durchgeführt wurde. Wichtig ist daher, dass die SRO von den zu kontrollierenden Unternehmen unabhängig sind. Die Arbeitgeber haben alternativ auch die Möglichkeit, für beides – die Lohn­ analyse und deren Kontrolle – eine externe Organisation beizuziehen. Dies kann eine betriebsinterne Arbeitnehmervertretung, eine Gewerkschaft oder eine Frauen­ organisation sein, welche gemäss ihren Sta­tuten die Gleichstellung von Frau und Mann fördert. Die Unternehmen vereinbaren mit diesen Organisationen, wie die Lohnanalyse durchgeführt werden soll. Das den Frauen­ organisationen und Gewerkschaften zustehende Klagerecht wird aber nicht eingeschränkt, es sei denn, es wird zwischen dem Arbeitgeber und der Organisation ausdrücklich so vereinbart. Für den Fall, dass die Lohnanalyse oder die Lohnkontrolle unterlassen wird, stellt der Gesetzesentwurf eine Variante zur Diskussion, die zusätzliche Rechtsfolgen vorsieht: So sollen die Kontrollstellen der zuständigen Behörde7 Meldung erstatten, wenn innert Frist keine Lohn­analyse oder keine externe Kontrolle durchgeführt wurde. Die Behörde trägt säumige Arbeitgeber, die gemeldet wurden oder von denen sie auf anderem Weg Kenntnis erhielt, in eine öffentlich zugängliche Liste ein. Betroffene Arbeitgeber können eine beschwerdefähige Verfügung verlangen. Sind sie der Ansicht, die Voraussetzungen für einen Eintrag seien entfallen, können sie gestützt auf das Verwaltungsverfahrensgesetz jederzeit dessen Aufhebung verlangen. Die Vernehmlassung läuft noch bis Anfang März. Gestützt auf die Ergebnisse wird der Bundesrat über die Änderung zum Gleichstellungsgesetz befinden.  7 Die zuständige Behörde wäre voraussichtlich das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG). Eine öffentliche Liste als Möglichkeit Um ihre Mitarbeitenden über das Ergebnis der Kontrolle zu informieren, haben die Arbeitgeber Zeit bis maximal ein Jahr nach Empfang des Kontrollberichts. An der Börse kotierte Gesellschaften informieren im Anhang zur Bilanz. In anderen Fällen kann die Information zum Beispiel mit einem Rundschreiben erfolgen. Marc Schinzel Dr. iur., wissenschaftlicher Mitarbeiter Öffentliches Recht, Bundesamt für Justiz (BJ), Bern Die Mehrheit der Unternehmen begrüsst Lohngleichheitsanalysen Mit der Änderung des Gleichstellungsgesetzes plant der Bundesrat Lohngleichheitsanalysen einzuführen. Viele Unternehmen sprechen sich dafür aus. Auch aus gesamtwirtschaft­licher Perspektive scheint die Massnahme sinnvoll.   Susanne Stern, Judith Trageser N  ach dem Scheitern des freiwilligen Lohngleichheitsdialogs möchte der Bundesrat die Lohngleichheit zwischen Frauen und Männern mit zusätzlichen Massnahmen auf Gesetzesstufe durchsetzen. So ist in der Vorlage zur Änderung des Gleichstellungsgesetzes etwa vorgesehen, dass Unternehmen mit mehr als 50 Mitarbeitenden in regelmässigen Abständen eine Lohngleichheitsanalyse durchführen müssen, um die Lohngleichheit zwischen Männern und Frauen zu untersuchen. Zudem müssen die Unternehmen eine unabhängige Prüfstelle beauftragen, um die durchgeführ- te Lohngleichheitsanalyse zu kontrollieren, und im Anschluss die Mitarbeitenden über das Ergebnis informieren. Für die Durchführung der Lohngleichheitsanalyse stellt der Bund den Unternehmen kostenlos das Analyseinstrument Logib zur Verfügung. Logib vergleicht die Die Volkswirtschaft  3 / 2016  61 LOHNGLEICHHEIT Lob und Kritik an Logib Die Hauptstossrichtung der geplanten staatlichen Massnahmen besteht darin, dass Unternehmen mit 50 oder mehr Mitarbeitenden verpflichtet werden, periodisch eine betriebsinterne Lohnanalyse durchzuführen und diese durch Dritte kontrollieren zu lassen. Gemäss unseren Befragungen finden rund zwei Drittel der befragten Unternehmen die geplanten Massnahmen grundsätzlich sinnvoll (siehe Abbildung 1). Die grössten Bedenken der Unternehmen betreffen den erwarteten administrativen Mehraufwand. Auch das vom Bund bereitgestellte Analysetool Logib wird von den befragten Unternehmen in der Mehrheit positiv beurteilt (siehe Abbildung 2). Geschätzt wird vor allem die Einfachheit des Instruments. Es gibt jedoch auch Kritik an Logib, insbesondere in Bezug auf die grobe Abbildung von Funktionsstufen. Weiter wird kritisiert, dass die Leistung oder Per­formance der Mitarbeitenden in der Analyse nicht berücksichtigt wird. Viele befragte Experten1 würden es deshalb begrüssen, wenn neben Logib auch andere Analysemethoden zugelassen würden, wie es die Vorlage nun auch vorsieht. Abb. 1: So beurteilen Unternehmen Lohngleichheitsanalysen In % STERN ET AL. (2015) / DIE VOLKSWIRTSCHAFT mittlere Unternehmen (50–249 Mitarbeitende) grosse Unternehmen (250–999 Mitarbeitende) sehr grosse Unternehmen (>=1000 Mitarbeitende) 0 10 30 40 50 60 70 80 90 100 Anteil Unternehmen   sehr sinnvoll           eher sinnvoll           weniger sinnvoll           überhaupt nicht sinnvoll           weiss nicht In der Onlinebefragung wurden Unternehmen, die noch keine Lohngleichheitsanalyse durchgeführt haben, gefragt: «Finden Sie eine Analyse der Lohnpraxis in Bezug auf die Gleichstellung von Frauen und Männern sinnvoll?» (Anzahl befragte Unternehmen=954, davon 732 mittlere, 191 grosse und 31 sehr grosse Unternehmen). Abb. 2: So beurteilen Unternehmen das Standardinstrument für Lohngleichheitsanalysen (LGA) Logib Unternehmen ohne Erfahrung LGA In % Unternehmen mit Erfahrung LGA 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 70 80 90 100 Anteil Unternehmen