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StaatsorganisationsR Fall 02 – Lösungshinweise Obersatz: Die Wahlprüfungsbeschwerde hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist. A.
B.
Zulässigkeit der Wahlprüfungsbeschwerde I.
Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts, § 13 Nr. 15 BVerfGG: Gemäß § 26 III 1 EuWG ist gegen die Entscheidung des Deutschen Bundestages im Wahlprüfungsverfahren die Beschwerde an das Bundesverfassungsgericht zulässig. Dieses ist somit zuständig.
II.
Vorverfahren: W legte am 31. Juli 2009 beim Deutschen Bundestag Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus Deutschland ein, vgl. § 26 II EuWG i.V.m. § 2 I WahlPrG. Die Wahlprüfung durch den Bundestag (erforderlich nach § 26 II EuWG i.V.m. § 1 I WahlPrG) wurde abgeschlossen.
III.
Beschwerdeberechtigung, § 26 III 2 EuWG: W ist Wahlberechtigter. Auch ist sein Einspruch vom 31. Juli 2009 vom Deutschen Bundestag verworfen worden. Zudem sind ihm 135 Wahlberechtigte beigetreten. W ist somit beschwerdeberechtigt nach § 26 III 2 EuWG.
IV.
Beschwerdegegenstand, § 26 III 1 EuWG: Der Beschluß des Deutschen Bundestages, mit dem der Wahleinspruch des W zurückgewiesen wurde, ist tauglicher Beschwerdegegenstand („Entscheidung des Deutschen Bundestages im Wahlprüfungsverfahren“, § 26 III 1 EuWG).
V.
Beschwerdebefugnis, § 26 III 2 EuWG: Der Einspruch des W wurde vom Bundestag verworfen.
VI.
Form und Frist, § 26 III 2 EuWG, § 23 I, 48 II BVerfGG: Laut Sachverhalt wurde die Beschwerde form- und fristgerecht erhoben (schriftlich und begründet, Formerfordernisse des Beitritts, Einlegung und Begründung binnen einer Frist von zwei Monaten nach Beschlußfassung des Bundestages).
VII.
Rechtsschutzbedürfnis: Die Legislaturperiode ist auch nicht abgelaufen.
Begründetheit der Wahlprüfungsbeschwerde Obersatz: Die Wahlprüfungsbeschwerde ist begründet, wenn der Beschluß des Bundestages über die Gültigkeit der Europawahl formell und/oder materiell rechtswidrig ist und/oder wenn das amtlich festgestellte Wahlergebnis auf der Anwendung eines verfassungswidrigen Wahlgesetzes beruht. I.
Formelle Rechtmäßigkeit: Formelle Mängel sind nicht ersichtlich.
II.
Materielle Rechtmäßigkeit – Vorliegen eines Wahlfehlers: Die Wahl zum Europäischen Parlament ist dann materiell rechtmäßig, wenn weder die zugrunde liegenden einfachgesetzlichen Regelungen verfassungswidrig sind, noch die Durchführung der Wahl gegen Verfassungsnormen verstößt.
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Hinweis: Das Bundesverfassungsgericht hat im Rahmen einer Wahlprüfungsbeschwerde nach § 26 III EuWG nicht nur die Einhaltung der Vorschriften des für die Europawahl geltenden Wahlrechts durch die zuständigen Wahlorgane und den Deutschen Bundestag zu gewährleisten, sondern prüft auch, ob die Vorschriften des Europawahlgesetzes mit den Vorgaben der Verfassung in Einklang stehen. Insoweit gilt für die Europawahl nichts anderes als für die Wahl zum Deutschen Bundestag. 1.
Prüfungsmaßstab: Das EuWG ist als deutsches Bundesrecht am Grundgesetz und den darin enthaltenen Grundsätzen der Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der politischen Parteien zu messen. Die verfassungsrechtliche Prüfung ist auch nicht durch verbindliche unionsrechtliche Vorgaben eingeschränkt. Zwar enthält Art. 223 AEUV einen Auftrag zur Ausarbeitung eines einheitlichen Wahlverfahrens. Allerdings kam es bislang noch nicht zur Normierung eines für alle Mitgliedstaaten verbindlichen Wahlverfahrens. Unionsrechtliche Ermächtigung und Rahmen für die Regelungen der Mitgliedstaaten für die Europawahl bildet der Direktwahlakt (DWA) von 1976. Soweit das Unionsrecht keine Vorgaben enthält, richtet sich das Wahlverfahren in jedem Mitgliedstaat nach den innerstaatlichen Vorschriften, vgl. Art. 7 II DWA. Speziell für die Frage der Sperrklausel sieht Art. 3 DWA vor, daß die Mitgliedstaaten für die Sitzvergabe eine Mindestschwelle festlegen können, die landesweit jedoch nicht mehr als 5% der Stimmen betragen darf. Hier wird den Mitgliedstaaten ein Gestaltungsspielraum eingeräumt. Dessen Nutzung unterliegt den verfassungsrechtlichen Bindungen des jeweiligen Mitgliedstaates und ist als Ausübung deutscher Hoheitsgewalt am deutschen Grundgesetz zu messen. Eine Verpflichtung wird nicht begründet. Daher läßt Art. 3 DWA die Reichweite der innerstaatlichen Überprüfung der Vereinbarkeit einer entsprechenden Regelung mit den durch das Grundgesetz verbürgten Wahlrechtsgrundsätzen unberührt.
2.
