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VERBRAUCHERRECHT STÄRKEN UND MODERNISIEREN Stellungnahme des vzbv zur öffentlichen Konsultation der Europäischen Kommission zum Fitness-Check des europäischen Verbraucher- und Marketingrechts 17. August 2016
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INHALT I. ZUSAMMENFASSUNG DER WICHTIGSTEN POSITIONEN
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1. Mindestharmonisierung statt Vollharmonisierung ........................................................ 5 2. Informationspflichten ..................................................................................................... 5 3. Unlautere Geschäftspraktiken....................................................................................... 5 4. Preisangaben ................................................................................................................5 5. Vertragsklauseln (AGB) ................................................................................................ 5 6. Verbrauchsgüterkauf (Gewährleistung und Garantie) .................................................. 6 7. Unterlassungsklagen ..................................................................................................... 6 II. EINLEITUNG
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1. Europäisches Verbraucherrecht ................................................................................... 7 2. Konsolidierung der Richtlinien ...................................................................................... 7 III. ÜBERGREIFENDE REFORMANSÄTZE
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1. Europarecht mit Augenmaß: Mindestharmonisierung statt Vollharmonisierung.......... 8 2. Informationsmodell ........................................................................................................ 8 2.1 Fragen an die Tragfähigkeit des Informationsmodells ............................................... 8 2.2 Übergreifendes Konzept für Informationspflichten ..................................................... 9 3. Sharing Economy / Prosumenten ...............................................................................10 4. Preisvergleichs- und Buchungsportale .......................................................................11 5. Rechtsdurchsetzung ...................................................................................................12 IV. RICHTLINIEN IM EINZELNEN
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1. Unlautere Geschäftspraktiken (RL 2005/29/EWG) .................................................... 13 1.1 Verbraucherleitbild ....................................................................................................13 1.2 Verletzliche und vertrauende Verbraucher ............................................................... 14 1.3 Wettbewerbsvorteile durch Rechtsbruch .................................................................. 14 1.4 Lockangebote (Anhang I Nr. 5) .................................................................................15 1.5 Schleichwerbung (Anhang I Nr. 11) ..........................................................................15 1.6 Umweltbezogene Werbung .......................................................................................15 1.7 Individuelle Durchsetzung und vertragsrechtliche Folgen........................................ 16 2. Preisangaben ..............................................................................................................16 2.1 Lücken in der Richtlinie 98/6/EG...............................................................................16 2.2 Alternativen zum Regelungsort .................................................................................17 3. Vertragsklauseln (Allgemeine Geschäftsbedingungen) ............................................. 17 3.1 Keine Vollharmonisierung .........................................................................................17 3.2 Sprache und Umfang ................................................................................................18 3.3 Kontrolle von Einbeziehungsklauseln .......................................................................18 3.4 Schwarze Liste von Klauselverboten? ......................................................................19 4. Verbrauchsgüterkauf ...................................................................................................19 4.1 Keine Rechtszersplitterung im digitalen Binnenmarkt .............................................. 19
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4.2 Längere Fristen, insbesondere zur Beweislastumkehr ............................................ 20 4.3 Produzentenhaftung .................................................................................................. 20 5. Unterlassungsklagen .................................................................................................. 21 5.1 Begrenzte Wirksamkeit ............................................................................................. 21 5.2 Breitenwirkung verbessern ....................................................................................... 21 5.3 Erweiterte Wirkung auf individuelle Klagen .............................................................. 22 5.4 Effektive Sanktionen schaffen .................................................................................. 22 5.5 Anwendungsbereich ausweiten ................................................................................ 23
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I. ZUSAMMENFASSUNG DER WICHTIGSTEN POSITIONEN In den typischen Situationen des Konsumalltags verfügen Verbraucher über weniger Informationen, weniger Fachkompetenz und weniger Verhandlungsmacht als die Anbieterseite. Um dies auszugleichen, ist ein starkes Verbraucherrecht essentiell. Vor diesem Hintergrund sollte der REFIT Fitness-Check des EU-Verbraucherrechts grundlegende Rechte wie Informationsansprüche, den Schutz gegen Irreführung und aggressive Geschäftspraktiken und das Gewährleistungsrecht bestätigen und stärken. Gleichzeitig sollte im Ergebnis des Fitness-Checks in ganz Europa eine stringente Durchsetzung des Verbraucherschutzrechts sichergestellt werden. Spielräume des nationalen Gesetzgebers für ein Mehr an Verbraucherschutz sollten bestätigt und ausgebaut werden. Der REFIT Fitness-Check im Europäischen Verbraucherrecht bietet die Chance, Lücken zu schließen und die Richtlinien besser auf einander abzustimmen. Die beabsichtigte „Straffung“ der Richtlinien darf nicht zu einer simplen Streichung von Regelungen oder Reduzierung des Schutzniveaus führen. Die EU sollte ihre Rechtsetzungskompetenzen im Verbraucherrecht mit Augenmaß nutzen. Das Verbraucherschutzrecht der EU ist nicht dann am besten, wenn es auf EU-Ebene vollständig vereinheitlicht ist, sondern dann, wenn eine Mindestharmonisierung der zentralen Anforderungen kombiniert wird mit nationalen Handlungsspielräumen für mehr Verbraucherschutz. Informationen müssen Verbrauchern in einfacher Form und konzentriert auf das Wesentliche dargeboten werden. Für zentrale Informationen sind klare und eindeutige Vorgaben wie in der Richtlinie 2011/83/EU erforderlich. Zeitpunkt und Art und Weise der Information müssen situationsgerecht angepasst werden. Das gilt insbesondere mit Blick auf Online-Geschäfte, die beispielsweise auf dem Smartphone abgeschlossen werden. Bei Geschäften im Rahmen der Sharing Economy muss für Verbraucher deutlich werden, ob sie einen Vertrag mit einem Verbraucher oder einem Händler schließen. Verbraucher sollten auch dann von ihren Rechten profitieren, wenn sie als Verkäufer gegenüber einem Unternehmer als Käufer gebrauchter Ware auftreten. Durch die Digitalisierung des Verbraucheralltags entstehende Schutzlücken sollten durch eine Fortentwicklung des Verbraucherrechts geschlossen werden. Verbraucher sollten sich darauf verlassen können, dass sie von Suchmaschinen, Plattformbetreibern und Vermittlern transparent und verlässlich informiert werden und dass Vermittler auch Risiken absichern, soweit sie vom Vertragsschluss wirtschaftlich profitieren.
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1. MINDESTHARMONISIERUNG STATT VOLLHARMONISIERUNG Statt die Anforderungen des Verbraucherrechts in allen Bereichen auf der EUEbene abschließend zu regeln (Vollharmonisierung), sollte die EU-Kommission die grundlegenden Anforderungen an den Verbraucherschutz EU-weit verbindlich festlegen, aber Spielräume für den nationalen Gesetzgeber für ein höheres Verbraucherschutzniveau erhalten (Mindestharmonisierung). Auf diese Weise können zum einen wichtige nationale Instrumente des Verbraucherschutzes erhalten werden, zum anderen kann der Wettbewerb der nationalen Rechtsordnungen angesichts der fortlaufenden Innovationen im Bereich der Digitalisierung für eine „mitwachsende“ Gesetzgebung sorgen. 2. INFORMATIONSPFLICHTEN Die Kommission sollte konkret und praktisch überprüfen, inwieweit Informationen angesichts der allgemein festgestellten Informationsüberflutung geeignet sind, Verbraucherinteressen zu schützen. Mit Blick auf die Verbraucherrechterichtlinie 2011/83/EU, aber auch mit Blick auf Informationspflichten in anderen Verbraucherschutzvorschriften sollte geprüft werden, ob Verbraucher in der Praxis die entscheidenden Informationen zum richtigen Zeitpunkt bekommen. Die Information sollte Verbrauchern möglichst einfach und mit Konzentration auf das Wesentliche präsentiert werden. 3. UNLAUTERE GESCHÄFTSPRAKTIKEN Das lauterkeitsrechtliche Verbraucherleitbild ist reformbedürftig. Der informierte und aufmerksame Durchschnittsverbraucher ist kein lebensnaher Maßstab zur Feststellung von Unlauterkeit. Individuelle Verletzlichkeit in den jeweiligen wirtschaftlichen und situativen Umständen müssen berücksichtigt werden. Die Realität des „vertrauenden Verbrauchers“, der Angebote nicht im Detail prüft, sollte im Lauterkeitsrecht anerkannt werden. Es sollte klargestellt werden, dass jeder Verstoß gegen verbraucherschützende Vorschriften des nationalen oder europäischen Rechts auch als unlautere Geschäftspraxis im Sinne des Lauterkeitsrechts zu werden ist. Die Verbote von Lockangeboten und Schleichwerbung sind kaum durchsetzbar und müssen reformiert werden. 4. PREISANGABEN Die Verpflichtung zur Angabe von Preisen und Grundpreisen entspricht einem zentralen Informationsbedürfnis der Verbraucher. Sie muss grundsätzlich für alle Waren und Dienstleistungen gelten und tatsächlich durchgesetzt werden. Gesetzestechnisch können die Regelungen der Preisangabenrichtlinie reformiert und mit anderen Informationspflichten verbunden werden. 5. VERTRAGSKLAUSELN (AGB) Die Richtlinie 93/13/EWG hat sich im Wesentlichen bewährt; eine Vollharmonisierung bringt keine Vorteile, sondern nur Rechtsunsicherheit und ist abzulehnen.