mittlere Unternehmen (50–249 Mitarbeitende) In % In % grosse Unternehmen (250–999 Mitarbeitende) sehr grosse Unternehmen (>=1000 Mitarbeitende) 0 Zwei bis acht Tage zusätzlicher Aufwand 20 STERN ET AL. (2015) / DIE VOLKSWIRTSCHAFT Löhne von Frauen und Männern mit gleichen Voraussetzungen mittels statis­ tischer Regression und zeigt, ob es im Unternehmen unerklärte Lohnunterschiede gibt. Gemäss Vorlage können auch andere anerkannte Analysemethoden verwendet werden. Im Auftrag des Bundesamtes für Justiz hat das Beratungsunternehmen Infras eine Regulierungsfolgeabschätzung durchgeführt (siehe Kasten). Das Ziel war es, die Auswirkungen der geplanten staatlichen Massnahmen auf die Unternehmen und die Volkswirtschaft sowie auf die Verringerung der Lohndiskriminierung abschätzen zu können und mögliche Optimierungsmöglichkeiten zu liefern. 10 20 30 40 50 60 Anteil Unternehmen   sehr geeignet           eher geeignet           weniger geeignet           überhaupt nicht geeignet           weiss nicht Mittlere Unternehmen mit 50 bis 249 Mitarbeitern, welche Erfahrung mit Logib haben, schätzen den Durchführungsaufwand auf 2 Tage. Grosse Unternehmen mit 250 bis 999 Mitarbeitern rechnen dafür In der Onlinebefragung wurden die Unternehmen gefragt: «Ein Teil der Lohndifferenzen zwischen Frauen und Männern kann durch verschiedene Faktoren erklärt werden. Im Fall des Standard-Analysemodells werden die folgenden Faktoren berücksichtigt, um Lohndifferenzen zu erklären: Ausbildungsniveau, potenzielle Erwerbserfahrung (d. h. ohne evtl. Erwerbsunterbrüche), Dienstalter, Anforderungsniveau der ausgeübten beruflichen Tätigkeit, berufliche Stellung: Als wie geeignet beurteilen Sie dieses Modell, um nicht gerechtfertigte Lohnungleichheiten zwischen Frauen und Männern im Unternehmen aufzudecken?» 1 Aus Gründen der einfacheren Lesbarkeit wird im Folgenden für beide Geschlechter die männliche Form verwendet. Auswertung nach Erfahrung Lohngleichheitsanalysen: (Anzahl befragte Unternehmen= 1082 Unternehmen, davon 731 ohne Erfahrung und 351 mit Erfahrung). Auswertung nach Grösse des Unternehmens: (Anzahl befragte Unternehmen= 1300 Unternehmen, davon 911 mittlere, 301 grosse und 88 sehr grosse Unternehmen). 62  Die Volkswirtschaft  3 / 2016 KEYSTONE DOSSIER Studien zufolge wirkt sich die Lohngleichheit zwischen Männern und Frauen positiv auf die Wohlfahrt und das Wirtschaftswachstum aus. mit 3 Tagen und sehr grosse Unternehmen mit über 1000 Mitarbeitern mit einem Arbeitsaufwand von 8 Tagen. Insgesamt belaufen sich die Umsetzungskosten für alle Schweizer Unternehmen mit mehr als 50 Mitarbeitenden bei der ersten Durchführung auf rund 18 Millionen Franken. Die Höhe des Aufwands hängt stark von den Voraussetzungen in den Unternehmen ab, beispielsweise ob sie über eine ausformulierte Lohnpolitik verfügen und in welchem Umfang und welcher Qualität sie ihre Personaldaten erfassen. Der grösste Aufwand entsteht bei der Datenaufbereitung und der Interpretation der Ergebnisse der Lohngleichheitsanalyse mit Logib. Bei einer wiederholten Durchführung – z. B. alle vier Jahre – dürfte sich der Aufwand um rund die Hälfte auf 9 Millionen Franken pro Durchführung reduzieren. Für die Überprüfung der Lohngleichheitsanalysen entsteht bei den Prüfstellen ein weiterer Aufwand von circa einem halben bis einem ganzen Arbeitstag pro geprüftem Unternehmen. Insgesamt belaufen sich die Kosten der Prüfstellen auf rund 4 Millionen Franken pro Durchführung. Der mit der Gesetzesvorlage verbundene Aufwand der Behörden hängt stark von der Ausgestaltung des Zulassungsverfahrens für die Prüfstellen ab und konnte deshalb im Rahmen dieser Regulierungsfolgenabschätzung nicht quantitativ abgeschätzt werden. Die Hälfte der Unternehmen passt Frauenlöhne an Die geplanten Massnahmen würden rund 2 Prozent der Unternehmen und 54 Prozent der Beschäftigten in der Schweiz betreffen. Bei den befragten Unternehmen, welche bereits auf freiwilliger Basis eine Lohngleichheitsanalyse durchgeführt haben, hat die Hälfte in der Folge die Löhne der Frauen angepasst. Gemäss einer sehr groben Schätzung dürfte sich der Umfang der Lohnanpassungen bei Frauen mittelfristig auf 1 Milliarde Franken belaufen.2 Grundlage der Schätzung bilden die von Donzé (2013) im Auftrag des Bundesamts für Statistik berechneten nicht erklärten Lohnunterschiede je Wirtschaftsbranche. Gemäss dieser Studie beträgt der nicht erklärte Anteil der Lohndifferenz zwischen Männern und Frauen in der gesamten Privatwirtschaft rund 8,7 Prozent. Bei diesem Anteil besteht der 2 Die Schätzung geht von einer heute geltenden Toleranzschwelle von 5 Prozent nicht erklärter Lohnungleichheit aus. Forschungsdesign Das Beratungsunternehmen Infras hat die vorliegende Regulierungsfolgenabschätzung (RFA) im Auftrag des Bundesamts für Justiz durchgeführt (siehe Stern et al. 2015). Die Fachhochschule Nordwestschweiz hat Infras dabei mit Koreferaten und Fachinputs unterstützt. Methodisch basiert die RFA auf einem Mix aus unterschiedlichen Forschungsmethoden. Den Schwerpunkt bildeten eine Onlinebefragung und qualitative Interviews. Insgesamt haben 1305 Unternehmen die Onlineumfrage beantwortet, und es wurden 50 qualitative Interviews mit Unternehmen sowie weitere 26 qualitative Interviews mit Experten geführt. Die Befragungen wurden durch Literatur- und Datenanalysen ergänzt. Verdacht, dass es sich um unbegründete Lohndiskriminierung handelt.3 Volkswirtschaftlich gesehen