Verfassungsmäßigkeit des EuWG: In der in § 2 VII EuWG vorgesehenen Sperrklausel könnte ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl und den Grundsatz der Chancengleichheit bestehen. a)
Grundsatz der Gleichheit der Wahl und Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien: Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ergibt sich der Grundsatz der Gleichheit der Wahl für die Wahl der deutschen Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus Art. 3 I GG in seiner Ausprägung als Gebot formaler Wahlgleichheit. Hinweis: In der Entscheidung aus dem Jahre 1979 wurde Art. 3 I GG im Rahmen der Zulässigkeit als betroffenes Grundrecht herangezogen (Grundsatz der Gleichheit der Wahl als ein Anwendungsfall des allgemeinen Gleichheitssatzes). In der Begründetheitsprüfung wurde allerdings von der Wahlrechtsgleichheit als ungeschriebenem Verfassungsrecht ausgegangen, sofern die Anwendungsbereiche von Art. 38 I 1 GG und Art. 28 I 2 GG nicht berührt sind (BVerfGE 51, 222 [232
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ff.]). Seit 1998 wurden letztere als speziellere wahlrechtliche Gleichheitsrechte angesehen. Dies aber gilt nicht für die Europawahlen. Der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit gebietet, daß alle Wahlberechtigten das aktive und passive Wahlrecht möglichst in formal gleicher Weise ausüben können, und ist im Sinne einer strengen und formalen Gleichheit zu verstehen. Für das Wahlgesetz folgt aus dem Grundsatz, daß die Stimme eines jeden Wahlberechtigten grundsätzlich den gleichen Zählwert und die gleiche rechtliche Erfolgschance haben muß. Alle Wähler sollen mit der Stimme, die sie abgeben, den gleichen Einfluß auf das Wahlergebnis haben. Aufgrund der durch Art. 1 I DWA vorgegebenen und in § 2 I EuWG angeordneten Verhältniswahl ist der deutsche Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Europawahlgesetzes verpflichtet, für die Wahl der deutschen Abgeordneten des Europäischen Parlaments grundsätzlich sowohl die Zähl- als auch die Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen sicherzustellen. Zwar gibt das Primärrecht der Union selbst Unterschiede im Stimmgewicht vor, indem Art. 14 II [I] 3 EUV eine degressiv proportionale Kontingentierung der auf die Mitgliedstaaten entfallenden Sitze vorsieht. Jedoch betreffen diese Unterschiede im Stimmgewicht allein das Verhältnis zwischen den Wählern aus den Mitgliedstaaten. Abstriche vom wahlrechtlichen Grundsatz der Erfolgswertgleichheit der Stimmen im Verhältnis zwischen den Teilnehmern an der Wahl des deutschen Abgeordnetenkontingents werden durch diese primärrechtliche Vorgabe weder verlangt noch gerechtfertigt. Nach dem Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien (abzuleiten aus Art. 21 I, Art. 3 I GG) und dem unter dem Gesichtspunkt demokratisch gleicher Wettbewerbschancen auch für sonstige politische Vereinigungen im Sinne des § 8 I EuWG gebotenen Chancengleichheit müssen jeder Partei, jeder Wählergruppe und ihren Wahlbewerbern grundsätzlich die gleichen Möglichkeiten im gesamten Wahlverfahren und damit gleiche Chancen bei der Verteilung der Sitze eingeräumt werden. Das Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit hängt eng mit den Grundsätzen der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl zusammen, die ihre Prägung durch das Demokratieprinzip erfahren. Deshalb ist hier – ebenso wie bei der durch die Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl verbürgten gleichen Behandlung der Wähler – Gleichheit in einem strikten und formalen Sinn zu fordern. Wenn die öffentliche Gewalt in den Parteienwettbewerb in einer Weise eingreift, die die Chancen der politischen Parteien verändern kann, sind ihrem Ermessen daher besonders enge Grenzen gezogen. b)
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Ungleichgewichtung: Zwar bleibt der Zählwert aller Wählerstimmen von der in § 2 VII EuWG vorgesehenen Fünf-Prozent-Sperrklausel unberührt. Jedoch werden die Wählerstimmen hinsichtlich ihres Erfolgswerts ungleich behandelt. Wählerstimmen, die für eine Partei abgegeben wurde, die 5% der Stimmen oder mehr auf sich vereinigen
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konnte, haben unmittelbaren Einfluß auf die Sitzverteilung nach dem Verhältnisausgleich. Diejenigen Wählerstimmen aber, die für Parteien abgegeben worden sind, die an der 5%-Sperrklausel des § 2 VII EuWG gescheitert sind, bleiben ohne Erfolg. Damit liegt eine Ungleichbehandlung der Wählerstimmen vor. Zugleich wird durch die 5%-Sperrklausel der Anspruch der politischen Parteien auf Chancengleichheit beeinträchtigt. Parteien, die weniger als 5% der Stimmen auf sich vereinigen, werden bei der Verteilung der Sitze nicht berücksichtigt. Hinweis: Nach Berechnungen des Bundeswahlleiters blieben bei der Europawahl 2009 in Deutschland sieben Parteien und sonstige politische Vereinigungen unberücksichtigt, die ohne die 5%-Sperrklausel bei der Sitzverteilung zum Zuge gekommen wären. c)
Verfassungsrechtliche Rechtfertigung: Die durch die Sperrklausel bewirkte Ungleichbehandlung könnte aber verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. aa)
