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Mukogingivale Chirurgie und Rezessionsdeckung Freies Bindegewebstransplantat vom Gaumen ist noch immer der Goldstandard E i n B e i t r a g v o n D r. Yo rc k Z e b u h r, We l s / Ö s t e r r e i c h
Der Stellenwert der „roten Ästhetik“ in der modernen Zahnheilkunde ist heutzutage unbestritten. Gleichzeitig steigen die Ansprüche an einen langfristigen funktionalen Zahnerhalt. Auch im Zusammenhang mit modernen implantologischen Versorgungen gewinnen Methoden zum Erhalt und zur Rekonstruktion optimaler Weichgewebsverhältnisse an Bedeutung. Die Rahmenbedingungen eines Konzepts ästhetischer, rekonstruktiver und funktioneller Parodontalchirurgie zur Deckung von Rezessionen sollen in dieser Übersicht zusammengefasst werden. Ätiologie von Rezessionen Parodontologische Gründe für Rezessionen im engeren Sinne sind eine fehlende fixierte Gingiva, hoch an der mukogingivalen Grenze einstrahlende Muskelansätze, ungünstige Zahnstellungen sowie eine dünne bukkale Knochenlamelle. Ferner sind aggressive und chronische Parodontitiden in der Vorgeschichte bedeutend. Auch nach viralen Infektionen können Rezessionen auftreten. Iatrogene Faktoren, die zu Rezessionen führen können, sind insbesondere Verletzungen der biologischen Breite durch dentale Restaurationen oder Folgezustände nach Entfernung pathologischer Veränderungen. Abschließend sind rezidivierende Traumata zu nennen, wie sie bei exzessiver Zahnputztechnik, durch Fremdkörper wie Piercings oder auch durch Selbstverletzungen im Rahmen psychischer Erkrankungen vorkommen können.
Abb. 1: 31-jährige Patientin mit Rezession bei 21/22, Miller-Klasse IV, hier als Folge einer Epulisentfernung
Diagnose und Klassifikation von Rezessionen Eine gingivale Rezession ist definiert als vestibulär freiliegende Wurzeloberfläche eines Zahns infolge eines Rückgangs des Gingivarands von der SchmelzZement-Grenze. Konsequenzen der Rezession können eine gestörte Ästhetik, überempfindliche Zahnhälse und schwer hygienefähige Plaqueretentionsstellen sein. Als Folge können weitere Verluste von Weichgewebe, bukkalem Knochen und auch Zahnverluste eintreten. Die 1985 von Miller eingeführte Klassifikation von Rezessionen hat sich klinisch und in wissenschaftlichen Arbeiten durchgesetzt. Grund hierfür ist, dass diese, auf anatomischen Kriterien basierende Klassifikation die Morphologie der verschiedenen Rezessionen derart beschreibt, dass verschiedene therapeutische Konsequenzen aus der jeweiligen Klasse abgeleitet werden können. Zu individuellen, patientenspezifischen Kontrollzwecken ist aber auch die Vermessung der Rezession in Millimeter als Distanz zur Schmelz-Zement-Grenze sinnvoll. Die Klassifikation von Miller orientiert sich am Kriterium, ob die Rezession die mukogingivale Grenze respektiert (Klasse I) oder überschreitet (Klasse II), wobei interdental jeweils keine Gewebsverluste vorliegen dürfen. Liegen jedoch Papillenverluste vor, wird dies als Klasse III bezeichnet, bei zusätzlichen Knochendefekten mit konsekutiver konkaver Gingivaanatomie als Klasse IV (Abb. 1 und 2).
Abb. 2: Zustand ein Jahr nach tunnelierender Operation und Unterfütterung mit einem freien Transplantat vom Gaumen. Zu beachten ist die spontane Wiederherstellung der Papille bei Zustand nach Kontaktpunktkorrektur.
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Mukosa mit einem freien Bindegewebstransplantat unterfüttert wird, um neben einer Wurzelbedeckung auch eine Verdickung der Mukosa zu erreichen, ist dies bei der Zuchelli-Methode fakultativ. Als Alternative zum freien Bindegewebstransplantat werden bereits seit vielen Jahren immer wieder Fremdmaterialien vorgeschlagen, die vor dem Hintergrund einer Vermeidung der Entnahmemorbidität eines Transplantats zunehmende Bedeutung erlangen könnten.