handelt es sich bei diesen Lohnanpassungen nicht um eigentliche Regulierungskosten, sondern um einen Umverteilungseffekt zugunsten der Frauenlöhne. Kurzfristig kann es Übergangskosten geben, falls die Unternehmen grössere Lohnanpassungen innerhalb einer kurzen Frist umsetzen müssen. Dies kann aber abgemildert werden, indem den Unternehmen genügend Zeit für die Anpassungen eingeräumt wird. Die nötigen 3 Siehe auch Infras und Universität St. Gallen (2015). Die Volkswirtschaft  3 / 2016  63 LOHNGLEICHHEIT Lohn­anpassungen sind laut den befragten Unternehmen und Experten in der Regel im Rahmen der normalen Lohnrunden umsetzbar. Bei grösseren Anpassungen braucht es laut Experten eine längere Umsetzungsfrist. Unternehmen, die bereits Lohngleichheitsanalysen durchgeführt haben, berichten mehrheitlich von positiven Auswirkungen. So kann eine Lohngleichheitsanalyse die Diskussion über Löhne versachlichen und diesbezüglich mehr Transparenz schaffen. Sie fördert auch die Motivation, die Zufriedenheit und die Produktivität der Beschäftigten. Unternehmen, die ihren Verpflichtungen nicht nachkommen, können potenziell auch negative Folgen der geplanten Massnahmen zu spüren bekommen, indem sie z. B. vom öffentlichen Beschaffungswesen ausgeschlossen werden. Zur Förderung der Erwerbstätigkeit von Frauen nicht ausreichend Auch aus einer gesamtwirtschaftlichen Perspektive scheinen die geplanten Massnahmen sinnvoll. Laut empirischen Studien aus anderen Ländern dürfte sich die Lohngleichheit positiv auf Wohlfahrt und Wirtschaftswachstum auswirken. Dies in erster Linie über Produktivitätseffekte und vermiedene Wettbewerbsverzerrungen. Bezüglich der gesamtwirtschaftlichen Nettobeschäftigungswirkung einer durchgesetzten Lohngleichheit sind die empirischen Ergebnisse hingegen nicht einheitlich. Es gibt sowohl Studien, die positive, wie auch solche, die negative Wirkungen auf die Erwerbsbeteiligung von Frauen zeigen. Strukturelle Rahmenbedingungen, wie die Verfügbarkeit von bezahlbaren und quali­ tativ guten Kinderbetreuungsangeboten, dürften einen weit stärkeren Einfluss auf die Erwerbsbeteiligung von Frauen haben als die Verminderung der Lohndiskriminierung. Lohndiskriminierung ist in der ökonomischen Perspektive eine Folge von Marktversagen, das dazu führt, dass der Produktionsfaktor Arbeit nicht effizient eingesetzt wird. Studien auf internationaler Ebene weisen darauf hin, dass die mit Lohndiskriminierung verbundenen Wohlfahrtsverluste quanti­ tativ bedeutend sein dürften. Es ist deshalb aus ökonomischer Sicht sinnvoll, wenn dieses Marktversagen durch eine geeignete Regulierung so weit wie möglich verhindert wird. Dabei ist es wichtig, eine möglichst schlanke und wirksame Regulierung umzusetzen, damit die erzielbaren Nettowohlfahrtseffekte auch tatsächlich positiv sind. Unternehmen brauchen genügend Spielraum Aus unserer Sicht scheint es besonders wichtig, den Unternehmen genügend grossen Spielraum zu lassen und nicht zu starre Vorgaben zu machen. Die Unternehmen praktizieren in der Regel nicht bewusst direkte Lohndiskriminierungen. Diese erfolgen eher auf unbewusste und indirekte Weise. Es dürfte deshalb bereits ein grosser Schritt in die richtige Richtung bedeuten, wenn sich die Unternehmen mit dem Thema Lohngleichheit vertieft ausei­ nandersetzen und ihre Lohnsysteme kri- tisch unter die Lupe nehmen. Dies kann erreicht werden, indem die Unternehmen aus verschiedenen Analysemethoden auswählen können und in ihren Bemühungen möglichst gut unterstützt werden. Susanne Stern Partnerin Bereichsleiterin Familien- und Gleich­s tellungspolitik, Infras, Zürich Judith Trageser PartnerinBereichsleiterin Sozial- und ­Gesundheitspolitik, Infras, Zürich Literatur Donzé L. (2013). Analyse des salaires des femmes et des hommes sur la base des enquêtes sur la structure des salaires 2008 et 2010, Fribourg. Stern, S.; J. Trageser; A. Schultheiss; B. Ruegge und R. Iten (Infras) (2015). Regulierungsfolgenabschätzung zu den geplanten Massnahmen zur Durchsetzung der Lohngleichheit. Mit einem Koreferat von N. Amstutz und E. Lüthi (Fachhochschule Nordwestschweiz). Im Auftrag des Bundesamts für Justiz. Zürich. Felfe, C.; J. Trageser und R. Iten (Infras und Universität St. Gallen) (2015). Studie zu den statistischen Analysen der Eidgenossenschaft betreffend die Lohngleichheit von Frau und Mann. Im Auftrag des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann. Zürich. Die Messmethoden des Bundes zur Lohngleichheit sind aussagekräftig Wissenschaftlich, rechtskonform und verhältnismässig – laut dem Bundesrat erfüllen die Messmethoden des Bundes zur Lohngleichheit diese Ziele. Einzig für die nationale Statistik sollen weitere Modelle und Erklärungsfaktoren geprüft werden.   Oliver Schröter, Claudio Marti Whitebread D  ie Messung von geschlechtsspezifischer Lohngleichheit ist momentan ein stark diskutiertes Thema. 2014 reichte der damalige FDP-Nationalrat und heutige Ständerat Ruedi Noser ein Postulat1 zur Erhebung 1 Postulat 14.3388 «Erhebung zur Lohngleichheit. Verbesserung der Aussagekraft» vom Juni 2014. 