Prüfungsmaßstab: Die Verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Einschränkungen der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien folgt den gleichen Maßstäben, stehen sie doch in engem Zusammenhang. Es besteht kein absolutes Differenzierungsverbot. Allerdings verbleibt dem Gesetzgeber aufgrund des formalen Charakters der beiden Grundsätze bei der Ordnung des Wahlrechts nur ein enger Spielraum für Differenzierungen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist für die Rechtfertigung einer Differenzierung stets ein besonderer, sachlich legitimierter, zwingender Grund erforderlich. Dies bedeutet aber nicht, daß sich die Differenzierung als von Verfassung wegen notwendig darstellen muß. Ausreichend sind vielmehr auch Gründe, die von der Verfassung legitimiert und von einigem Gewicht sind, das der Wahlgleichheit „die Waage halten kann“. Differenzierungen müssen zur Verfolgung ihrer Zwecke geeignet und erforderlich sein. In Betracht kommen als Gründe insbesondere die mit der Wahl verfolgten Ziele. Dies sind zum einen die Sicherung der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes, und zum anderen die Sicherung der Funktionsfähigkeit der gewählten Volksvertretung. Dies schließt nicht nur die Schaffung einer Volksvertretung, sondern auch eines funktionierenden Vertretungsorgans ein. Dabei sind die konkreten Funktionen des zu wählenden Organs entscheidend. Eine abstrakte und einheitliche Beantwortung der Frage, was der Sicherung der Funktionsfähigkeit dient und dafür erforderlich ist, ist demnach nicht möglich. Bei seiner Einschätzung hat der Gesetzgeber sich nicht an abstrakten Fallgestaltungen, sondern an der politischen Wirklichkeit zu orientieren. Er ist auch dazu verProf. Dr. Fabian Wittreck
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pflichtet, eine getroffene Regelung zu überprüfen und gegebenfalls zu ändern, sofern die verfassungsrechtliche Rechtfertigung durch neue Entwicklungen in Frage gestellt wird. Dies kann etwa der Fall sein, wenn sich die vom Gesetzgeber vorausgesetzten tatsächlichen oder normativen Grundlagen ändern oder, wenn sich die beim Erlaß der Vorschrift in Hinblick auf die Auswirkungen zugrundelegte Prognose als irrig erwiesen hat. Aus diesen Gründen kann eine Wahlrechtsbestimmung zu einem Zeitpunkt als verfassungsrechtlich unbedenklich eingeordnet werden, während dies für einen anderen Zeitpunkt nicht gilt. Die Vereinbarkeit einer Sperrklausel – wie der in Frage stehenden – mit dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit und dem Grundsatz der Chancengleichheit det Parteien kann gerade nicht ein für alle Mal abstrakt beurteilt werden. Maßgeblich für die Beurteilung sind allein die aktuellen Verhältnisse. bb)
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Kontrollintensität: Auch zur Frage der Kontrollintensität äußert sich das Bundesverfassungsgericht. Zwar hat es nicht die Aufgabe des Gesetzgebers zu übernehmen und alle zur Überprüfung relevanten tatsächlichen wie rechtlichen Gesichtspunkte selbst zu ermitteln und gegeneinander abzuwägen oder eigene Zweckmäßigkeitsbeurteilungen an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers zu setzen. Da aber mit Regelungen, die die Bedingungen der politischen Konkurrenz berühren, die parlamentarische Mehrheit gewissermaßen in eigener Sache tätig wird und gerade bei der Wahlgesetzgebung die Gefahr besteht, daß die jeweilige Parlamentsmehrheit sich statt von gemeinwohlbezogenen Erwägungen vom Ziel des eigenen Machterhalts leiten läßt, unterliegt die Ausgestaltung des Wahlrechts hier einer strikten verfassungsgerichtlichen Kontrolle. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beruht der Einsatz einer Sperrklausel auf der Einschätzung des Gesetzgebers von der Wahrscheinlichkeit des Einzugs von Splitterparteien, dadurch zu erwartender Funktionsstörungen und deren Gewichts für die Aufgabenerfüllung der Volksvertretung. Bei dieser Prognoseentscheidung darf der Gesetzgeber nicht auf die Feststellung der rein theoretischen Möglichkeit einer Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Volksvertretung zur Rechtfertigung des Eingriffs abstellen. Jedenfalls die allgemeine und abstrakte Behauptung, durch den Wegfall der Fünf-ProzentSperrklausel werde der Einzug kleinerer Parteien und Wählergemeinschaften in die Vertretungsorgane erleichtert und dadurch die Willensbildung in diesen Organen erschwert, kann den Eingriff in die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit nicht rechtfertigen. Die bloße „Erleichterung“ oder „Vereinfachung“ der Beschlussfassung ist danach nicht ausreichend. Zur Rechtfertigung der Fünf-Prozent-Sperrklausel bedarf es vielmehr der mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Vertre-
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tungsorgane. Diese in der Entscheidung zum Kommunalrecht aus 2008 konkretisierten Maßstäbe gelten – wie das Bundesverfassungsgericht feststellt – auch für die verfassungsgerichtliche Prüfung des Wahlrechts zum Europäischen Parlament. Wie bei der Regelung des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag bestehe nämlich bei der Ausgestaltung des Europawahlrechts die Gefahr, daß der deutsche Wahlgesetzgeber mit einer Mehrheit von Abgeordneten die Wahl eigener Parteien auf europäischer Ebene durch eine Sperrklausel und den hierdurch bewirkten Ausschluß kleinerer Parteien absichern könnte. Zudem läßt sich der strenge Maßstab einer Rechtfertigung von Differenzierungen auch vor dem Hintergrund der seit dem Lissabonvertrag gewachsenen Bedeutung des Europäischen Parlamentes als dem einzigen unmittelbar demokratisch legitimierten Organ der Europäischen Union begründen. Hinweis: Eine abweichende Meinung hingegen vertreten die Richter Di Fabio und Mellinghoff. Die Frage, wie der Maßstab angewandt wird, ob letztlich jeder sachliche Rechtfertigungsgrund für eine unterschiedliche Behandlung ausreicht, ob nur verfassungsrechtlich zwingend gebotene Gründe anerkannt werden oder sogar in dogmatischer Parallele zum Recht der Gefahrenabwehr der Rechtfertigungsgrund von einer hohen Eintrittswahrscheinlichkeit abhängig gemacht wird, richte sich nach der Eingriffsintensität. Zur Anwendung des Maßstabes bedürfe es somit in jedem Fall einer vorangehenden Bewertung der Art und Wirkung von Differenzierungen. Eine bereits dem Grunde nach verbotene Differenzierung liege mit der Fünf-Prozent-Sperrklausel