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Die Klauselverbote sollten erweitert werden und Einbeziehungsklauseln kontrollfähig sein. Es sollte überprüft werden, inwieweit die Digitalisierung mit der Möglichkeit des Vertragsschlusses per Smartphone Anpassungen in der Klauselrichtlinie erforderlich macht. 6. VERBRAUCHSGÜTERKAUF (GEWÄHRLEISTUNG UND GARANTIE) Online- und Offlinekäufe müssen auch in Zukunft rechtlich gleich behandelt werden. Ein isolierter Rechtsakt zum Gewährleistungsrecht beim Onlinekauf, wie ihn die Kommission vorgeschlagen hat, ist daher abzulehnen. Angesichts der weitreichenden Unterschiede im Gewährleistungsrecht der Mitgliedstaaten ist es fraglich, ob es sinnvoll ist, das Gewährleistungsrecht für Online- und Offlinekäufe EU-weit zu harmonisieren. Zu einem hohen Schutzniveau im Verbrauchsgüterkauf gehören insbesondere eine hinreichend lange Gewährleistungsfrist für hochwertige und langlebige Gebrauchsgüter, eine entsprechend lange Beweislastumkehr, ein Wahlrecht des Verbrauchers sowie die Einführung einer Produzentenhaftung. Diese Anforderungen könnten auch als Mindeststandards geregelt werden, die national Spielraum für ein weiter reichendes Verbraucherschutzniveau lassen. 7. UNTERLASSUNGSKLAGEN Unterlassungsklagen müssen mehr Breitenwirkung entfalten. Urteile müssen von Amts wegen berücksichtigt werden und auch andere Unternehmen binden. Neben der Unterlassung müssen auch die Folgen eines Rechtsverstoßes auf Seiten der betroffenen Verbraucher beseitigt werden. Die Unterlassungsklage sollte deshalb mit einem konkreten Folgenbeseitigungsanspruch kombiniert werden. Verbraucher sollten durch Eintrag in ein Klageregister eine verjährungshemmende Wirkung der Unterlassungsklage erreichen können, damit individuelle Schadensersatzforderungen nicht verjährt sind, wenn ein rechtskräftiges Unterlassungsurteil in letzter Instanz vorliegt.
FAZIT: RICHTLINIEN REFORMIEREN UND KONSOLIDIEREN – VERBRAUCHERRECHTE STÄRKEN Der REFIT Fitness-Check im europäischen Verbraucherrecht sollte dazu genutzt werden, Verbraucherrechte zu stärken, Lücken zu schließen, die europäischen Richtlinien besser aufeinander abzustimmen und das Verbraucherrecht den Realitäten einer digitalen Wirtschaft anzupassen.
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II. EINLEITUNG 1. EUROPÄISCHES VERBRAUCHERRECHT Das Europäische Verbraucherrecht hat sich in seinen Grundstrukturen bewährt. Zahlreiche Rechtsgrundlagen tragen dazu bei, Verbrauchern eine informierte Entscheidung zu ermöglichen, strukturelle Benachteiligungen auszugleichen, Risiken im Geschäftsverkehr zu reduzieren und unerwünschte Folgen von Verträgen zu vermeiden. Dennoch gibt es in allen Rechtsbereichen Reformbedarf. Dieser ergibt sich teilweise aus Regelungslücken, die relativ einfach geschlossen werden können. Darüber hinaus müssen aber auch grundlegende Diskussionen geführt werden, inwieweit eine abschließende Regelung des Verbraucherrechts auf europäischer Ebene sinnvoll ist, inwieweit Informationen geeignet sind, die Verbraucherinteressen zu schützen und wie ein zeitgemäßes, lebensnahes Verbraucherleitbild aussieht. Ferner sollten die Richtlinien besser auf einander abgestimmt werden, indem übergreifende Frage wie Informationspflichten übersichtlicher und in der jeweiligen Situation erfolgversprechender geregelt werden. Und nicht zuletzt muss das Verbraucherschutzrecht den Realitäten der Digitalisierung angepasst werden, die seit Erlass der verbraucherschützenden Richtlinien den Verbraucheralltag tiefgreifend verändert hat. Der REFIT Fitness-Check im Europäischen Verbraucherrecht bietet die Chance, diese Herausforderungen zu bewältigen. Der Fitness-Check sollte von der Prämisse ausgehen, dass ein starkes Verbraucherschutzrecht essentiell ist – nicht nur für die Verbraucher selbst, sondern auch für die Wirtschaft, da das Verbraucherschutzrecht das Qualitätsniveau des Wettbewerbs definiert. Eine „Straffung“ von Verbraucherrechten im Sinne von Reduzieren und Kürzen ist unbedingt zu vermeiden. 2. KONSOLIDIERUNG DER RICHTLINIEN Die einzelnen Richtlinien stehen überwiegend für einen abgrenzbaren Regelungsbereich, in dem sehr unterschiedliche Anforderungen an den Verbraucherschutz zu stellen sind. Zusammenfassende Regelungen sind deshalb nur begrenzt sinnvoll. So könnten beispielsweise Informationspflichten in einer einzigen Richtlinie unter Einschluss der Preisangaben zusammengeführt werden. Diese könnten mit den Regelungen über den Vertragsschluss in der gegenwärtigen Verbraucherrechterichtlinie verbunden werden. Alternativ könnte die Preisangaben-Richtlinie in den Regelungsbereich der unlauteren Geschäftspraktiken integriert werden, was aber den Nachteil hätte, dass weiterhin parallele Regelungen über Informationspflichten mit überwiegend außervertraglichen lauterkeitsrechtlichen Anforderungen und Informationspflichten rund um den Vertragsschluss bestehen würden.
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III. ÜBERGREIFENDE REFORMANSÄTZE 1. EUROPARECHT MIT AUGENMAß: MINDESTHARMONISIERUNG STATT VOLLHARMONISIERUNG Das Verbraucherrecht ist über die letzten Jahre und Jahrzehnte immer stärker vom EURecht geprägt worden. Das hat an vielen Stellen Vorteile für Verbraucher gebracht, wie etwa in Form der „Button-Lösung“ („zahlungskräftig bestellen“ bei Online-Käufen), die durch die Verbraucherrechterichtlinie europaweit eingeführt worden ist. Der wachsende Drang der EU-Kommission zu europaweit einheitlichen Regelungen gefährdet aber zunehmend auch nationale Errungenschaften im Verbraucherschutz. In Deutschland ist das etwa die ausdifferenzierte Rechtsprechung im Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen und im Recht des unlauteren Wettbewerbs. Für die Verbraucher in der EU ist das Verbraucherrecht nicht umso besser, je mehr es europaweit vereinheitlicht ist. Nach wie vor ist der Großteil des Konsums national. Dass Verbraucher nicht mehr grenzüberschreitend einkaufen, liegt nicht in erster Linie an der Sorge vor unterschiedlichen Rechtsvorschriften, sondern an praktischen Problemen wie sprachlichen Barrieren, möglicherweise erschwerter Rückgabe und mangelndem Vertrauen 1. Gerade angesichts der aktuellen Diskussion über die Zukunftsperspektive der Europäischen Union sollte die EU-Kommission den unterschiedlichen wirtschaftlichen, kulturellen und rechtlichen Eigenarten der Nationalstaaten mehr Beachtung schenken. Statt die Anforderungen des Verbraucherrechts in allen Bereichen auf der EU-Ebene abschließend zu regeln (Vollharmonisierung), sollte die EU-Kommission die grundlegenden Anforderungen an den Verbraucherschutz EU-weit verbindlich festlegen, aber Spielräume für den nationalen Gesetzgeber für ein höheres Verbraucherschutzniveau erhalten (Mindestharmonisierung). Auf diese Weise können zum einen wichtige nationale Instrumente des Verbraucherschutzes erhalten werden, zum anderen kann der Wettbewerb der nationalen Rechtsordnungen angesichts der fortlaufenden Innovationen im Bereich der Digitalisierung für eine „mitwachsende“ Gesetzgebung sorgen. 2. INFORMATIONSMODELL 2.1 Fragen an die Tragfähigkeit des Informationsmodells Verbraucher sehen sich in vielen Lebensbereichen einem Zuviel an Informationen gegenüber. Kein Verbraucher liest im Alltag Allgemeine Geschäftsbedingungen oder Datenschutzerklärungen, deren Inhalte dann aber für ihn verbindlich sind. Vielen Vorschriften des Verbraucherrechts liegt das Informationsmodell zugrunde. Das heißt, primär werden die Anbieter verpflichtet, den Verbrauchern Informationen über die wesentlichen Merkmale des Konsumguts und über die Vertragsmodalitäten zu liefern. Dadurch soll die Informationsasymmetrie zwischen Verbraucher und Anbieter ausgeglichen werden.