64  Die Volkswirtschaft  3 / 2016 der Lohngleichheit und zur Verbesserung der Aussagekraft ein. Damit beauftragte der Nationalrat den Bundesrat, die Analyse zur Lohndiskriminierung des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) zu überprüfen und Bericht zu erstatten. Gemäss dem Postulat Noser sollte die bisherige Methodik aufgezeigt und auf den neuesten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse aktualisiert werden. In diesem Rahmen sollten zwei Punkte geprüft werden: zum einen die Aufnahme zusätzlicher Faktoren zur Erklärung von Lohnunterschieden, wie Berufs- oder Führungserfahrung, DOSSIER Weiter­bildungen, Sprachkenntnisse und der Beschäftigungsgrad in der Berufskarriere; zum anderen soll überprüft werden, ob der aktuell verwendete Mittelwert als Referenz für die Ermittlung der Lohnunterschiede tatsächlich am geeignetsten ist. (EBG) auf betrieblicher Ebene für Lohngleichheitskontrollen im Beschaffungswesen angewendet.3 –– Eine repräsentative Umfrage zum EBG-Analysemodell bei den Unternehmen.4 Sind die Analysemodelle noch aktuell? Hinsichtlich der beiden Analysemodelle sollte die Studie überprüfen, ob diese aus wissenschaftlicher Sicht und mit Blick auf den administrativen Aufwand für die Unternehmen und die Verwaltung geeignet sind, um Lohnunterschiede auf nationaler Ebene zu erklären bzw. Lohndiskriminierungen auf betrieblicher Ebene festzustellen. Dazu wurden die verwendete statistische Methode, die Faktoren, die zur Erklärung oder Rechtfertigung von Lohnunterschieden zwischen Frauen und Männern in die Analysen einbezogen werden, sowie die beim EBG-Analysemodell angewendete Toleranzschwelle von fünf Prozent untersucht.5 Das EBG beauftragte in diesem Zusammenhang das Schweizer Institut für Empirische Wirtschaftsforschung der Universität St. Gallen, gemeinsam mit dem Beratungsbüro Infras eine unabhängige Expertenstudie2 zu erstellen. Im Fokus standen drei zentrale Punkte: –– BFS-Analysemodell: Das «Analysemodell der nationalen Statistik» des Bundesamtes für Statistik (BFS). Dieses Modell wird verwendet, um mit Daten der Lohnstrukturerhebung (LSE) eine Spezialauswertung zur Lohngleichheit auf nationaler Ebene zu erstellen. –– EBG-Analysemodell: Das «Standard-Analysemodell des Bundes», das vom Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann Zwei Modelle – zwei Zielsetzungen Die zwei in der Studie untersuchten Analysemodelle unterscheiden sich in zahlreichen Aspekten deutlich (siehe Tabelle). Hervorzuheben sind hierbei insbesondere die unterschiedlichen Analyseebenen und Zielsetzungen. Das BFS-Analysemodell für die Spezial­ auswertung «Lohngleichheit» der LSE analy­siert Daten auf nationaler Ebene und zeigt, auf welche Faktoren Lohnunterschiede in welchem Ausmass zurückgeführt werden können. Im Rahmen einer sogenannten Dekompositionsanalyse werden ein durch eine Vielzahl an kontrollierten Einflussfaktoren erklärter sowie ein un- KEYSTONE 2 Aus Gründen der einfacheren Lesbarkeit wird im Folgenden für beide Geschlechter die männliche Form verwendet. 3 Siehe Schröter und Marti Whitebread (2016). 4 Siehe dazu den Artikel von Stern und Trageser in dieser Ausgabe. 5 Auch objektive, diskriminierungsfreie Faktoren, die im Analysemodell nicht berücksichtigt werden, können sich auf den Lohn auswirken. Systematische Lohndiskriminierung wird deshalb nur dann vermutet, wenn die ermittelte geschlechtsspezifische Lohnungleichheit statistisch signifikant über fünf Prozent liegt. Zusätzliche Relevanz erlangen Lohn­ ungleichheiten und Lohndiskriminierung auch in anderer Hinsicht: Der Bundesrat eröffnete am 18. November 2015 die Vernehmlassung zur Änderung des Bundesgesetzes über die Gleichstellung von Frau und Mann, des sogenannten Gleichstellungsgesetzes. Gemäss diesem Entwurf sollen Arbeitgebende mit 50 oder mehr Mitarbeitenden gesetzlich dazu verpflichtet werden, in ihren Unternehmen alle vier Jahre eine Lohnanalyse durchzuführen. Trägt auch die Berufserfahrung zur Erklärung von Lohnunterschieden bei? Dies soll das Bundesamt für Statistik weiter prüfen. Die Volkswirtschaft  3 / 2016  65 LOHNGLEICHHEIT erklärter Anteil am Lohnunterschied nach verschiedenen Branchen und Grossregionen ausgewiesen. Diese Analyse nimmt folglich eine erklärende Perspektive ein. Das vom EBG verwendete Analysemodell kommt bei den Kontrollen im Beschaffungswesen jeweils auf Ebene einzelner Unternehmen zur Anwendung. Es dient dazu, die Einhaltung der Lohngleichheit zu überprüfen, und ist darauf ausgerichtet, eine Vermutung systematischer Lohndiskriminierung begründen zu können. Diese Analyse nimmt somit eine rechtfertigende Perspektive ein. Alternative Methoden für nationale Statistik sind zu prüfen Die bislang vom BFS verwendete statistische Methode, die sich am Mittelwert orientiert,  ist wissenschaftlich anerkannt. Sie bildet den Anteil der einzelnen Faktoren zur Erklärung von Lohnunterschieden gut ab. Weil sich die aktuelle Methode am Mittelwert orientiert, können die Ergebnisse allerdings von sehr hohen oder tiefen Löhnen beeinflusst sein. Deshalb sollen weitere statistische Methoden vertieft geprüft werden, welche sich unter anderem am Medianwert6 orientieren.7 6 Der Medianlohn ist derjenige Lohn, der an der mittleren Stelle steht, wenn alle Löhne nach der Grösse sortiert werden. Der Mittelwert bezeichnet hingegen das arithmetische Mittel, d. h. den Durchschnitt aller beobachteten Löhne. 