nicht vor. Allerdings dürfe keine vom Kontext losgelöste Bewertung erfolgen – hier der Einordnung als einer das Verhältniswahlrecht ergänzenden Regelung. Es wird betont, daß die verfassungsgerichtliche Prüfung kein einzelnes Element eines Wahlsystems herausgreifen und daran strenge Gleichheitsanforderungen richten dürfe, sondern sie müsse das Wahlsystem insgesamt würdigen und gewichten. Das Verhältniswahlsystem mit der Annexbedingung einer Fünf-Prozent-Sperrklausel sei aus Sicht der Erfolgswertgleichheit weitaus weniger einschneidend als ein – vom Grundgesetz ebenfalls erlaubtes – einstufiges Mehrheitswahlsystem, welches dazu führen könne, daß sogar mehr als 50% der im Wahlkreis abgegebenen Stimmen ohne jede Mandatswirkung blieben. Die Wahlgrundsätze aus Art. 38 GG nötigten nicht zur Ausgestaltung eines reinen Wahlsystems, sondern ließen Modifikationen und Mischungen zu. Wahlrechtsfragen seien der politischen Gestaltung des Gesetzgebers unterworfen, dessen Regelungsauftrag angesichts der Allgemeinheit der Wahlgrundsätze dem Bundesverfassungsgericht Zurückhaltung auferlege. Bestimme man die Eingriffsintensität der
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Fünf-Prozent-Sperrklausel für die Europawahl, so ergebe sich keine Besonderheit im Vergleich zu den Bedingungen anderer Wahlen, die eine besonders strenge Prüfung gebieten würde. Das Gegenteil sei der Fall. Als Argument dienen etwa die leichtere Experimentierfreude als bei Wahlen, bei denen es auf klare Mehrheitsverhältnisse ankomme, ferner die geringere Intensität des Eingriffs aufgrund der fehlenden Bedeutung für eine Regierungsbildung sowie die in der Entwicklung abgeschwächte Wirkung der Sperrklausel, die heutzutage aus dem Stand überboten werden könne. Eine strengere Prüfung sei auch vor dem Hintergrund der in Art. 41 GG zum Ausdruck kommenden Wertungen (Zurückhaltung des Gerichts) nicht geboten. Auch könne eine Entscheidung in eigener Sache nicht einfach unterstellt werden. Mit dem Verdacht, hier wollten etablierte Parteien, in einem Kartell organisiert, die Konkurrenz fernhalten, dürfe nicht ohne weiteres eine verschärfte gerichtliche Kontrolle begründet werden. Dem Gericht sei vielmehr Zurückhaltung auferlegt. Der Senat ziehe den Gestaltungsspielraum des Wahlgesetzgebers zu eng (BverfG, Urt. v. 9.11.2011 – 2 BvC 4/10 u.a, BVerfGE 129, 300, Rn. 149 ff.). cc)
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Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit als zwingender Grund (1)
Zunahme von Abgeordneten kleiner Parteien: Es ist durchaus zu erwarten, daß ohne eine Sperrklausel in Deutschland – sowie unter Berücksichtigung einer möglichen Beseitigung von Zugangsbeschränkungen in anderen Mitgliedstaaten – die Zahl der nur mit einem oder zwei Abgeordneten im Europäischen Parlament vertretenen Parteien zunimmt und es sich dabei auch nicht um eine zu vernachlässigende Größenordnung handelt. Ohne Sperrklausel in Deutschland wären statt aktuell 162 dann 169 Parteien im Europäischen Parlament vertreten. Die Zunahme von Abgeordneten kleiner Parteien allein reicht aber nicht aus, um eine Rechtfertigung aus Gründen des Schutzes der Funktionsfähigkeit anzunehmen.
(2)
Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit: Zentrale Arbeitseinheiten des Europäischen Parlaments sind die Fraktionen, die über eine erhebliche Integrationskraft verfügen und es über die Jahre hinweg vermocht haben, die im Zuge der Erweiterungen der Europäischen Union hinzutretenden Parteien trotz der großen Bandbreite der verschiedenen politischen Strömungen zu integrieren. Nach diesen Erfahrungen ist jedenfalls grundsätzlich davon auszugehen, daß auch wei-
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tere kleine Parteien, die beim Fortfall der Sperrklausel im Europäischen Parlament vertreten wären, sich den bestehenden Fraktionen anschließen können. Entsprechend verhält es sich mit der Fähigkeit der Fraktionen, durch Absprachen in angemessener Zeit zu Mehrheitsentscheidungen zu kommen. Daß das Bundesverfassungsgericht die Fünf-Prozent-Sperrklausel bei den Wahlen zum Europäischen Parlament 1979 für verfassungsgemäß erachtete, da die Sperrklausel geeignet und erforderlich sei, um dessen Fähigkeit zu einer überzeugenden Mehrheitsbildung und damit zur Erledigung der dem Europäischen Parlament seinerzeit zugewiesenen Aufgaben zu sichern, bringt nicht eine Unbedenklichkeit auf alle Zeiten mit sich (s.o.). Zwar ist anzunehmen, daß die für die parlamentarische Willensbildung erforderliche Kompromisssuche und Konsensbildung umso aufwendiger wird, je mehr Akteure mit unterschiedlichen Auffassungen einbezogen werden müssen. Soweit es sich nicht um politische Grundsatzfragen handelt, ist die Parlamentswirklichkeit jedoch ohnehin dadurch gekennzeichnet, daß sich – mangels dauerhafter Koalitionen auf europäischer Ebene – bei den unterschiedlichen Abstimmungsgegenständen immer wieder neue Mehrheiten bilden. Die „etablierten“ Fraktionen im Europäischen Parlament haben sich in der parlamentarischen Praxis kooperationsbereit gezeigt. Sie sind in der Lage, die erforderlichen Abstimmungsmehrheiten zu organisieren. Es ist nicht ersichtlich, daß bei dem Wegfall der Fünf-ProzentSperrklausel mit Abgeordneten kleiner Parteien in einer Größenordnung zu rechnen wäre, die es den vorhandenen politischen Gruppierungen im Europäischen Parlament unmöglich machen würde, in einem geordneten parlamentarischen Prozeß zu Entscheidungen zu kommen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht in Hinblick auf die in bestimmten Konstellationen geforderte qualifizierte Mehrheit (Art. 294 VII lit. b und c AEUV). Zwar wird die Erreichung einer solchen erschwert. Jedoch zielt die Anordnung qualifizierter Mehrheiten in den Verträgen gerade auf eine breite Zustimmung im Europäischen Parlament und nimmt nicht zuletzt mit Blick auf das institutionelle Gleichgewicht mit den anderen Organen (Art. 13 EUV) der Europäischen Union in Kauf, daß das Europäische Parlament bei unüberwindbaren Meinungsverschiedenheiten keine durchsetzbare Position erlangt. Eine Funktionsbeeinträchtigung des Europäischen Parlaments käme diesbezüglich allenfalls in Betracht, wenn bei realistischer Einschätzung die Zahl der grundsätzlich kooperationsunwilligen Abgeordneten so hoch wäre, daß qualifi-