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OC&C Strategy Consultants, Exportweltmeister Deutschland? Nicht im e-Commerce. Was britische e-CommerceHändler deutschen voraushaben, 2015.
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Das Informationsmodell setzt aber voraus, dass die Verbraucher die ihnen zur Verfügung gestellten Informationen überhaupt zur Kenntnis nehmen und sich mit ihnen differenziert auseinandersetzen. Angesichts der vielfachen Informationsüberflutung ist zu fragen, ob diese Grundannahme zutrifft. Die Kommission sollte daher ganz konkret und praktisch überprüfen, inwieweit Informationen überhaupt geeignet sind, die Interessen der Verbraucher gegenüber den Anbietern zu schützen. Sofern das nicht der Fall ist, müssen alternative Regelungsansätze entwickelt werden. Das kann heißen, dass Verbraucherrechte noch stärker als bisher im Sinne von allgemeingültigen Anforderungen geregelt werden müssten, von denen dann auch bei einer entsprechenden Information des Verbrauchers nicht abgewichen werden darf. 2.2 Übergreifendes Konzept für Informationspflichten Soweit Informationen als Mittel des Verbraucherschutzes überhaupt tauglich sind, stellt sich die Frage nach einem konsistenten gesetzgeberischen Ansatz für Informationspflichten. Informationspflichten sieht das EU-Verbraucherrecht in verschiedenen Rechtsakten vor. Im Mittelpunkt stehen die Richtlinien 98/6/EG (Preisangaben), 2005/29/EWG (unlautere Geschäftspraktiken) und 2011/83/EU (Verbraucherrecht). Aber auch weitere, nicht in den REFIT-Prozess einbezogene Vorschriften wie etwa die ADR-Richtlinie und ODR-Verordnung sowie zahlreiche sektorale Vorschriften für bestimmte Konsumbereiche enthalten Informationspflichten. Der REFIT Fitness-Check bietet eine gute Gelegenheit, Informationsrechte in diesem Sinne übersichtlich und verständlich zusammenzufassen („aus einem Guss“). Dabei ist jedoch zu berücksichtigten, dass die gegenwärtigen Informationsrechte im Einzelnen keineswegs überflüssig, sondern jede Information wichtig ist – wobei das Informationsbedürfnis der Verbraucher je nach Gegenstand, Art des Vertragsschlusses und Zeitpunkt unterschiedlich sein kann. Ziel des Fitness-Checks darf es deshalb nicht sein, Informationsrechte zu kürzen, sondern die richtige Information zum richtigen Zeitpunkt aktiv oder passiv abrufbar zur Verfügung zu stellen. Zunächst sollte durch eine tatsächliche empirische Untersuchung Klarheit darüber hergestellt werden, inwiefern die Informationsbedürfnisse der Verbraucher derzeit in der Praxis tatsächlich erfüllt werden – gerade auch mit Blick auf Informationsbeschaffung und Vertragsschluss über digitale Medien. Aufgrund dieser empirischen Untersuchung sollte der gesetzgeberische Handlungsbedarf konkretisiert werden. Unabhängig davon, wo eine Informationspflicht gesetzgeberisch verortet wird, sollte besonderes Augenmerk auf folgende Punkte gelenkt werden: Informationen müssen quantitativ (Umfang der Informationen) und qualitativ (Komplexität der Informationen) im Rahmen der tatsächlichen kognitiven Fähigkeiten der Verbraucher bleiben. Das heißt, dass Informationen stets einfach, klar und verständlich ausgedrückt werden müssen, und dass bei komplexeren Sachverhalten unterschieden werden sollte zwischen aktiver und passiver Information. Die zentralen Informationsinhalte sollten dem Verbraucher vom Anbieter aktiv und deutlich dargeboten werden; weiterführende, speziellere Informationen kann der Anbieter dagegen passiv auf Abruf durch den Verbraucher vorhalten.
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Die für die Kaufentscheidung relevanten Informationen müssen hinreichend deutlich dargeboten werden. Das heißt, sie dürfen nicht im Werbeauftritt eines Unternehmens verschwinden, sondern müssen so hervorgehoben werden, dass der Verbraucher sie automatisch wahrnimmt (Beispiel: Button-Lösung). Die rechtlichen Anforderungen an die Darstellungsweise müssen sicherstellen, dass die Information beim Verbraucher unabhängig vom genutzten Medium ankommt. Das wird vor allem bei mobilen Endgeräten eine besondere Herausforderung sein. Beispielsweise beim Vertragsschluss über das Smartphone wird es nicht einfach sein, die Information so zu gestalten, dass sie für den Verbraucher auch hinreichend deutlich wahrnehmbar ist. Die eben dargestellten Fragen an die Sinnhaftigkeit des Informationsmodells als Grundannahme des Verbraucherrechts stellen sich hier mit besonderer Deutlichkeit. Informationen müssen so dargeboten werden, dass der Verbraucher sie genau dann bekommt, wenn er sie braucht. Es sollten also die unterschiedlichen Phasen in der Transaktion zwischen Anbieter und Verbraucher unterschieden werden. Am Beispiel der Widerrufsinformationen: Vor Vertragsschluss muss der Verbraucher darüber informiert werden, ob er überhaupt ein Widerrufsrecht hat. Bei Kaufverträgen sollte zusätzlich über die Kosten der Rücksendung informiert werden und bei Dienstleistungen über das Erlöschen des Widerrufsrechts bei Erfüllungsbeginn. Die gesetzlichen Details zur Ausübung und den Rechtsfolgen brauchen demgegenüber vor Vertragsschluss nur auf Abruf verfügbar sein und können noch bei Lieferung/Übergabe der Ware mitgeteilt werden. Für die Verständlichkeit von Informationen kommt es ferner auch auf die materiellrechtliche Kohärenz und Übersichtlichkeit des Verbraucherschutzrechts an. Komplizierte Rechtslagen lassen sich informationsrechtlich nur schwer fassen. In zentralen Bereichen – wie etwa dem Widerrufsrecht – ist deshalb auf eine verständliche, möglichst allgemeingültige Rechtslage mit klaren Fristen, möglichst klaren Daten und wenig Ausnahmen zu achten. Wenn es etwa im Online-Handel ein Widerrufsrecht gibt, dann sollte dieses möglichst ohne Ausnahme auskommen. Die gegenwärtigen Ausnahmen vom Anwendungsbereich der Verbraucherrechterichtlinie wie etwa für Pauschalreisen oder Beförderung oder die Ausnahmen vom Widerrufsrecht für Freizeitveranstaltungen führen in der Praxis häufig zu Verwirrungen, die vermieden werden könnten. 3. SHARING ECONOMY / PROSUMENTEN Das Teilen und gemeinsame Nutzen von Konsumgütern verspricht für Verbraucherinnen und Verbraucher viele Vorteile: mehr Angebote, mehr Flexibilität und mehr Gemeinschaft bei weniger Kosten und weniger Verschwendung von Ressourcen. Geteilt wird oft unter Nutzern: Geschäftspartner des Verbrauchers ist nicht ein professioneller gewerblicher Anbieter, sondern eine Privatperson. Das macht innovative, dem individuellen Bedarf angepasste Angebote möglich. Es führt aber auch zu neuen Herausforderungen, weil Privatanbieter nicht denselben verbraucherschützenden Vorschriften unterliegen wie gewerbliche Anbieter. Verbraucher haben demzufolge gegenüber gewerblichen Anbietern oft weiter reichende Rechte als gegenüber Privatanbietern. Für Verbraucher muss daher klar erkennbar sein, zu welcher Kategorie ein Anbieter gehört. Außerdem müssen Schutzlücken vermieden werden, die dadurch entstehen