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Abb. 3: Rezession an Zahn 31, Miller-Klasse III, mit transplantierter Gingivaeinheit von Zahn 16
Operative Therapie singulärer Rezessionen Die operative Therapie singulärer Rezessionen kann unter anderem mittels lateraler Verschiebelappenplastiken oder der autologen Transplantation einer gingivalen Einheit erfolgen, die typischerweise palatinal vom oberen ersten Molaren entnommen wird (Abb. 3). Die Therapie einer einzelnen Rezession mit diesen Methoden ist allerdings nur bei einem dicken Gingivatyp indiziert. Bei dünnem Gingivatyp sollte bei einer singulären Rezession eine Verdickung der Gingiva auch an den typischerweise immer gefährdeten Nachbarzähnen vorgenommen werden. Operative Therapie multipler, benachbarter Rezessionen Zur Behandlung multipler, benachbarter Rezessionen, wie sie beispielsweise in der Unterkieferfront nach kieferorthopädischer Auflösung eines Engstands oder im Eckzahn- und Prämolarenbereich des Oberkiefers zum Beispiel bei Bruxismus oder Putztrauma beobachtet werden können, haben sich in den letzten Jahren im Wesentlichen zwei Techniken bewährt. Bei der 1994 von Allen vorgeschlagenen Tunneltechnik wird über Inzisionen am Gingivarand und eine subtile submuköse unterminierende Präparation die Schleimhaut zirkuszeltartig eleviert. So entsteht ein Hohlraum, der sogenannte Pouch, der ein gutes Lager für ein subepitheliales Bindegewebstransplantat bietet. Hingegen stellt die von Zuchelli und de Sanctis (2000) inaugurierte Technik eine spezielle Art einer koronalen Verschiebemethode dar, deren Vorteile aus einer exakten geometrischen Planung von koronaler Verschiebung und Rotation eines reinen Mukosalappens resultieren. Während bei der tunnelierenden Allen-Methode typischerweise immer die ortsständige, elevierte
Operationstechnische Voraussetzungen für erfolgreiche Wurzeldeckungen Die Prinzipien, die für den Erfolg einer Rezessionsdeckung wichtig sind, wurden 2014 von Burkhardt und Lang in einer strukturierten Übersichtsarbeit zusammengefasst: · Die Lappenpräparation bedarf besonderer Beachtung hinsichtlich Form, Verschiebung, Anpassung und Fixierung, wenn Weichgewebe auf avaskulären Unterlagen (Wurzeloberflächen, zahnärztlichen Restaurationen oder Implantaten) zu liegen kommen soll. · Das Durchblutungsmuster der Weichgewebe schreibt das Lappendesign vor und begünstigt die Einheilung von Transplantaten. · Zur Lappenverlängerung sind meistens vertikale Entlastungsinzisionen und eine basale periostale Inzision nötig. Eine Streckung des Mukosalappens, der von elastischen Fasern geprägt ist, wird sonst von kollagenen periostalen Fasern verhindert. · Das Ausmaß der gingivalen Rezession definiert jedoch die notwendige Lappenverlängerung, wobei vertikale Inzisionen ungünstige Narben hinterlassen können, die die Textur der Mukosa verändern und so zu unschönen ästhetischen Ergebnissen führen können. · Eine ideale Inzisionstechnik beinhaltet daher sulkuläre Inzisionen um die Zähne, setzt – wo unvermeidlich – möglichst kurze Entlastungsinzisionen und vermeidet marginale und paramarginale Schnitte. · Die Nähte sollten zum ehestmöglichen Zeitpunkt entfernt werden, da sie die Lappenperfusion und Wundheilung beeinflussen. Evidenz operativer Therapiemaßnahmen zur Rezessionsdeckung Die amerikanische Fachgesellschaft „American Academy of Periodontology“ hat in einem Workshop die wissenschaftliche Evidenz zu einer Reihe
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von klinisch relevanten Fragen bezüglich wurzeldeckender Operationen zusammengetragen (Chambrone und Tatakis, 2015). Einige besonders interessante Frage-/Antwortpaare sollen hier dargestellt werden: Wie effektiv ist die Rezessionsdeckung, abhängig vom Ausmaß der Rezession? Die Mehrzahl der Untersuchungen befasste sich mit einzelnen Rezessionen der Miller-Klassen I und II. Bei diesen beiden Rezessionsgraden können sämtliche operativen Verfahren zur Rezessionsdeckung die Tiefe der Rezession verringern und das Attachment verbessern, ohne die Taschensondierungstiefe nachteilig zu beeinflussen. Methoden, die