7 Siehe Felfe et al. (2015), S. 119–121. Die gegenwärtig verwendeten Faktoren zur Erklärung von Lohnunterschieden8 sind gut geeignet, um Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern zu erklären. Sie sind wissenschaftlich anerkannt und sollten beibehalten werden. Die drei im Postulat genannten Faktoren Weiterbildungen, Sprachkenntnisse und Führungserfahrung sollen hingegen nicht in das BFS-Analysemodell aufgenommen werden. Deren zusätzlicher Erklärungsgehalt ist tief, da Führungserfahrung durch den Faktor berufliche Stellung bereits gut abgebildet wird. Ausserdem sind Sprachkenntnisse nicht in allen Branchen lohnrelevant und eine zuverlässige Erhebung der notwendigen Informationen kann nicht gewährleistet werden.9 Hingegen soll für die Faktoren Arbeitszeitmodell, physische und psychische Belastungen sowie Beschäftigungsgrad in der Berufskarriere – welcher zur genaueren Ermittlung der tatsächlichen Berufserfahrung verwendet werden könnte – vertieft geprüft werden, ob die dafür notwendigen Informationen administrativen Registern entnommen oder objektiv und geschlechtsneutral erhoben werden könnten. Mehraufwand für Betriebe wäre unverhältnismässig Auch die verwendete statistische Methode des EBG-Analysemodells ist wis8 Siehe Felfe et al. (2015), S. 33. 9 Siehe Felfe et al. (2015), S. 121–124. senschaftlich und juristisch anerkannt und sollte deshalb gemeinsam mit der in der Praxis bewährten Toleranzschwelle von fünf Prozent beibehalten werden. Das EBG verwendet bei seinem Analysemodell eine ähnliche statistische Methode wie das BFS. Die geprüften alternativen Methoden haben auf der betrieblichen Ebene insbesondere den Nachteil, dass sie nur mit grossem technischem Aufwand für die Unternehmen anwendbar sind.10 Die bislang verwendeten Faktoren zur Rechtfertigung von Lohnunterschieden – Ausbildungsjahre, Dienstalter, potenzielle Erwerbserfahrung, Anforderungsresp. Kompetenzniveau sowie berufliche Stellung – sind gut geeignet, um Lohn­ unterschiede zu erklären, und weisen kein Diskriminierungspotenzial auf. Wie schon beim BFS-Analysemodell sind die im Postulat genannten Faktoren Weiterbildungen, Sprachkenntnisse und Führungserfahrung auch hier nicht geeignet, um neu aufgenommen zu werden. So birgt beispielsweise der Faktor Führungserfahrung Diskriminierungspotenzial, weil die Gefahr besteht, dass diese von den Arbeitgebenden bei Frauen anders bewertet würde als bei Männern. Doch auch der Beschäftigungsgrad in der Berufskarriere eignet sich nicht zur Aufnahme in das Modell für die betriebliche Ebene: Neben dem Diskriminierungs­ potenzial wäre insbesondere auch der ad10 Siehe Felfe et al. (2015), S. 124f. Die Analysemodelle des EBG und des BFS im Vergleich Zuständige Behörde Eidg. Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) Bundesamt für Statistik (BFS) Analyseebene Unternehmen Schweizerische Gesamtwirtschaft Zweck Zur Kontrolle der Lohngleichheit von Firmen, die im öffentlichen Beschaffungswesen einen Auftrag erhalten haben Zur Erstellung der Spezialauswertung «Lohngleichheit» basierend auf den Daten der Lohnstrukturerhebung Rechtliche Grundlagen Bundesgesetz über das öffentliche Beschaffungswesen Verordnung über die Durchführung von statistischen Erhebungen des Bundes Vergleichsgruppe Alle Arbeitnehmenden eines Unternehmens 1,7 Millionen Arbeitnehmende aus rund 35’000 Unternehmen verschiedenster Branchen Analysemethode OLS-Regressionsanalyse OLS-Regressionsanalyse Berücksichtigte Faktoren Eine Vielzahl an objektiven Faktoren mit Bezug auf die gesamte Eine begrenzte Anzahl auf ein gesamtes Unternehmen bezogene, standardisierte, objektive, nicht diskriminierende Fakto- schweizerische Volkswirtschaft ren Toleranzschwelle Statistisch signifikant über 5 Prozent Keine Rechtliche Folgen für die Unternehmen Verschiedene mögliche Sanktionen: Konventionalstrafe; Ausschluss aus dem Beschaffungsverfahren; Widerruf des Zuschlags oder Kündigung des Vertrags Keine (BöB) 66  Die Volkswirtschaft  3 / 2016 DOSSIER ministrative Aufwand für die Erhebung der benötigten Informationen im Vergleich zum zusätzlichen Erklärungsgehalt für Lohnunterschiede unverhältnismässig hoch.11 Informationen zum Beschäftigungsgrad während der beruflichen Laufbahn und allfällige Erwerbsunterbrechungen müssten von den Arbeitgebenden erhoben werden, wobei die Qualität der Angaben nicht sichergestellt werden könnte. Die Lernkurven – d. h. die Akkumula­ tion von Humankapital und die damit einhergehenden Produktivitätssteigerungen – verlaufen in verschiedenen Berufen und in verschiedenen Phasen des Erwerbslebens unterschiedlich. Qualitative Aspekte wie Arbeitsinhalte sind mitunter ebenso relevant wie der im Postulat erwähnte Beschäftigungsgrad. Inwieweit bestimmte Weiterbildungen oder Erfahrungen die Leistung und damit den Lohn beeinflussen und was als Karriereunterbrechung beurteilt wird, müsste subjektiv durch die Arbeitgebenden eingeschätzt werden, wodurch bei der Operationalisierung die Objektivität nicht gewährleistet wäre. Diese Schwierigkeiten sprechen gegen die Aufnahme dieser Faktoren in ein möglichst einfach zu haltendes Standard-Analysemodell.12 Unternehmen schätzen die ­Einfachheit des Analysemodells Bezüglich des BFS-Analysemodells wird der Bundesrat den oben geschilderten Empfehlungen nachkommen und die Faktoren Arbeitszeitmodell, physische und 11 Siehe Felfe et al. (2015), S. 126f. 12 Siehe Felfe et al. (2015), S. 87f. psychische Belastungen, sowie Beschäftigungsgrad in der Berufskarriere vertieft prüfen. Hinsichtlich des EBG-Analysemodells vertritt er die Ansicht, dass hier dreierlei Zielsetzungen gleichermassen zu berücksichtigen sind: Wissenschaftlichkeit und Aussagekraft des Modells, Rechtskonformität von Methode und berücksichtigten Faktoren sowie Verhältnismässigkeit des Aufwands für die Unternehmen. Daher sollen Standards verwendet