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könnten, dass viele Verbraucherschutzvorschriften bei Geschäften zwischen Privatleuten nicht gelten. Das bedeutet: Die Politik sollte die Abgrenzung zwischen gewerblichen und privaten Angeboten erleichtern, indem sie einfach handhabbare Abgrenzungskriterien schafft. Das könnte etwa ein Höchstumsatz für Privatanbieter sein oder ein Zeitlimit für die maximale Mietdauer von Privatwohnungen – bei Überschreiten dieses Zeitlimits wäre das Angebot als gewerblich einzustufen. Vermittlungsplattformen müssen für Verbraucher transparent machen, ob sie es mit einem Privatanbieter oder einem gewerblichen Anbieter zu tun haben. Der Gesetzgeber sollte eine entsprechende Klarstellung von den Vermittlungsplattformen verlangen. Vermittlungsplattformen müssten dann bei der Anmeldung neuer Anbieter prüfen, in welche Kategorie das Angebot fällt. Und sie müssten Verbraucher über die jeweils geltenden Rechte informieren. Mindeststandards an Verbraucherrechten müssen auch für Privatanbieter gelten. Um das zu erreichen, sollten Vermittlungsplattformen die Qualität der von ihnen vermittelten Dienste sicherstellen – indem sie grundlegende Sicherheitsmaßnahmen verlangen und Versicherungen gegen Unfälle und gravierende Schäden anbieten. Das ist bei Plattformen zum nachbarschaftlichen Autoteilen bereits Standard, nicht dagegen bei Plattformen zur Vermietung von Ferienquartieren. 4. PREISVERGLEICHS- UND BUCHUNGSPORTALE Online-Plattformen und insbesondere Preisvergleichsportale sind mittlerweile eine zentrale Instanz für die vorvertragliche Informationsgewinnung, für die Konsumentscheidung und in wachsendem Umfang auch für Buchung und Vertragsschluss. Verbraucher bringen Vergleichs- und Buchungsportalen hohes Vertrauen entgegen: 71 Prozent vertrauen Finanzvergleichsportalen wie finanzen.net oder finanztip.de und 68 Prozent halten Vergleichsportale wie Verivox.de oder Check24.de für vertrauenswürdig. 2 Zugleich zeigen aber Untersuchungen der Europäischen Kommission 3, des Marktwächters Digitale Welt 4 und der Stiftung Warentest 5, dass Verbraucherinnen und Verbraucher auf Vergleichsportalen nicht immer den günstigsten Preis erhalten. Für Verbraucher ist häufig auch nicht ersichtlich, wie ein Portal sich finanziert und in welchem Umfang provisionsbasiert gearbeitet wird, sowie ob und in welchem Umfang ein Portal selbst Vertragspartner wird. Das führt zu der Frage, inwieweit Vergleichs- und Buchungsportale vom geltenden EUVerbraucherschutzrecht überhaupt erfasst sind und inwieweit neuartige Probleme durch neue gesetzgeberische Maßnahmen adressiert werden sollten. Insbesondere folgende Probleme sollten hierbei untersucht werden:
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https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Verbraucher-vertrauen-in-Finanzfragen-auf-Online-Portale.html
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http://ec.europa.eu/consumers/consumer_evidence/market_studies/comparison_tools/i ndex_en.htm 4 http://www.marktwaechter.de/sites/default/files/downloads/untersuchung_preisvergleichsportale_0.pdf 5
https://www.test.de/Flugbuchungsportale-Besser-buchen-bei-der-Airline-5049529-0/
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Derzeit ist unklar, inwieweit verbraucherrechtliche Anforderungen des Lauterkeitsrechts, insbesondere die UGP-Richtlinie auch für Portale gelten, auch wenn Verbraucher nicht zum Vertragsabschluss mit den Portalbetreibern animiert werden, sondern diese nur als Vermittler tätig sind. Verbraucher finden sich häufig mit unerwarteten zusätzlichen Kosten konfrontiert, etwa Versandkosten oder Kosten für bestimmte Zahlungsarten. Redaktionelle Inhalte und Werbung sind für Verbraucher oft nicht unterscheidbar. Zusammenhänge zwischen Portalen und wirtschaftliche Verflechtungen zwischen Portalen und Anbietern sind für Verbraucher nicht erkennbar. Wenn Anbieter Zahlungen an Buchungs- und Vergleichsportale leisten, liegt die Vermutung nahe, dass sich diese Zahlungen auf die Auswahl der Ergebnisse, das Ranking der Ergebnislisten und die Darstellung der Ergebnisse auswirken. 5. RECHTSDURCHSETZUNG Erheblicher Regelungsbedarf besteht bei der Durchsetzung von Verbraucherrechten. Rechte dürfen nicht nur auf dem Papier stehen, sondern müssen gelebte Praxis werden. Dafür muss die Durchsetzung möglich sein – und zwar so, dass einzelne Verbraucher im Konfliktfall auch individuell und unmittelbar von kollektiven Instrumenten wie der Verbandsklage profitieren können. Im Rahmen des REFIT Fitness-Checks bietet vor allem die Unterlassungsklagerichtlinie einige Ansatzpunkte, um Defizite in der Rechtsdurchsetzung auszugleichen. Wichtig ist dabei vor allem, dass Unterlassungsurteile mehr Breitenwirkung entfalten. Sie wirken bislang vor allem inter partes und können das Verhalten von Unternehmen, die von dem Urteil nicht betroffen sind, allenfalls in begrenztem Umfang beeinflussen. Da es bislang keine verbindlichen Rechtsgrundlagen zur kollektiven Entschädigung von Verbrauchern gibt, müssen kollektive und individuelle Rechtsbehelfe stärker miteinander verzahnt werden. Hierfür ist es erforderlich, dass Unterlassungsurteile gegenüber einem Unternehmer nach Möglichkeit in allen einschlägigen Fällen von Amts wegen zu berücksichtigen ist und auch – zumindest branchenweit – andere Unternehmer binden. Darüber hinaus müssen Unterlassungs- und andere Verbandsklagen in stärkerem Umfang dazu beitragen, dass betroffene Verbraucher auch im Einzelfall leichter eine Entschädigung oder Rückzahlung erhalten. Verbraucher sollten deshalb frühzeitig und umfassend von Unterlassungsklagen profitieren, indem die Verjährung individueller Ansprüche, die von dem Ausgang des Verbandsklageverfahrens abhängen, gehemmt wird und die Urteile Bindungswirkung zugunsten der Verbraucher entfalten (vgl. hierzu im Einzelnen die Ausführungen unten S. 21 zur Unterlassungsklagenrichtlinie).