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zierte Mehrheiten in aller Regel praktisch nicht mehr zu erreichen wären. Das Eintreten derartiger Verhältnisse durch den Wegfall der Sperrklauseln ist aber nicht zu erwarten. Auch ist nicht zu befürchten, daß eine grundlegende Veränderung der Verhältnisse dergestalt eintritt, daß informelle Verhandlungen vor der ersten Lesung nicht möglich sind. Es ist somit nicht hinreichend erkennbar, daß auch im Falle eines erschwerten Abstimmungsaufwandes Mehrheitsentscheidungen nicht mehr erreicht werden könnten. (3)
Zwischenergebnis: Somit ist eine hinreichend wahrscheinlich zu erwartende Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments nicht anzunehmen. Hinweis: Auch gegen diese Argumentation wendet sich das Sondervotum. Der Differenzierungsgrund der Funktionsbeeinträchtigung des Parlaments werde durch den Senat letztlich auf eine Funktionsunfähigkeit begrenzt, ohne daß die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hierfür eine Grundlage biete. Ein sachlicher Grund für die Rechtfertigung der Fünf-ProzentSperrklausel bestehe bereits in der Verringerung möglicher Funktionsbeeinträchtigungen des Europaparlaments und liege nicht erst dann vor, wenn dessen künftige Handlungsunfähigkeit zu erwarten sei (BVerfG, Urt. v. 9.11.2011 – 2 BvC 4/10, Rn. 158). Der Umstand, daß es dem Europaparlament bisher gelungen sei, eine mehrheitsfähige Willensbildung herbeizuführen, könne kein Argument dafür sein, daß die Verhinderung einer zusätzlichen parlamentarischen Zergliederung die Sperrklausel nicht rechtfertigen könne. Jede weitere politische Fragmentierung erhöhe nämlich den zeitlichen und personellen Aufwand, Konsens herbeizuführen und verkleinere größere politische Richtungen mit Wiedererkennungswert für die Wähler. Dem Gesetzgeber müsse, gerade vor dem Hintergrund, daß sich das Europäische Parlament nach Inkrafttreten des Lissabonvertrages in einer neuen Phase seiner Entwicklung befinde, ein Spielraum für die Beurteilung von Funktionsrisiken zugebilligt werden (BVerfG, Urt. v. 9.11.2011 – 2 BvC 4/10, Rn. 160). Deutschland trage zusammen mit den anderen Mitgliedstaaten insgesamt Verantwortung für die Funktionsfähig-
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keit des Europaparlaments. Mit der isolierten Aufhebung der deutschen Fünf-ProzentSperrklausel durch den Senat werde im europäischen Umfeld ein Sonderweg beschritten (BVerfG, Urt. v. 9.11.2011 – 2 BvC 4/10, Rn. 157). dd)
Aus der Aufgabenzuteilung folgender zwingender Grund: Bei der Wahl zum Deutschen Bundestag findet die 5%Sperrklausel ihre Rechtfertigung im wesentlichen darin, daß die Bildung einer stabilen Mehrheit für die Wahl einer handlungsfähigen Regierung und deren fortlaufende Unterstützung nötig ist und dieses Ziel durch eine Zersplitterung des Parlaments in viele kleine Gruppen gefährdet wird. Jedoch besteht keine zur Wahl zum Deutschen Bundestag vergleichbare Interessenlage auf europäischer Ebene. Das Europäische Parlament wählt keine Unionsregierung, die auf seine fortlaufende Unterstützung angewiesen wäre. Ebensowenig ist die Gesetzgebung der Union von einer gleichbleibenden Mehrheit im Europäischen Parlament abhängig, die von einer stabilen Koalition bestimmter Fraktionen gebildet würde und der eine Opposition gegenüberstünde. Zwar wählt das Europäische Parlament auf Vorschlag des Europäischen Rates mit der Mehrheit seiner Mitglieder den Kommissionspräsident (Art. 17 VII UAbs. 1 S. 2 EUV), auch ist ein Zustimmungsvotum des Europäischen Parlamentes in Hinblick auf die gesamte Kommission vorgesehen (Art17 VII UAbs. 7 EUV), jedoch sehen die Verträge keine Abhängigkeit der Kommission bei der Erfüllung ihrer Aufgaben vom Europäischen Parlament vor, solange dieses nicht nach Art. 234 II AEUV das Vertrauen entzogen hat. Im Rahmen des bei der unionalen Rechtsetzung zur Regel gewordenen ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens nach Art. 294 AEUV ist eine mehrheitsgetragene Zustimmung des Europäischen Parlaments für das Zustandekommen eines Rechtsaktes nicht zwingend. So gilt der Rechtsakt, den der Rat nach Art. 294 V AEUV festlegt und dem Parlament übermittelt, auch dann als erlassen, wenn sich das Parlament in der zweiten Lesung zum Standpunkt des Rates nicht äußert oder den Ratsvorschlag nicht mit der Mehrheit seiner Mitglieder ablehnt (Art. 294 VII lit. a 2. Alt. , lit. b AEUV). Die Gesetzgebung ist nach dem Primärrecht so konzipiert, daß sie nicht zwingend von bestimmten Mehrheitsverhältnissen im Parlament abhängt. Hinweis: Hier empfiehlt sich eine Lektüre des Art. 294 AEUV. Auch aus der Notwendigkeit der Zustimmung des Europäischen Parlamentes in Fragen, die besonderen Gesetzgebungsverfahren unterliegen, kann nicht auf die Erforderlichkeit einer stabilen Parlamentsmehrheit geschlossen werden. Denn diese ist in Prof. Dr. Fabian Wittreck
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Einzelfragen vorgesehen, so daß eine generelle Blockade nicht droht. Etwas anderes ergibt sich auch nicht in Hinblick auf die Aufgaben politischer Kontrolle. Die Aufgaben des Europäischen Parlamentes sind so ausgestaltet, daß es an zwingenden Gründen zur Rechtfertigung des Eingriffs in die Wahlrechts- und Chancengleichheit fehlt.