werden, die auf nationaler wie internationaler Ebene breit akzeptiert sind und für die Unternehmen und die Verwaltung einen möglichst geringen administrativen Aufwand mit sich bringen. Die statistische Methode der OLS-Regressionsanalyse ist vor Bundesgericht zugelassen. Lohngleichheitsanalysen in anderen europäischen Ländern13 basieren ebenfalls auf dem Standard-Analysemodell. In einer breit angelegten, repräsentativen Umfrage14 wurden Unternehmen zum Standard-Analysemodell des Bundes befragt. Dabei nahmen von 2712 kontaktierten Unternehmen 1305 teil. Die befragten Unternehmen beurteilten das Standard-Analysemodell des Bundes mehrheitlich als geeignet, wobei insbesondere die Einfachheit des Modells geschätzt wird. Gleiche Ergebnisse gehen zudem auch aus einer vom Arbeitgeberverband Centre Patronal in Auftrag gegebenen Umfrage hervor.15 Gestützt darauf, 13 Siehe das Projekt equal pace, an dem unter anderen Ländern auch Deutschland und Frankreich beteiltigt sind. Abrufbar unter www.equal-pace.eu. 14 Siehe den Artikel von Stern und Trageser in dieser Ausgabe. 15 Paschoud, S. (2015). Egalité salariale: la manipulation d’un juste principe. Etudes & Enquêtes n° 44, Centre Patronal. ist für den Bundesrat das EBG-Analysemodell für das Beschaffungswesen in der bisherigen Form geeignet und beizu­ behalten.  Oliver Schröter Dr. rer. pol., Fachbereich Arbeit, Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG), Bern Claudio Marti Whitebread Fachbereich Recht, Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG), Bern Literatur Schröter, O.; Marti Whitebread, C. (2016): Lohngleichheitskontrollen im Beschaffungswesen des Bundes, in: Dunand, J-P., Lempen, K., Mahon, P. (Hrsg.): Die Gleichstellung von Frau und Mann in der Arbeitswelt. 1996 – 2016: 20 Jahre Gleichstellungsgesetz, CERT, BFEG, Schulthess. Stern, S.; J. Trageser; A. Schultheiss; B. Ruegge und R. Iten (Infras) (2015). Regulierungsfolgenabschätzung zu den geplanten Massnahmen zur Durchsetzung der Lohngleichheit. Abrufbar unter www.bj.admin.ch. Felfe, C.; Tragesser, J.; Iten, R. (2015). Studie zu den statistischen Analysen der Eidgenossenschaft betreffend die Lohngleichheit von Frau und Mann. Abrufbar unter www.ebg.admin.ch. Die Volkswirtschaft  3 / 2016  67 DER STANDPUNKT Daniella Lützelschwab Mitglied der Geschäftsleitung, Ressort Arbeitsmarkt und Arbeitsrecht, Schweizerischer Arbeitgeberverband (SAV), Zürich Der Bund muss die freiwilligen Bemühungen der Arbeitgeber anerkennen Der Schweizerische Arbeitgeberverband lehnt staatlich vorgeschriebene Lohnkontrollinstrumente und Meldestellen wie das Eidgenössische Gleichstellungsbüro sowie schwarze Listen für Firmen ab. Vielmehr fordert er vom Bund, die bisherigen Bemühungen der Unternehmen endlich zu würdigen.  ken, frühzeitig das Interesse der Frauen an sogenannten Mint-Berufen (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) zu wecken, damit diese öfter solche Berufe wählen. Dafür braucht es auch die richtigen Rahmen­ bedingungen wie familienergänzende Tagesstrukturen und die volle steuerliche Abzugsfähigkeit von Kinderfremdbetreuungskosten im Sinne von Gewinnungskosten. Das ermöglicht es den Frauen, in Berufe und Positionen vorzudringen, die bisher tendenziell Männerdomänen waren. Die Verschärfung des Gleichstellungsgesetzes ist unnötig Die vom Bund verwendete Analysemethodik zur Feststellung von Lohndiskriminierung ist nicht unbestritten und als Mittel für die betriebliche Lohnkontrolle unpräzise. Dies bestätigt eine vom Schweizerischen Arbeitgeberverband (SAV) im April 2015 in Auftrag gegebene Studie des volkswirtschaftlichen Beratungsbüros BSS. Insbesondere bleiben lohnrelevante Kriterien wie effektive  Unter dem Schlagwort «Lohndiskriminierung» werden immer Berufserfahrung, Führungserfahrung, Weiterbildung oder Sprachwieder heftige Diskussionen über die ungleiche Entlöhnung von kenntnisse unberücksichtigt. Das führt zu falschen Resultaten. Frauen und Männern ausgetragen. Sogar von «34 Jahren Ver- Deshalb hat der SAV bereits früh davon abgeraten, den Unterfassungsbruch» ist die Rede. Was dabei übersehen wird: Lohn­ nehmen solche untauglichen Analyseinstrumente als zusätzliche diskriminierung und Lohnunterschied sind nicht dasselbe. Pflichtübung aufzubürden. Gemäss Bundesgericht liegt eine Lohndiskriminierung nur dann Für den SAV ist nicht nachvollziehbar, weshalb in den Berichten vor, wenn Frauen und Männer mit gleichen Fähigkeiten, gleichen des Bundes immer nur von den 51 Unternehmen gesprochen wird, Tätigkeiten und gleicher Arbeitsleistung im die am Lohngleichheitsdialog teilgenommen selben Unternehmen ungleich entschädigt haben. Die geringe Teilnahme hatte aus Arwerden. Im Gegensatz dazu spricht der BunDie vom Bund verwen- beitgebersicht gute – und diskriminierungsdesrat bereits dann von Diskriminierung, freie – Gründe. Von den rund 86 000 Löhnen, dete Analysemethodik die alleine im Salärvergleich der Maschinen-, wenn bei der statistischen Untersuchung von Lohnunterschieden eine Restgrösse verbleibt, Elektro- und Metallindustrie erfasst werden, zur Feststellung von die durch Merkmale wie Alter, Ausbildung oder dagegen nicht die Rede. Damit wird in der Lohndiskriminierung ist Tätigkeitsbereich nicht erklärt werden kann. Öffentlichkeit das falsche Bild gezeichnet, ist nicht unbestritten dass die Arbeitgeber freiwillig nichts unterDiese von der Verwaltung selbst festgelegte, nicht abschliessende Auswahl von Merkmalen