mit einem subepithelialen Bindegewebstransplantat kombiniert werden, zeigen die besten Erfolge im Hinblick auf den Anteil bedeckter Wurzelfläche und den Gewinn an keratinisierter Gingiva. Alternativ können bei den Rezessionsgraden I und II auch koronale Verschiebelappen in Kombination mit azellulärer dermaler Matrix, Schmelzmatrixproteinen oder Kollagenmatrix ähnliche Erfolge wie Bindegewebstransplantate zeigen. Bei Rauchern sind die Ergebnisse eindeutig schlechter. Bei Rezessionsgrad III nach Miller kann eine Rezessionsdeckung mittels freiem Bindegewebstransplantat maximal eine Bedeckung bis auf die Höhe des Gingivaverlaufs an den Nachbarzähnen bewirken. Aus den wenigen Untersuchungen zu Situationen mit Rezessionsgrad IV nach Miller kann abgeleitet werden, dass zwar Verbesserungen zu erwarten sind, aber das Ausmaß der Wurzelflächenbedeckung nicht vorhergesagt werden kann. Wie effektiv ist die Rezessionsdeckung, abhängig von der Verwendung autologer Transplantate im Vergleich zur Verwendung von Fremdmaterialien? Unter Kosten-Nutzen-Aspekten, aber auch hinsichtlich der klinischen Ergebnisse sind freie subepitheliale Bindegewebstransplantate zu bevorzugen. Bei großem Augmentationsbedarf, zum Beispiel bei multiplen Rezessionen, und bei Patienten, die eine Transplantathebung nicht wünschen, können jedoch Kollagenmatrixprodukte und eine azelluläre dermale Matrix ein autologes Bindegewebstransplantat adäquat ersetzen. Wie sind die Langzeitergebnisse nach einer Rezessionsdeckung? Die Stabilität von Methoden mit Verwendung von freien Bindegewebstransplantaten übertrifft die Sta-
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bilität der alleinigen koronalen Verschiebemethode in Betrachtungszeiträumen von zwei Jahren oder länger. Was bringt eine spezielle Biomodifikation der Wurzeloberfläche? Weder für kurzzeitige Verbesserungen noch für langfristig bessere Erfolgsaussichten besteht Evidenz. Welche Risiken birgt die Rezessionsdeckung aus Patientensicht? Die operativen Maßnahmen gelten als sicher. Blutung, Schwellung und Schmerz sind typische Angaben in Patientenbefragungen. Patienten, die zugunsten der Verwendung von Fremdmaterial auf einen Zweiteingriff zur Transplantatgewinnung verzichteten, wiesen weder funktionell noch ästhetisch schlechtere Ergebnisse auf. Soll ein Bindegewebstransplantat auch Mukosaanteile und/oder periostales Gewebe enthalten? Hierzu existieren nur wenige Daten, aber ein zusätzliches Heranziehen von Mukosaanteilen und/ oder Knochen scheint keinen Vorteil zu bringen. Welchen Einfluss hat ein dünner oder dicker gingivaler Biotyp bei der Rezessionsdeckung? Auch hierzu existieren nur wenige Untersuchungen. Der Biotyp sollte aber in der Therapieplanung immer mit einbezogen werden. Aus Langzeituntersuchungen weiß man, dass Patienten mit dünnem Gingivabiotyp besonders von gingivalen Augmentationen profitieren können, da diese Maßnahmen zu einem dicken Gingivatyp führen. Hierzu ist ein klinischer Fall in den Abbildungen 4 bis 10 dargestellt. Klinischer Fall Eine 18-jährige Patientin stellte sich mit einer Rezession an Zahn 31 vor. Probleme bestanden aufgrund der Überempfindlichkeit des Zahns, die die Pflege am Gingivarand sehr stark beeinträchtigte. Die Läsion wurde als Miller-Klasse II eingeordnet. Es zeigte sich ein dünner Gingivabiotyp. Im Vorfeld der operativen Therapie fand eine Hygienisierung und Vorbehandlung betreffend der Überempfindlichkeit des Zahns statt. Die Rezessionsdeckung erfolgte mit einem Bindegewebstransplantat vom Gaumen, das in eine nach der Tunnelierungsmethode vorbereitete Tasche eingebracht wurde. Ferner erfolgten die Unterbrechung des Lippenbändchens und eine Lippenverlängerung
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Abb. 4: 18-jährige Patientin mit Rezession an Zahn 31, Miller-Klasse II, dünne Gingiva, auch an den Nachbarzähnen
Abb. 5: Submukosale Präparation eines Transplantatlagers
Abb. 6a und b: Präparation eines subepithelialen palatinalen Bindegewebstransplantats
Abb. 7: Trimmen und Vorbereiten des subepithelialen palatinalen Bindegewebstransplantats zum Durchzug in die submukosale Tasche („Pouch“)