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IV. RICHTLINIEN IM EINZELNEN 1. UNLAUTERE GESCHÄFTSPRAKTIKEN (RL 2005/29/EWG) 1.1 Verbraucherleitbild Maßgeblich für das Verbot unlauterer Geschäftspraktiken ist die wesentliche Beeinflussung des Durchschnittsverbrauchers. Dieses vom Europäischen Gerichtshof entwickelte Leitbild eines aufmerksamen und informierten Verbrauchers hat sich als wenig praxistauglich erwiesen. Aufmerksamkeit und Information sind Merkmale rationalen Handelns. Der rational handelnde und nutzenmaximierende Verbraucher entspricht aber in vielen Alltagssituationen nicht der Wirklichkeit und ist damit mehr Fiktion als Wirklichkeit. Verbraucher reagieren unabhängig von ihren individuellen sozialen Voraussetzungen in verschiedenen Situationen sehr unterschiedlich. Individuelle Verletzlichkeit und situative Umstände, die sich auf die Aufmerksamkeit auswirken, können bei dem holzschnitzartigen Leitbild des Durchschnittsverbrauchers nicht hinreichend berücksichtigt werden. Ebenso werden vertrauende Verbraucher nicht ausreichend geschützt. So wird gerichtlich unterstellt, dass der Durchschnittsverbraucher gar nicht erwarte, dass ein Lebensmittel auch tatsächlich ein Erzeugnis oder Bestandteile eines Erzeugnisses enthält, die auf der Vorderseite der Verpackung abgebildet sind, insbesondere, wenn er sich über die Zutatenliste über diesen Umstand informieren kann. 6 Das Gericht beruft sich darauf, dass das Fehlen natürlicher Bestandteile mittlerweile allgemeine bekannt sei. Auch wenn unklar ist, ob diese Rechtsprechung vor dem Hintergrund des Teekanne-Urteils des EuGH 7 aufrechterhalten werden kann, wird deutlich, dass in das Verbraucherleitbild Gewöhnungseffekte einfließen, die letztlich darauf beruhen, dass Irreführung zum Normalfall wird. Damit wird Vertrauen enttäuscht und langfristig eine Abwärtsspirale eingeleitet, die den Wahrheitsgrundsatz untergräbt und Irreführung infolge von Gewöhnungseffekte zunehmend normalisiert und legalisiert. Als wenig praxistauglich hat sich auch das Verbraucherleitbild einer abgrenzbaren Zielgruppe von Verbrauchern erwiesen (Artikel 5 Absatz 2 b). Ob sich eine Werbung oder Geschäftspraxis an eine bestimmte Gruppe von Verbraucher wendet, ist in der Praxis kaum zu klären. Dies gilt etwa für Online-Spiele, zu deren Zielgruppe Kinder und Erwachsene gehören. In derartigen Fällen ist unklar, welcher Gruppe das Verbraucherleitbild zu entnehmen ist. Zum Schutz von Kindern bleibt dann häufig nur die Anwendung von Nr. 28 des Anhangs I der Richtlinie, wobei dieses per se-Verbot nur bei einer direkten Kaufaufforderung gegenüber Kindern anwendbar ist. Das Verbraucherleitbild des aufmerksamen und informierten Durchschnittsverbrauchers ist insgesamt reformbedürftig und muss soziale, intuitive und situative Merkmale ebenso berücksichtigen wie die Folgen unlauteren Handelns.
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OLG Braunschweig, Beschluss vom 4.11.2013, Az. 2 U 114/12 („Ananasbowle“)
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EuGH, Urteil vom 4.06.2015, Rechtssache C-195/14 („Teekanne“).
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1.2 Verletzliche und vertrauende Verbraucher Auch für andere „verletzliche Verbraucher“ bietet das Verbraucherleitbild in der Praxis wenig Korrekturmöglichkeiten, da das abweichende Verbraucherleitbild gemäß Artikel 5 (3) der Richtlinie nur dann Anwendung findet, wenn die Geschäftspraxis nur eine eindeutig identifizierbare Gruppe von Verbrauchern beeinflusst. Darüber hinaus ist die Definition des „verletzlichen Verbrauchers“ zu eng. Verletzlichkeit ist nicht nur die Folge von Gebrechen, Alter oder Leichtgläubigkeit, sondern kann auch die Folge sozialer Einschränkungen – etwa wegen eines Migrationshintergrunds und Sprachproblemen - sein. Im Rahmen der jüngsten Flüchtlingsmigration ist eine Ausnutzung der geschäftlicher Unerfahrenheit und mangelnder Sprachkenntnisse zu beobachten, bei der die besondere Verletzlichkeit dieser Verbrauchergruppe nicht unter die Regelung von Artikel 5 Absatz 3 der Richtlinie fällt. Tatsächlich ist es auch bei gebildeten, informierten und geschäftserfahrenen Verbrauchern oft eine Fiktion, dass Verbraucher sich mit den Details einer Konsumentscheidung ausführlich befassen. Verbraucher in der „Rush Hour“ des Lebens, die neben den Anforderungen des Arbeitslebens Kindererziehung oder die Pflege älterer Familienangehörigen zu bewältigen haben, haben dafür schlicht keine Zeit. Das Lauterkeitsrecht sollte daher die Schutzbedürftigkeit der Verbraucher auch situationsbezogen bewerten. Verbraucher sollten auch dann durch das Gesetz geschützt werden, wenn sie aufgrund von Zeitknappheit oder aufgrund einer bewussten Entscheidung ein Angebot nicht im Detail prüfen. Hierfür ist das Verbraucherleitbild des Lauterkeitsrechts um den Begriff „vertrauenden Verbrauchers“ zu erweitern. Verletzliche Verbraucher werden durch das UWG nicht ausreichend geschützt. Die Definition muss auch soziale Merkmale wie Migration und mangelnde Sprachkenntnisse berücksichtigen. Das Lauterkeitsrecht sollte um den Begriff des „vertrauenden Verbrauchers“ erweitert werden, um auch Verbraucher zu schützen, die situationsbezogen aufgrund von Zeitknappheit oder aufgrund einer bewussten Entscheidung ein Angebot nicht im Detail prüfen. 1.3 Wettbewerbsvorteile durch Rechtsbruch Im deutschen Lauterkeitsrecht werden Verbraucher ganz allgemein davor geschützt, dass sich Unternehmen durch Gesetzesverstöße unlautere Wettbewerbsvorteile verschaffen. Der sogenannte Rechtsbruchtatbestand erklärt zu diesem Zweck Verstöße gegen andere als die im Lauterkeitsrecht geregelten Tatbestände zugleich zu Wettbewerbsverstößen (§ 3a des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb, UWG). Wegen der Vollharmonisierung kann diese Regelung möglicherweise nur insoweit gegenüber Verbrauchern angewendet werden, als die vom Unternehmen gebrochene Marktverhaltensregel ihre Grundlage im Unionsrecht hat. Sollte das der Fall sein, so würde der Vollharmonisierungsanspruch lediglich zu einer Absenkung des Verbraucherschutzniveaus führen, nicht aber zu einer Vollharmonisierung der Rechtslage. Das hieße, dass statt einer Rechtsvereinheitlichung Rechtsunklarheit entstünde und die Rechtsdurchsetzung durch die Verbraucherverbände erschwert würde. Die UGP-Richtlinie sollte erweitert werden um eine Regelung des Inhalts, dass jeder Verstoß gegen verbraucherschützende Vorschriften des nationalen oder
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europäischen Rechts als unlautere Geschäftspraxis im Sinne der UGP-Richtlinie zu werten ist. 1.4 Lockangebote (Anhang I Nr. 5) Ein häufiges Ärgernis im Alltag von Verbrauchern sind Lockangebote, die diese in die Geschäfte locken, ohne dass die Ware dort verfügbar ist. Bis zur Umsetzung der Richtlinie konnten Verbraucherverbände solche Angebote erfolgreich mit einem Unterlassungsanspruch unterbinden und damit auch einer Wiederholung vorbeugen. Seit Umsetzung der Richtlinie (Anhang I Nr. 5) sind Lockangebote praktisch zulässig, wenn der Unternehmer im Kleingedruckten auf den begrenzten Vorrat hinweist („solange Vorrat reicht“). Unabhängig von einer tatsächlichen Bevorratung Lockangebote damit praktisch nicht mehr zu untersagen, was letztlich einer Legalisierung gleichkommt. Aus dem beabsichtigten Verbot wird damit eine reine – für Verbraucher nichtssagende – Informationspflicht. Lockangebote müssen grundsätzlich verboten werden, ohne dass Unternehmen dieses Verbot durch einen pauschalen Hinweis auf das begrenzte Angebot umgehen können. 1.5 Schleichwerbung (Anhang I Nr. 11) Als Information getarnte Werbung fällt unter das per se-Verbot von Schleichwerbung in Nr. 11 des Anhangs. Danach ist getarnte Werbung nur unzulässig, wenn sie vom Gewerbetreibenden bezahlt wurde. Diese Bezahlung ist nachzuweisen, was in der Praxis oft nicht möglich ist. Verbraucherverbände haben keine Informationen über Zahlungsflüsse im Hintergrund und können deshalb auch bei begründetem Verdacht aus Beweisgründen nicht gegen Schleichwerbung vorgehen. Das Verbot der Schleichwerbung ist kaum durchsetzbar und muss reformiert werden. 1.6 Umweltbezogene Werbung Im Zusammenhang mit umweltbezogenen Werbeaussagen bereitet die Durchsetzung des Lauterkeitsrechts besondere Schwierigkeiten. Verbraucher werden oft mit nichtssagenden „Öko“- oder „Nachhaltigkeits“-Behauptungen behelligt, die das Markenimage heben sollen, ohne dem Anbieter viel abzuverlangen. Das ist für Verbraucher lästig und ärgerlich, erreicht aber selten die Schwelle eines Verstoßes gegen die UGP-Richtlinie. Insoweit wäre zu überlegen, ob bei Umweltwerbung gesteigerte Anforderungen an die Werbeaussagen zu stellen sein sollten, etwa dass nicht nur eine Irreführung untersagt ist, sondern dass umweltbezogene Angaben wahr und nachprüfbar sein müssen. Außerdem bereitet das Zusammenspiel mit spezifischen Verbrauchskennzeichnungen aus dem Umweltbereich Schwierigkeiten. Das gilt insbesondere für die Verbrauchskennzeichnung von Autos nach der Richtlinie 99/94/EG. Hiernach ist nämlich der Verbrauch von PKW entsprechend den Vorgaben des Messzyklus NEFZ anzugeben. Die realen Verbrauchswerte liegen aber inzwischen um 40 Prozent über den hiernach ermittelten Messwerten 8. Das EU-Recht legitimiert somit durch ausdrückliche gesetzliche Regelung die Irreführung der Verbraucher über den tatsächlichen Verbrauch. Dieser Missstand muss auch im Kontext des REFIT zum Verbraucherrecht angegangen werden. ___________________________________________________________________________________________ 8
ICCT, Kraftstoffverbrauch und CO2-Emissionen neuer PKW in der EU – Prüfstand versus Realität. September 2015.