nehmen, um betriebsintern für korrekte Löhne und als Mittel für ist jedoch unzulänglich. zu sorgen. die betriebliche Lohn- Der Schweizerische Arbeitgeberverband lehnt Wie eine aktuelle Studie der liberalen Denk­ fabrik Avenir Suisse aufzeigt, hat der so verLohndiskriminierung in den Unternehmen kontrolle unpräzise. bliebene Lohnunterschied andere Ursachen ab. Er lehnt aber auch staatlich vorgeschrieals die Diskriminierung von Frauen. Er lässt bene Lohnkontrollinstrumente, Meldestellen sich auf gesellschaftliche Gepflogenheiten und Wertvorstellungen und schwarze Listen für Firmen ab. Die vom Bundesrat vorgelegte zurückführen, die schon bei der Berufswahl und später in der Auf- Verschärfung des Gleichstellungsgesetzes ist aus den genannten teilung der Erziehungsarbeit in der Familie zum Tragen kommen. Gründen nicht nur unverhältnismässig, sondern auch unnötig und Dass Unternehmen diese Normen steuern können, ist illusorisch. bürokratisch. Sie stellt einen massiven Eingriff in den flexiblen ArStattdessen sollten die Unternehmen ihre Bemühungen verstär- beitsmarkt dar. Eine solche Verschärfung braucht es nicht. 68  Die Volkswirtschaft  3 / 2016 DOSSIER DER STANDPUNKT der Arbeitnehmenden, wäre dies verfehlt. Gegen eine Ablehnung spricht die vom Bundesamt für Justiz in Auftrag gegebene RegulierungsfolgenabValérie Borioli Sandoz schätzung (RFA). Gemäss dieser RFA, welche dem Leiterin Gleichstellungspolitik, Travail Suisse, Bern Erläuternden Bericht zum Entwurf zur Änderung des Gleichstellungsgesetzes zugrunde liegt, ergriff die Hälfte der 1305 beteiligten Unternehmen nach der durchgeführten Lohnanalyse Korrekturmassnahmen, obwohl sie dazu nicht verpflichtet waren. Dieses Ergebnis ist erfreulich. Für Travail Suisse besteht das Hauptinteresse des bundesrätlichen Vorschlags darin, dass betroffene Frauen mit eiIst die Revision des Gleichstellungsgesetzes nur ein zahnloser ner Lohnanalyse von nicht objektiv erklärbaren Papiertiger, der gegen die Lohndiskriminierung, die vor allem Lohnunterschieden Kenntnis erhalten würden. Diese Analyse wäre von den Unternehmen intern Frauen betrifft, nichts ausrichten kann? Die Auswertung zu erstellen und anschliessend durch ein Organ entsprechender Umfragen bei Unternehmen spricht für eine zu überprüfen, das sie selber wählen können (Sozialpartner, anerkannte Revisionsgesellschaft oder differenzierte Beurteilung des Vorschlags, den der Bundesrat staatlich anerkannte Selbstregulierungsorganiin die Vernehmlassung geschickt hat.  sation). Das Hauptverdienst des vom Bundesrat vorgesehenen Mechanismus besteht darin, dass er die Transparenz in einem sehr undurchsichtigen  Der Vorschlag des Bundesrats zur Bekämpfung der LohndiskrimiBereich, der fast schon ein Tabu darstellt, deutlich erhöht. nierung weist gewisse Eigenschaften eines Papiertigers auf. Denn Denn tatsächlich gilt es in erster Linie in Erfahrung zu bringen, ob die vorgelegte Revision des Gleichstellungsgesetzes (GlG) beinhaldas Problem der Lohndiskriminierung in Unternehmen mit mehr tet keinerlei Sanktionen für Unternehmen, welche nicht regelmäsals 50 Mitarbeitenden überhaupt besteht und allenfalls in welchem sig alle vier Jahre die vorgesehene Lohnanalyse durchführen oder Umfang. Denn Lohndiskriminierungen sind häufig das Ergebnis dazu eine andere statistische Methode verwenden als die sogeindirekter Auswirkungen, unbewusster Vorurteile oder einer unnannte Regressionsanalyse, welche als einzige Methode wissengünstigen Personalpolitik. Eine kürzlich von Waadtländer Arbeitschaftlich und rechtlich anerkannt ist. geberkreisen bei 660 Westschweizer UnterDass zur Durchsetzung der in der Bundesvernehmen durchgeführte Studie1 bestätigt die fassung verankerten Lohngleichheit schlagGegen Unternehmen, bisherigen Erkenntnisse: Unternehmen diskrikräftige juristische Mittel vollkommen fehlen, minieren Frauen nicht bewusst. Noch erfreulidenen es an gutem ist mehr als erstaunlich. Bei anderen Grundcher ist, dass drei Viertel dieser Unternehmen prinzipien, die ebenfalls im Gründungstext eine Selbstkontrolle für annehmbar und sinnWillen fehlt und die unseres Rechtsstaats verankert sind, wäre dies halten. Ausserdem akzeptiert eine Mehreinfach die Augen ver- voll undenkbar. Nehmen wir als Beispiel die Eigenheit der in der RFA befragten Unternehmen die schliessen, muss kon- vorgesehene Form dieser Kontrolle. Das ist ein tumsgarantie. Wenn jemand plötzlich auf die Idee kommt, das Eigentum des Nachbars in sequenter vorgegangen Plädoyer für Transparenz. Beschlag zu nehmen, wird er zur Rechenschaft Deshalb unterstützt Travail Suisse den Vorwerden. gezogen, damit die gesetzlichen Bestimmunschlag des Bundesrats, auch wenn sie bedaugen nicht Makulatur bleiben. Den Frauen hinert, dass er keinerlei Sanktionen vorsieht. Sie gegen werden bei den Löhnen seit Jahrzehnten erhebliche Sumwird deshalb Vorschläge mit dieser Stossrichtung unterbreiten, men vorenthalten (jährlich gegen 7 Milliarden Franken), ohne dass da es unter den Arbeitgebern auch einige schwarze Schafe gibt. irgendwelche objektiven Gründe diesen «Diebstahl» rechtfertigen Denn gegen Unternehmen, denen es an gutem Willen fehlt und die könnten. Trotzdem sehen weder das geltende Gleichstellungsgesetz einfach die Augen verschliessen, muss konsequenter vorgegangen werden. noch der Revisionsentwurf Strafen für säumige Unternehmen vor. Mit Transparenz gegen Lohndiskriminierung Ungerechtfertigte Lohnunterschiede werden für