Abb. 8: Transplantat nach dem Einbringen, Fixieren und Einnähen, Lippenverlängerungsoperation mit freier Granulation
Abb. 9: Wundheilung mit Granulation und Fibrinauflagerungen
Abb. 10: Stabile Verhältnisse 56 Monate nach Rezessionsdeckung
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durch Z-Plastik und freie Granulation. Der Verlauf war unauffällig und bei der Verlaufskontrolle zeigte sich ein stabiler Langzeiterfolg. Zusammenfassung Bei der Therapie von Rezessionen kann heute auf bewährte und wissenschaftlich fundierte Konzepte zurückgegriffen werden. Das freie Bindegewebstransplantat vom Gaumen stellt noch immer den Goldstandard zur Verdickung der Gingiva dar. Allerdings gibt es inzwischen auch Evidenz, dass Matrixprodukte erfolgreich angewendet werden können. Die weitere Entwicklung auf diesem Gebiet bleibt spannend. Dem Allgemeinzahnarzt kommt die Aufgabe zu, bei der zahnärztlichen Routineuntersuchung auf mukogingivale Probleme zu achten, ätiologische
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Faktoren abzustellen und den Patienten bei Bedarf frühzeitig einem mukogingivalen Chirurgen vorzustellen. Die Behandlung geringer Rezessionsgrade ist zwar vorhersagbar möglich, die Therapie schwerer Rezessionen gelingt aber nur zum Teil. Diese kann daher eher als schadensbegrenzende Maßnahme betrachtet werden.
Korrespondenzadresse: Dr. Yorck Zebuhr Klinikum Wels Grieskirchnerstraße 42 4600 Wels/Österreich
[email protected] Literatur beim Verfasser
Einführung in die Mund-, Kiefer-, Gesichtschirurgie Howaldt, Hans-Peter; Schmelzeisen, Rainer (Hrsg.): Einführung in die Mund-, Kiefer-, Gesichtschirurgie, 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage 2015, Deutscher Zahnärzte Verlag, Köln, 350 Seiten, 159 Abbildungen, Preis: 59,99 Euro, ISBN 978-37691-3414-8 Fast überfällig erschien die Neuauflage des beliebten, 2002 erstmals erschienenen Kompendiums der Mund-, Kiefer-, Gesichtschirurgie. Das bewährte Autorenteam hat jetzt die Überarbeitung eines Werkes vorgelegt, das den Spagat zwischen kurzer und trotzdem ausreichender, kompletter Darstellung schafft: In zehn Kapiteln wird das Fach der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie in seiner ganzen Breite abgebildet. Traumatologie, Kiefergelenkserkrankungen, Entzündungen, Tumoren, Speicheldrüsenerkrankungen, Knochenheilung und -transplantation, rekonstruktive Chirurgie, Neuropathien, dentofaziale Anomalien sowie Fehlbildungen werden in einer Tiefe behandelt, die dem Studenten und Berufsanfänger ausreichen und dem Erfahrenen in vielen Fällen genügen, um sich einen aktuellen Überblick über jedes Thema zu verschaffen. Auf knapp 350 Seiten findet sich eine stichwortartige Zusammenfassung des gesamten Fach-
gebiets, die aber trotz ihrer Kürze gut lesbar bleibt. Schlagworte werden prägnant hervorgehoben und einprägsame Merksätze erleichtern es, beim Studium eines Kapitels das Essenzielle zu behalten. Sehr instruktive Abbildungen und Tabellen ergänzen den Text dort, wo es sinnvoll ist. Komplexe Sachverhalte werden mit eingängigen Diagrammen und Schemata veranschaulicht. Die Anzahl und Qualität der Schwarz-Weiß-Fotos sind ausreichend, wenngleich eine Farbdarstellung dem ein oder anderen Leser sicher besser gefallen würde. Das Buch ist daher – dem Titel entsprechend – besonders geeignet, um einen Einstieg in das Fach zu bekommen und stellt die Quintessenz dessen dar, was jeder Zahnmedizinstudent und Zahnarzt für sein Berufsleben über die Mund-, Kiefer-, Gesichtschirurgie wissen sollte. Innovativ und nützlich sind die QR-Codes, die unmittelbar den Zugang zu instruktiven Videos ermöglichen. Das Wackelbild auf dem Cover kann man als Gag oder Hingucker für den Aufsteller im Buchhandel bewerten, sonst ist der Nutzen eher fraglich. Für sein Geld erhält der Käufer eine preisgünstige Einführung in die Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie. Das Werk ist eine eindeutige Empfehlung wert. Dr. Yorck Zebuhr Wels/Österreich
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