3. III.
ee)
Vertretung deutscher Interessen als zwingender Grund: In seiner Stellungnahme bringt der Deutsche Bundestag vor, die Fünf-Prozent-Sperrklausel im Europarecht sei zur Gewährleistung einer wirksamen Vertretung der deutschen Interessen im Europäischen Parlament erforderlich. Schließlich verringere sich der deutsche Einfluß in den Fraktionen mit jedem Sitz, der an eine nicht fraktionsgebundene kleine Partei geht. Dies kann allerdings keinen tragfähigen Grund für eine wahlrechtliche Ungleichbehandlung darstellen. So darf der Gesetzgeber größere Parteien nicht allein bevorzugen, weil diese ihre Auffassungen auf europäischer Ebene voraussichtlich mit größerer Aussicht auf Erfolg als kleine Parteien einbringen können.
ff)
Rückkoppelung als zwingender Grund: Auch das Argument der erforderlichen Rückkoppelung kann keinen tragfähigen Grund für eine wahlrechtliche Ungleichbehandlung darstellen, soweit es um die Wirksamkeit der Vertretung deutscher Interessen geht. Darüber hinaus ist es als ein gewichtiges politisches Anliegen zu qualifizieren, eine verfassungsrechtliche Bedeutung aber kommt ihm nicht zu.
gg)
Zwischenergebnis: Die Einschränkung der Grundsätze der Wahlgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien durch die Sperrklausel des § 2 VII EuWG ist nicht gerechtfertigt. Somit ist ein wahlrechtlicher Fehler gegeben.
Anwendung des Wahlrechts: Die Anwendung beruht auf einer verfassungswidrigen Vorschrift. Ein weiterer wahlrechtlicher Fehler besteht nicht.
Rechtsfolge 1.
Nichtigkeit des § 2 VII EuWG: Die Fünf-Prozent-Sperrklausel ist mit den Grundsätzen der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien unvereinbar. Das Bundesverfassungsgericht wird § 2 VII EuWG somit entsprechend § 78 S. 1, § 95 III 2 BVerfGG für nichtig erklären.
2.
Gültigkeit der Wahl 2009 a)
Mandatsrelevanz: Der Wahlfehler hat einen Einfluß auf die Sitzverteilung im Europäischen Parlament. Ohne Sperrklausel in Deutschland wären statt aktuell 162 dann 169 Parteien im Europäischen Parlament vertreten. Eine Mandatsrelevanz und eine Erheblichkeit des Wahlfehlers sind somit zu bejahen.
b)
Abwägung mit Bestandsschutz des Parlaments: Es hat eine Abwägung zwischen dem Erfordernis des Bestandsschutzes einer ge-
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wählten Volksvertretung, welches seine rechtliche Grundlage im Demokratiegebot findet, mit den Auswirkungen des festgestellten Wahlfehlers zu erfolgen, um die Folge für die Gültigkeit der Wahl zu bestimmen. Wahlbeeinflussungen einfacher Art und ohne jedes Gewicht führen nicht zur Ungültigkeit einer Wahl. Der Eingriff in die Zusammensetzung einer gewählten Volksvertretung durch eine wahlprüfungsrechtliche Entscheidung muß vor dem Interesse an der Erhaltung der gewählten Volksvertretung gerechtfertigt werden. Je tiefer und weiter die Wirkungen eines solchen Eingriffs reichen, desto schwerer muß der Wahlfehler wiegen, auf den dieser Eingriff gestützt wird. Die Ungültigerklärung einer gesamten Wahl setzt einen erheblichen Wahlfehler von solchem Gewicht voraus, daß ein Fortbestand der in dieser Weise gewählten Volksvertretung unerträglich erschiene. Insofern ist zunächst an eine Berichtigung der Wahl zu denken. Die Anzahl der unberücksichtigt gebliebenen Parteien läßt sich rechnerisch ermitteln. Jedoch kann angenommen werden, daß auch bei der Europawahl in Deutschland 2009 aufgrund der Sperrklausel strategisches Wahlverhalten aufgetreten ist. Es ist nicht auszuschließen, daß die Klausel Wähler davon abgehalten hat, eine bevorzugte kleine Partei zu wählen oder aber gerade einer solchen demonstrativ in Hinblick auf die voraussichtliche Folgenlosigkeit keine Stimme gegeben haben. Ferner sieht das Wahlrecht keine entsprechenden Regelungen zum Übergang von Mandaten vor. Eine Neuwahl in Deutschland beträfe zwar lediglich das deutsche Kontingent an Abgeordneten. Es wirkte sich aber störend und mit nicht abschätzbaren Folgen auf die laufende Arbeit des Europäischen Parlaments aus, insbesondere auf die Zusammenarbeit der Abgeordneten in den Fraktionen und Ausschüssen. Demgegenüber ist der Wahlfehler nicht als „unerträglich“ anzusehen. Er betrifft nur einen geringen Anteil der Abgeordneten des deutschen Kontingents und stellt die Legitimation der deutschen Abgeordneten des Europäischen Parlaments in ihrer Gesamtheit nicht in Frage. Im Rahmen der gebotenen Abwägung ist dem Bestandsschutz der im Vertrauen auf die Verfassungsmäßigkeit des Europawahlgesetzes zusammengesetzten Volksvertretung damit Vorrang gegenüber der Durchsetzung des festgestellten Wahlfehlers einzuräumen. c)
C.