Frauen sichtbar Ist deshalb der bundesrätliche Vorschlag rundweg abzulehnen? In den Augen von Travail Suisse, der unabhängigen Dachorganisation 1 Centre patronal (2015). Egalité salariale : la manipulation d’un juste principe, in : Etudes & Enquêtes Nr. 44 Die Volkswirtschaft  3 / 2016  69 ZAHLEN Der kleine Unterschied – Männer und Frauen im Arbeitsmarkt Die Muster der Erwerbstätigkeit haben sich im Zuge der Emanzipation angeglichen. Trotzdem sind es mehrheitlich immer noch die Frauen, welche bei familiären Verpflichtungen auf einen Erwerb verzichten. Auch bei der Teilzeitarbeit liegt der Frauenanteil höher. Dies kann ein Grund dafür sein, dass auch deutlich mehr Frauen überqualifiziert oder unterbeschäftigt sind. Die unterschiedlichen Erwerbsmuster manifestieren sich teilweise auch in den Löhnen. Gemäss einer Analyse des Bundesamts für Statistik1 sind jedoch nur ungefähr 60 Prozent der Lohndifferenz durch erklärbare Merkmale begründet. 63% 10% Erwerbsbeteiligung Anteil Erwerbspersonen (Erwerbstätige und Erwerbslose) an der über 15-jährigen Bevölkerung, Stand 2014. Unterbeschäftigung 75% 3% Teilzeiterwerbstätige, welche mehr arbeiten möchten und dies auch könnten, Stand 2014. 17% Teilzeitarbeit Anteil Erwerbstätige, die weniger als 90 Prozent arbeiten, Stand 2014 Überqualifikation 16% 12% Tertiärgebildete mit einem Beruf, für den keine solche Ausbildung notwendig ist, Stand 2014. 5808.– Löhne Standardisierter monatlicher Bruttomedianlohn in Franken, Stand 2012. 1 Bei den untersuchten Löhnen handelt es sich um Durchschnittslöhne im privaten Sektor. Abrufbar unter www.bfs.admin.ch 70  Die Volkswirtschaft  3 / 2016 6840.– BFS LSE, SAKE / SHUTTERSTOCK / DIE VOLKSWIRTSCHAFT 59% Wirtschaftskennzahlen Auf einen Blick finden Sie hier die Kennzahlen Bruttoinlandprodukt, Erwerbslosenquote und Inflation von acht Ländern, der EU und der OECD. Zahlenreihen zu diesen Wirtschaftszahlen sind auf der Internetseite www.dievolkswirtschaft.ch aufgeschaltet. Bruttoinlandprodukt: Reale Veränderung in % gegenüber dem Vorjahr Bruttoinlandprodukt: Reale Veränderung in % gegenüber dem Vorquartal1 2014 4/2014 1/2015 2/2015 3/2015 Schweiz 2,0 Schweiz 0,7 –0,2 0,2 0,0 Deutschland 1,6 Deutschland 0,6 0,3 0,4 0,3 Frankreich 0,2 Frankreich 0,1 0,7 0,0 0,3 Italien –0,4 Italien 0,0 0,4 0,3 0,2 Grossbritannien 3,0 Grossbritannien 0,8 0,4 0,7 0,5 EU 1,3 EU 0,5 0,5 0,4 0,4 USA 2,4 USA 0,5 0,2 1,0 0,5 Japan –0,1 Japan 0,3 1,1 –0,2 –0,2 China 7,4 China 1,7 1,3 1,8 1,8 OECD 1,9 OECD 0,5 0,5 0,6 0,4 Bruttoinlandprodukt: In Dollar pro Einwohner 2014 (PPP2) Erwerbslosenquote:3 in % der Erwerbstätigen, Jahreswert 2014 Erwerbslosenquote:3 in % der Erwerbstätigen, Quartalswert 2014 3/2015 Schweiz 57 744 Schweiz 4,5 Schweiz 4,9 Deutschland 44 788 Deutschland 5,0 Deutschland 4,5 Frankreich 38 870 Frankreich 10,3 Frankreich 10,7 Italien 35 067 Italien 12,7 Italien 11,9 Grossbritannien 39 225 Grossbritannien 6.2 Grossbritannien EU 36 175 EU 10,2 EU 9,4 USA 54 640 USA 6,2 USA 5,2 Japan 36 485 Japan 3,6 Japan 3,4 China – China – China – OECD 38 902 OECD 7,4 OECD 6,7 Inflation: Veränderung in % gegenüber dem ­Vorjahresmonat 2014 November 2015 0,0 Schweiz –1,4 0,9 Deutschland 0,4 Frankreich 0,5 Frankreich 0,0 Italien 0,2 Italien 0,1 Grossbritannien 1,5 Grossbritannien 0,1 EU 0,6 EU 0,1 USA 1,6 USA 0,5 Japan 2,7 Japan 0,3 China 2,0 China 1,5 OECD 1,7 OECD 0,7 Schweiz Deutschland 1 Saisonbereinigt und arbeitstäglich bereinigte Daten. 2 Kaufkraftbereinigt. 3 Gemäss ILO (Internationale Arbeitsorganisation). SECO, BFS, OECD Inflation: Veränderung in % gegenüber dem Vorjahr – Weitere Zahlenreihen www.dievolkswirtschaft.ch d Zahlen Die Volkswirtschaft  3 / 2016  71 CARTOON ENTWICKLUN ZUSAMMENA GSRBEIT Jetzt die neueste Ausgabe! Inkl. aller 17 Ziele und 169 Unterziele 72  Die Volkswirtschaft  3 / 2016 VORSCHAU e année   N° 7/2015 5 /2015 sFr. Frs.12.– 12.– 88.88 Jahrgang   Nr. La économique DieVie Volkswirtschaft Plattformdefür Wirtschaftspolitik Plateforme politique économique SCHWERPUNKT Wie ticken die Konsumenten? Die Konsumentenstimmung bleibt in der Schweiz insgesamt angespannt. Gut sieht es hingegen beim Privatkonsum aus. Das ist entscheidend, denn mit mehr als der Hälfte trägt der private Konsum am meisten zum Schweizer Bruttoinlandprodukt bei. Die «Volkswirtschaft» blickt hinter die Fassade und fragt nach, welche Aspekte beim Kaufentscheid eine Rolle spielen und wie rational sich die Konsumenten dabei verhalten. Mit der Digitalisierung hat sich das Kaufverhalten deutlich verändert. Aber auch gesellschaftliche Werte haben sich gewandelt. Der Einkaufstourismus ist eine Folge des Preisgefälles zwischen der Schweiz und dem nahen Ausland. Doch wie legen Unternehmen die Preise ihrer Produkte fest? Und ist alles nur eine Frage der Kostenstruktur? Lesen Sie mehr darüber in unserer nächsten Ausgabe. Wie sich das Konsumentenverhalten der Menschen verändert Mirjam Hauser, GIM Suisse AG Verhaltensökonomie – Wie wählen Konsumenten? Professor Luis Pedro Santos-Pinto, Universität Lausanne Die Hochpreisinsel Schweiz aus ökonomischer Sicht Markus Langenegger und Simon Jäggi, Seco Preismanagement unter dem Aspekt der Konsumentenpsychologie Professor Hans Peter Wehrli, Universität Zürich Konsumentenstimmung in der Schweiz im internationalen Vergleich Felicitas Kemeny und Vincent Pochon, Seco Warum Gesundheits- und Konsumprofile Datenschutzrisiken bilden Jean-Philippe Walter, Datenschutzbeauftragter