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Bei umweltbezogenen Werbeaussagen ist zu überlegen, ob gesteigerte Anforderungen an die Werbeaussagen zu stellen sind, etwa dass umweltbezogene Angaben wahr und nachprüfbar sein müssen. Gesetzliche Verbrauchskennzeichnungen – beispielsweise im Automobilbereich – dienen nicht nur der Vergleichbarkeit, sondern müssen auch den tatsächlichen Verbrauch erkennen lassen. 1.7 Individuelle Durchsetzung und vertragsrechtliche Folgen Verstöße gegen Lauterkeitsrecht müssen sanktioniert werden. Bislang können Verbraucher aber selbst kaum Rechte aus dem Lauterkeitsrecht ableiten oder gegen Verstöße vorgehen. Verbraucher sind jedoch die unmittelbar Leidtragenden von Rechtsverstößen. Sie sollten daher bei Verstößen gegen das Lauterkeitsrecht klar geregelte vertragliche Rechte geltend machen können, etwa Zurückbehaltung des Kaufpreises, Schadensersatz oder Rücktritt vom Vertrag. Dies gilt vor allem im Dienstleistungssektor, bei untergeschobenen Verträgen und unerlaubter Telefonwerbung. Lauterkeitsrecht und Vertragsrecht sollten stärker als einheitliches Geschehen betrachtet werden. Verbrauchern sollte bei erheblichen Verstößen ein Lösungsrecht vom Vertrag eingeräumt werden. Das Lauterkeitsrecht sollte auch individuelle Rechtsbehelfe – insbesondere mit vertragsrechtlicher Wirkung vorsehen, um Verbraucher wirksam gegen Verstöße zu schützen. 2. PREISANGABEN 2.1 Lücken in der Richtlinie 98/6/EG Die Preisangabenrichtlinie gilt nur für Waren, obwohl auch bei Dienstleistungen Preisangaben wichtig und – hinsichtlich einer Grundpreisangabe für Leistungseinheiten – durchaus möglich sind. Darüber hinaus gibt es einige Ausnahmen für Unternehmen, die auf unklaren Tatbestandsmerkmalen beruhen. Darunter leidet nicht nur die Preistransparenz, sondern auch die angestrebte Rechtsvereinheitlichung. Problematisch sind auch zu kleine Preisangaben. Rechtsunsicherheit besteht insoweit über die Auslegung der Begriffe „klar erkennbar“ und „gut lesbar“ für Grundpreisangaben in Artikel 4. In Deutschland werden auch sehr kleine Schriftgrößen von 2 mm als rechtmäßig befunden 9, obwohl derartige Preisangaben in den unteren und oberen Regalschienen im Supermarkt für viele Verbraucher kaum lesbar sind. Neue Probleme tun sich derzeit im Bereich der Preisvergleichsportale auf (vgl. o. S. 11): Diese sind von der Preisangaben-Verordnung großenteils schon deshalb nicht erfasst, weil sie selbst nicht als Verkäufer auftreten, sondern nur als Vermittler. Gleichzeitig besteht hier in der Praxis ein erhebliches Irreführungspotential, wenn etwa Versandkosten oder vorhersehbare Gebühren beim Preisvergleich nicht berücksichtigt werden oder wenn Aufschläge für bestimmte Zahlungswege wie Kreditkarten oder Nachnahme nicht deutlich gemacht werden.
___________________________________________________________________________________________ 9
Bundesgerichtshof, Urteil vom 7.3.2013, I ZR 30/12 http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&az=I%20ZR%2030/12&nr=64520
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Schließlich gibt es in der Praxis offenbar erhebliche Umsetzungsdefizite, was auf eine unzureichende Rechtsdurchsetzung in diesem Bereich schließen lässt. Die Pflicht zur Preis- und Grundpreisangabe sollte deshalb für Waren und Dienstleistungen gelten klare Vorgaben für eine angemessene Schriftgröße enthalten auch Preisangaben durch Vermittler wie Preisvergleichsportale erfassen Ausnahmen klarer regeln und begrenzen und wirksamere Maßnahmen zur Durchsetzung umfassen. 2.2 Alternativen zum Regelungsort Die Preisangabe ist eine zentrale Verbraucherinformation, die allerdings nicht in einer nur hierfür geltenden Richtlinie geregelt sein muss. Da Preisangaben in der Regel zu den ersten Informationen gehören, die für Verbraucher bereits vorvertraglich wichtig sind, käme auch eine Regelung im Rahmen des Lauterkeitsrechts in Frage. 3. VERTRAGSKLAUSELN (ALLGEMEINE GESCHÄFTSBEDINGUNGEN) 3.1 Keine Vollharmonisierung Das Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) erfordert stets eine inhaltliche Wertung, die sich am (nationalen) materiellen Recht orientiert. Eine europaweite Harmonisierung des AGB-Rechts ist daher nicht sinnvoll, weil dann der Bezug zur nationalen Rechtsordnung verloren ginge. Folgerichtig hat der Europäische Gerichtshof bereits im Rahmen der gegenwärtigen Mindestharmonisierung zunächst eine Missbrauchskontrolle weitgehend abgelehnt und diese den nationalen Gerichten überlassen. 10 In späteren Urteilen hat sich der EuGH zwar deutlicher in Richtung einer Missbrauchskontrolle bewegt, wobei es auch hier um den Anwendungsbereich der Richtlinie und weniger um die Missbräuchlichkeit einzelner Klauseln ging. 11 Unklar ist, wie sich eine Vollharmonisierung auf die Rechtsprechung des EuGH auswirken würde. Die eine Möglichkeit wäre, dass der EuGH auch bei einer Vollharmonisierung die Konkretisierung der Missbräuchlichkeit von Klauseln weiterhin den Gerichten der Mitgliedstaaten überließe, die diese Aufgabe anhand des nationalen Rechts als Referenzrahmen wahrnehmen. Die Vollharmonisierung würde dann vermutlich kaum harmonisierende Effekte haben, könnte aber zumindest zu Beginn zu erheblicher Rechtsunsicherheit hinsichtlich der Vorlagepflicht zum EuGH führen. Außerdem würde die Frage aufgeworfen, ob und inwieweit erstrittene nationale Urteile weiterhin Geltung behalten. Bei einer weitergehenden Missbrauchskontrolle durch den EuGH würden sich diese Probleme sogar verschärft stellen. Der EuGH müsste dann vermutlich zur Superrevisionsinstanz über das nationale Vertragsrecht mutieren. Die inzwischen 40jährige AGB-Rechtsprechung in Deutschland und die dadurch erstrittene
___________________________________________________________________________________________ 10
EuGH, Urteil vom 1.4.2004, C-237/02 („Freiburger Kommunalbauten“);
11
EuGH, Urteil vom 21.3.2013, C-92/11 („RWE“)
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Rechtssicherheit für Verbraucher würde einer nicht kodifizierten und letztlich auch gar nicht vorhandenen europäischen Vertragsrechtsordnung geopfert. Das Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen sollte keinesfalls vollharmonisiert werden. Von entsprechenden Überlegungen für eine Neuauflage des ursprünglichen Entwurfs der Verbraucherrechterichtlinie aus dem Jahr 2008 sollte unbedingt abgesehen werden. 3.2 Sprache und Umfang Ein verbreitetes Ärgernis für Verbraucher sind sehr lange und/oder englischsprachige Allgemeine Geschäftsbedingungen. Solche AGB werden vor allem in standardisierten Massengeschäften verwendet und können von Verbrauchern im Alltag häufig gar nicht mehr gelesen oder verstanden werden. Auf gerichtliche Klage des Verbraucherzentrale Bundesverbands wurden englischsprachige AGB in einem im Übrigen in deutscher Sprache verfassten Internetangebot pauschal als intransparent und unwirksam bewertet und der Beklagten die weitere Verwendung verboten. Das Kammergericht Berlin 12 führt dazu aus: „Vor diesem Hintergrund muss und kann ein Verbraucher (ohne Anklicken des Links) nicht damit rechnen, hier fremdsprachigen AGB, und zwar im Streitfall einem umfangreichen, komplexen Regelwerk von sehr, sehr vielen Klauseln ausgesetzt zu sein. Alltagsenglisch mag verbreitet sein, für juristisches, vertragssprachliches und überhaupt kommerzielles Englisch, so wie es sich hier in Anlage […] darstellt, gilt das aber nicht. Daher sind sämtliche Klauseln dieses Regelwerks, solange sie nicht ins Deutsche übersetzt werden, von vornherein und ungeachtet ihres eigentlichen Inhalts als intransparent und alle Verbraucher (abgesehen von solchen mit englischen Muttersprachkenntnissen bzw. besagten fachsprachlichen Kenntnissen) treuwidrig benachteiligend zu beurteilen“.