Zwischenergebnis: Der Wahlfehler führt somit nicht dazu, die Wahl zum Europäischen Parlament des Jahres 2009 in Deutschland für ungültig zu erklären und eine erneute Wahl anzuordnen.
Endergebnis: Die Wahlprüfungsbeschwerde ist zulässig und überwiegend begründet, hat also Aussicht auf Erfolg.
Abwandlung: Fraglich ist im Lichte obiger Ausführungen allein, ob wenigstens die durch diese Drei-ProzentSperrklausel bewirkte Ungleichbehandlung aufgrund der neu angeführten Argumente verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden kann. (…)
Prof. Dr. Fabian Wittreck
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aa)
Prüfungsmaßstab: s.o.
bb)
Kontrollintensität: s.o.
cc)
Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit als zwingender Grund
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(1)
Zunahme von Abgeordneten kleiner Parteien: s.o.
(2)
Erwartbare politische und institutionelle Entwicklungen und damit verbundene Änderungen der Funktionsbedingungen des Europäischen Parlaments in der nächsten Wahlperiode: Vorschläge, die darauf abzielen, den Einfluss des Parlaments sowie dessen Politisierung voranzutreiben, begegneten bereits in der Vergangenheit häufig. Eine antagonistische Profilierung von Regierung und Opposition auf europäischer Ebene kann (!) unter Umständen dann eine Sperrklausel im deutschen Europawahlrecht rechtfertigen, wenn in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht Verhältnisse gegeben sind, die denen auf nationaler Ebene vergleichbar sind, wo die Bildung einer stabilen Mehrheit für die Wahl einer handlungsfähigen Regierung und deren fortlaufende Unterstützung nötig ist. Eine dahingehende Entwicklung des Europäischen Parlaments wird zwar (derzeit) politisch angestrebt, steckt indes noch in den Anfängen. Tatsächliche Auswirkungen auf die Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments sind derzeit nicht abzusehen, so daß für die Prognose des Gesetzgebers, es drohe ohne die 3%-Sperrklausel eine Funktionsbeeinträchtigung des Europäischen Parlaments, die Grundlage fehlt (BVerfG, Urt. v. 26.2.2014 – 2 BvE 2/13 u.a., Rn. 72, NJW 2014, 1431). In rechtlicher Hinsicht gilt zunächst, daß das Europäische Parlament zwar im Einverständnis mit der derzeitigen Kommission das Ziel einer Stärkung der politischen Legitimität beider Institutionen verfolgt, deren Wahl jeweils unmittelbarer mit der Entscheidung der Wähler verknüpft werden soll. Um dies zu fördern, sollen künftig die europäischen politischen Parteien Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten nominieren. Eine Änderung der europarechtlichen Grundlagen wird dabei jedoch nicht angestrebt (BVerfG, Urt. v. 26.2.2014 – 2 BvE 2/13 u.a., Rn. 73, NJW 2014, 1431). In tatsächlicher Hinsicht gilt weiterhin, daß auch nicht belegbar ist, daß die Mehrheitsbildung im Europäischen Parlament infolge der angestrebten Politisierung strukturell beeinträchtigt wird (vgl. zum folgenden BVerfG, Urt. v. 26.2.2014 – 2 BvE 2/13 u.a., Rn. 77 ff, NJW 2014, 1431). Denn erstens ist zwar nicht auszuschließen, daß die Zusammenarbeit der beiden großen Fraktionen im Europäischen Parlament in Zukunft nicht mehr oder in signifikant geringerem Umfang stattfindet. Ob und inwieweit dies der Fall sein wird, ist jedoch ungewiß; denkbar sind jedenfalls auch Entwicklungen, die die Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments unbeeinträchtigt lassen. So kann es Gründe für die Annahme geben, daß die beiden großen Fraktionen, die regelmäßig eine absolute Mehrheit der Mandate auf sich vereinen, auch weiterhin in einer Vielzahl von Fällen an einer Zusammenarbeit interessiert, wenn nicht sogar auf eine solche angewiesen sind. Zweitens kann darüber hinaus auch nicht ohne weiteres unterstellt werden, daß die bislang praktizierte flexible Mehrheitsbildung im Parlament durch die Zuwahl neuer Abgeordneter kleiner Parteien nennenswert erschwert würde. Möglich ist auch, daß
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etwaige deutlichere politische Gegensätze zwischen den einzelnen Fraktionen deren internen Zusammenhalt gerade erhöhen. Zudem ist offen, ob eine infolge stärkerer parteipolitischer Profilierung veränderte Wahrnehmung des Europäischen Parlaments nicht Wähler mehr als bislang zu strategischem Wahlverhalten veranlassen und dies einer Zunahme der im Europäischen Parlament vertretenen Parteien entgegenwirken würde. Die Anzahl möglicherweise kooperationsunwilliger Abgeordneter lässt sich angesichts derartiger Ungewissheiten nicht mit der notwendigen Wahrscheinlichkeit prognostizieren. Drittens ist im Hinblick auf die Integrationskraft der Fraktionen schließlich nicht ersichtlich, daß in der kommenden Wahlperiode neu gewählte Abgeordnete kleinerer Parteien von vornherein keine Aufnahme in einer der etablierten Fraktionen oder in einer neu gegründeten weiteren Fraktion finden könnten. Es wird allerdings zu beobachten sein, wie sich eine denkbare Wahl von Abgeordneten weiterer, in der deutschen Parteienlandschaft im Wettbewerb stehender Parteien auswirken wird. Sich etwa konkret abzeichnenden Fehlentwicklungen kann der Gesetzgeber dann Rechnung tragen. Hinweis: Dieser Argumentation – die mit 5:3 Stimmen getragen wurde – fügte der Richter Müller ein Sondervotum an. Nach