Der Begründung des Kammergerichts ist uneingeschränkt zuzustimmen. Vertragsklauseln müssen in der Sprache verfasst werden, in der ein Unternehmer im übrigen Geschäftsverkehr mit Verbrauchern kommuniziert und die ein Verbraucher, der sich hierauf einlässt versteht. Darüber hinaus müssen Klauselwerke unabhängig von ihrem Inhalt lesbar und übersichtlich sein. AGB dürfen nur so lang sein, dass es einem Verbraucher in der jeweiligen Situation mit zumutbarem Aufwand möglich ist, sie zu lesen und zu verstehen. 3.3 Kontrolle von Einbeziehungsklauseln Eine Lücke im deutschen und europäischen Klauselrecht betrifft die Einbeziehung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen in den Vertrag. Nach deutscher Rechtslage ist die Einbeziehung grundsätzlich im Einzelfall zu beurteilen und der allgemeinen Bewertung im kollektiven Rechtsschutzverfahren nicht zugänglich. Es gibt in der Praxis aber Angebote, bei denen die Umstände der Einbeziehung objektiv überprüfbar sind und nachgewiesen werden kann, dass die Allgemeinen Geschäftsbedingungen nicht wirksam einbezogen worden sind. Klauseln, die beispielsweise auf der Rückseite eines Fahrscheins oder einer Eintrittskarte abgedruckt sind und den Rechtsschein ihrer Geltung beanspruchen, obwohl für Verbraucher eine vorherige Kenntnisnahme nach Lage der Umstände ausgeschlossen ist, müssen auch im Wege des kollektiven Rechtsschutzes untersagt werden können. ___________________________________________________________________________________________ 12
Kammergericht Berlin, Urteil vom 8.4.2016, Az. 5 U 147/14 („WhatsApp“)
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Die Einbeziehung von Vertragsklauseln muss auch im Wege der kollektiven Missbrauchskontrolle durch Verbraucherverbände möglich sein. 3.4 Schwarze Liste von Klauselverboten? Die Klauselrichtlinie enthält nur eine relativ kurze indikative Liste von Klauselverboten (Art. 3 Abs. 3: „eine als Hinweis dienende und nicht erschöpfende Liste der Klauseln, die für missbräuchlich erklärt werden können“). Demgegenüber kennt das deutsche AGB-Recht zwei Listen von Klauselverboten, die entweder nach einer entsprechenden gerichtlichen Wertungsentscheidung durch das Gericht oder auch absolut verboten sind 13. Besonders hinzuweisen ist hier auf zwei neue Klauselverbote: • Verbot eines strengeren Formerfordernisses als Textform, damit Verbraucher beispielsweise nicht an der unkomplizierten Kündigung eines Vertrags per Email gehindert werden können, indem ihnen die Schriftform (Postbrief) vorgeschrieben wird; • Verbot einer Verpflichtung, Schlichtungsangebot anzunehmen; damit hat der deutsche Gesetzgeber eine Schutzlücke in der ADR-Richtlinie 2013/11/EU geschlossen. Im Verlauf des REFIT-Prozesses ist zu prüfen, ob ähnlich wie im deutschen Recht verbindliche Listen von Klauselverboten auch auf europäischer Ebene eingeführt werden sollen. Allerdings ist auch hierbei zu berücksichtigen, dass sich die Unangemessenheit einer AGB-Regelung häufig erst aus dem Zusammenspiel mit dem nationalen Vertragsrecht ergibt. Daher sollte eine „schwarze Liste“ des Europarechts auf jeden Fall eine Öffnungsklausel für weitere Klauselverbote nach nationalem Recht vorsehen. 4. VERBRAUCHSGÜTERKAUF 4.1 Keine Rechtszersplitterung im digitalen Binnenmarkt Die EU-Kommission hat im Rahmen ihrer Strategie für einen digitalen Binnenmarkt zwei Vorschläge für eine Digitalisierung des Vertragsrechts vorgelegt, zum einen bezogen auf den Online-Handel und andere Formen des Fernabsatzes von Waren COM(2015) 635 final - und zum anderen bezogen auf die Bereitstellung von digitalen Inhalten - COM(2015) 634 final. Diese Vorschläge sollen das Gewährleistungsrecht für den Onlinehandel und für Geschäfte mit digitalen Inhalten europaweit harmonisieren. Tatsächlich drohen sie aber, zu einer Rechtszersplitterung zu führen, weil sie verschiedene Verträge ohne sachlichen Grund unterschiedlich behandeln. Die drohende Rechtszersplitterung ist eine doppelte: Zum einen würden Onlinehandel und stationärer Handel unterschiedlich behandelt, und zum anderen würden unnötige Wertungsunterschiede zwischen digitalen Gütern und körperlichen Gegenständen entstehen. Der vzbv spricht sich für einen zielgenauen gesetzgeberischen Ansatz aus, der auf Kohärenz und Konsistenz des Verbraucherrechts in verschiedenen Bereichen achtet. ___________________________________________________________________________________________ 13
§§ 308, 309 BGB
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Konkret heißt das: Im Gewährleistungsrecht für körperliche Gegenstände sollte kein Unterschied zwischen Onlinekauf und stationärem Handel gemacht werden. Das Verbrauchsgüterkaufrecht sollte umfassend modernisiert werden, nicht nur durch eine Ausweitung des Richtlinienentwurfs für den Online-Handel auf den stationären Handel. Wo möglich, sollten Verträge über körperliche Gegenstände und über digitale Inhalte nach denselben Grundsätzen geregelt werden. Insbesondere sollte für beide Vertragstypen derselbe Fehlerbegriff gelten. Ob eine vertragliche Leistung vertragsgemäß oder mangelhaft ist, sollte sich für körperliche Gegenstände wie für digitale Inhalte maßgeblich nach den berechtigten Erwartungen des Verbrauchers richten. Daher sollte die Richtlinie für digitale Inhalte auf den Fehlerbegriff der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie verweisen. Körperliche Gegenstände werden zunehmend mit digitalen Anwendungen versehen. Für solche „Smart Devices“ sollten die Regelungen der Richtlinie über digitale Inhalte ebenfalls gelten. Durch eine Streichung der Ausnahmetatbestände für „integrierte“ digitale Inhalte und für das Internet der Dinge kann dies mit geringfügigen Änderungen der Gesetzentwürfe erreicht werden. 4.2 Längere Fristen, insbesondere zur Beweislastumkehr Der VW-Skandal hat in den letzten Monaten eindrücklich vor Augen geführt, dass für langlebige und hochwertige Verbrauchsgüter eine Verjährungsfrist von zwei Jahren zu kurz sein kann. Daher sollte bei hochwertigen und langlebigen Gebrauchsgütern die Gewährleistungspflicht für vorzeitigen Verschleiß länger greifen als bei solchen Gütern, die für eine kürzere Nutzungszeit ausgelegt sind. Dies kann durch eine Gewährleistungspflicht entsprechend der erwartbaren Lebensdauer umgesetzt werden. Sollte aus Gründen der Rechtssicherheit die erwartbare Lebensdauer als Unterscheidungskriterium nicht geeignet sein, könnte die Gewährleistungspflicht auch nach Produktgruppen unterschieden werden. Die Gewährleistungsfrist sollte verlängert werden und nach der erwarteten Lebensdauer von Produkten differenziert werden. Gemeinsam mit der Gewährleistungsfrist sollte auch die Beweislastumkehr verlängert werden. Die zweijährige Gewährleistungsfrist wird in der Praxis häufig nicht eingehalten. Die Beweislastumkehr nach sechs Monaten behindert die Durchsetzung erheblich und führt faktisch zu einer Gewährleistungszeit von ebenfalls sechs Monaten. Auch die Beweislastumkehr muss entsprechend verlängert werden. 4.3 Produzentenhaftung Im Gewährleistungsfall verweisen Händler regelmäßig auf die Hersteller. Für Verbraucher ist dann häufig unklar, ob sie möglicherweise weitergehende Ansprüche gegenüber dem Händler verlieren oder gefährden. Hier wäre es besser, wenn Verbraucher sich unmittelbar an die Hersteller wenden könnten und von vornherein zwei Ansprechpartner für die Geltendmachung von Gewährleistungsrechten hätten. Auch bei einer Insolvenz des Händlers können Gewährleistungsrechte nicht mehr durchgesetzt werden, wenn keine unmittelbaren Ansprüche gegenüber dem Hersteller