dessen Überzeugung stellt der Senat zu hohe Anforderungen an die Feststellung einer Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments und trägt damit dem Auftrag des Gesetzgebers zur Ausgestaltung des Wahlrechts unzureichend Rechnung. Es sei nicht Sache des Bundesverfassungsgerichts, die vertretbare Entscheidung des Gesetzgebers durch eine eigene vertretbare Entscheidung zu ersetzen. Die Entscheidung des Senats habe – bei konsequentem Weiterdenken – die Unzulässigkeit jeglicher Sperrklausel bei der Wahl des Europäischen Parlaments zur Folge. Die verfassungsrechtliche Bewertung von § 2 VII EuWG hätte daher von der Frage auszugehen, ob bei einem unionsweiten Verzicht auf Sperrklauseln mit einer Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments zu rechnen ist. Die Prognose des Gesetzgebers, daß eine weitere Zersplitterung des Europäischen Parlaments zur Verhinderung der Bildung notwendiger Mehrheiten führen kann, sei vor diesem Hintergrund nicht zu beanstanden. Denn inwieweit die Integrationskraft der bestehenden Fraktionen einer weiteren Zersplitterung des Parlaments entgegenwirken könnte, sei ebenso wenig absehbar wie die Bildung neuer Fraktionen. Soweit daher auf eine Zusammenarbeit der großen Fraktionen verwiesen würde, stünde dem bereits entgegen, daß der Fortbestand ihrer absoluten Mehrheit nicht gewährleistet ist. Die Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments sei auch hinreichend gewichtig, um einen Eingriff in die Grundsätze der Wahlgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien zu rechtfertigen. Das Europäische Parlament sei ein Parlament eigener Art. Die Unterschiede in Aufgabenstellung und Funktion zum Deutschen Bundestag seien (noch) erheblich, rechtfertigten jedoch eine grundlegend andere Gewichtung der Bedeutung der Sicherung seiner Funktionsfähigkeit nicht. Unter Berücksichtigung des Befundes, daß mit Ausnahme Spaniens in allen Mitgliedstaaten das Erreichen eines Stimmenanteils von
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mindestens 3% Voraussetzung der Zuteilung eines Mandats bei der Wahl zum Europäischen Parlaments ist, sei es nicht zu beanstanden, daß der Gesetzgeber eine Sperrklausel in dieser Höhe als zur Sicherung der Funktionsfähigkeit geeignet angesehen hat. Der Erforderlichkeit des Eingriffs könne auch die Möglichkeit einer späteren Korrektur des Europawahlrechts durch den nationalen Gesetzgeber – die ihre Wirkung erst für die nachfolgende Wahlperiode entfalten könnte – nicht entgegengehalten werden. Stattdessen wäre der Gesetzgeber viel eher verpflichtet, § 2 VII EuWG zu prüfen und zu ändern, sollte sich nachträglich die Fehlerhaftigkeit seiner Prognose herausstellen.
dd)
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Geringere Eingriffsqualität als die 5%-Klausel: Die 3%-Sperrklausel greift zwar weniger intensiv in die Wahlrechtsgleichheit und in die Chancengleichheit der Parteien ein als die frühere Sperrklausel. Daraus folgt jedoch nicht, daß der auch mit der 3%-Sperrklausel verbundene Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit vernachlässigbar wäre. Ein Sitz im Europäischen Parlament kann bereits mit etwa einem Prozent der abgegebenen Stimmen errungen werden, so daß die Sperrklausel auch praktische Wirksamkeit entfaltet (BVerfG, Urt. v. 26.2.2014 – 2 BvE 2/13 u.a., Rn. 83, NJW 2014, 1431).
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Zwischenergebnis: Somit ist eine mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwartende Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments nicht anzunehmen. Etwaige politische und institutionelle Entwicklungen und damit verbundene Änderungen der Funktionsbedingungen des Europäischen Parlaments in der nächsten Wahlperiode zeichnen sich derzeit nicht in einem derart konkreten Maße ab, das einen solchen Eingriff rechtfertigen könnte.
Ergebnis: Die Einschränkung der Grundsätze der Wahlgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien durch die neu eingefügte 3%-Sperrklausel des § 2 VII EuWG ist nicht gerechtfertigt. Exkurs: Sofern der Sachverhalt – und damit anders als diese Abwandlung – den tatsächlichen Verlauf der Dinge wiedergeben und neben der Einführung der 3%Sperrklausel die vorherige Verwerfung der 5%-Sperrklausel durch das BVerfG mitteilen sollte, muß in der Klausur noch auf einen möglichen Verstoß von § 2 VII EuWG n.F. gegen die Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen aus § 31 BVerfGG eingegangen werden. Erklärt nämlich das BVerfG eine mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Norm – hier: die 5%-Sperrklausel – gem. §§ 78 S. 1, 95 III 2 BVerfGG für nichtig und erläßt der Gesetzgeber sodann eine inhaltsgleiche Norm – hier: abermals eine (wenn auch abgesenkte) Sperrklausel –, so könnte darin eine Verletzung von § 31 BVerfGG zu sehen sein, da sich die Bindungswirkung einer Entscheidung des BVerfG nach überwiegender Ansicht nicht nur auf den Tenor, sondern auch auf die tragenden Gründe erstreckt. Doch selbst zwischen den Senaten des BVerfG ist umstritten, ob aus § 31 BVerfGG mit Blick darauf ein sog. Normwiederholungsverbot folgt (vgl. BVerfGE 1, 14 [37]; 69, 112 [115] einer- sowie E 77, 84 [103 f.] andererseits).
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