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bestehen. Das Insolvenzrisiko wirkt sich hier letztlich auf Kosten der Verbraucher leistungsbefreiend für den Hersteller aus, selbst wenn dieser den Sachmangel verursacht hat und beheben könnte. Händler und Hersteller sollten gemeinsam – gesamtschuldnerisch – während der Gewährleistungszeit für Sachmängel haften. 5. UNTERLASSUNGSKLAGEN 5.1 Begrenzte Wirksamkeit Unterlassungsklagen haben in Deutschland eine lange und erfolgreiche Tradition. 14 Die Verbraucherzentralen und der Verbraucherzentrale Bundesverband machen von ihrem Klagerecht rund 1000 Mal im Jahr Gebrauch, um Fehlverhalten im Markt abzustellen und Grundsatzfragen des Verbraucherrechts klären zu lassen. Die Wirkung von Unterlassungsklagen in ihrer gegenwärtigen Ausgestaltung ist allerdings begrenzt. Sie wirken nur für die Zukunft und unmittelbar zwischen den Parteien des Prozesses (inter partes). Verbraucher müssen sich nach deutschen Recht ausdrücklich auf ein Unterlassungsurteil über die Verwendung allgemeiner Geschäftsbedingungen berufen, um von den Rechtswirkungen zu profitieren (§ 11 Unterlassungsklagengesetz). Verbraucher, die in der Vergangenheit einen Schaden infolge eines später untersagten Verstoßes erlitten haben, profitieren häufig nicht oder nur sehr eingeschränkt von einem Unterlassungsurteil und müssen den individuellen Rechtsweg beschreiten. Wegen der regelmäßig unverhältnismäßig hohen Kostenrisiken sehen die meisten Verbraucher von einer gerichtlichen Durchsetzung ab. Aber auch Mitbewerber halten sich häufig nicht an Unterlassungsurteile. Insbesondere bei Finanzdienstleistungen ist problematisch, dass Banken Urteile gegen andere Banken häufig nicht gegen sich gelten lassen. Ähnliche Probleme treten aber auch in den anderen Bereichen auf. 5.2 Breitenwirkung verbessern Das Potenzial von Unterlassungsklagen wird damit nur unzureichend genutzt. Die Reform der Unterlassungsklage sollte deshalb dafür genutzt werden, die Effektivität der Verbraucherverbandsklage zu steigern. Hierfür sollte die Breitenwirkung der Unterlassungsklage verbessert und zusätzliche die Sanktionsmöglichkeiten für Verbraucherverbände geschaffen werden: Zur Verbesserung der Breitenwirkung von Unterlassungsklagen sollte klargestellt werden, dass rechtskräftige Unterlassungsurteile von Amts wegen zugunsten von Verbrauchern in individuellen Verfahren zu berücksichtigen sind. Diese Lesart der Klauselrichtlinie ergibt sich letztlich auch aus dem Invitel-Urteil des EuGH 15 und sollte für alle Unterlassungsurteile gelten. Um die Berücksichtigung von rechtskräftigen Entscheidungen zu erleichtern, sollte ein leicht einsehbares elektronisches Register mit Unterlassungsurteilen geführt werden, in dem sich Gerichte und Anwälte kostenlos informieren können. ___________________________________________________________________________________________ 14
Übersicht über 50 Jahre Verbraucherverbandsklage in Deutschland unter: http://www.vzbv.de/pressemitteilung/50jahre-verbraucherverbandsklage
15
EuGH, Urteil vom 26.4.2012 – C-472/10.
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Unterlassungsklagen sollten den betroffenen Anbieter nicht nur verpflichten, für die Zukunft von einer unseriösen Geschäftspraxis Abstand zu nehmen. Der Anbieter sollte auch verpflichtet sein, die Folgen dieser unseriösen Geschäftspraxis zu beseitigen. Die Folgenbeseitigung sollte jedenfalls diejenigen Schritte umfassen, die dem Unternehmer in unmittelbarem Zusammenhang mit der Unterlassungspflicht zuzumuten sind: • eine Information gegenüber Verbrauchern, die von dem Verstoß betroffen sind, wie etwa ein schriftliche Richtigstellung und einen Hinweis auf etwaige Rückzahlungsansprüche und • soweit möglich, die unmittelbare Erstattung an Kunden, die Zahlungen geleistet haben, obwohl sie hierzu nach dem Unterlassungsurteil nicht verpflichtet gewesen wären oder das Angebot an Kunden, solche Erstattungen zu leisten. 5.3 Erweiterte Wirkung auf individuelle Klagen Ein weiteres Problem der Unterlassungsklage liegt darin, dass individuelle Ansprüche von Verbrauchern häufig bereits verjährt sind, wenn im Wege des kollektiven Rechtsschutzes ein (höchstrichterliches) Unterlassungsurteil erstritten wird. Wichtig wäre deshalb, dass Unterlassungsklagen die Verjährung individueller Ansprüche im Zusammenhang mit dem zu unterlassenden Verstoß hemmen. In den Niederlanden hat der Hoge Raad der Unterlassungsklage eine solche verjährungshemmende Wirkung bereits gerichtlich zuerkannt 16; als Vorbild für das Verbraucherschutzrecht kann ferner die Regelung im deutschen und europäischen Kartellrecht herangezogen werden, wonach die Untersuchung durch die Wettbewerbsbehörde die Verjährung individueller Schadensersatzforderungen hemmt (§ 33 Abs. 5 GWB und Art. 10 Abs. 4 der Richtlinie 2014/104/EU). Eine Verjährungshemmung sollten die betroffenen Verbraucher durch Eintrag in ein Klageregister erreichen können. Mit einer solchen Verbindung könnte das Potenzial des kollektiven Rechtsschutzes wesentlich effektiver zugunsten einzelner betroffener Verbraucher genutzt werden. Darüber hinaus richten sich Unterlassungsklagen nur gegen gegenwärtige Verstöße mit Wiederholungsgefahr. Auch außerhalb des Anwendungsbereichs von Unterlassungsklagen können infolge von Rechtsverletzungen zahlreiche Verbraucher geschädigt sein. In solchen Fällen sollten Verbraucherverbände die Möglichkeit erhalten, Unklarheiten über die Auslegung von Verbraucherrecht oder Tatsachenfragen gerichtlich feststellen zu lassen. Neben Unterlassungsklagen sollten auch Feststellungsklagen zur Auslegung von Verbraucherrecht und Feststellung von Tatsachen möglich sein, wenn in einem konkreten Fall zahlreiche Verbraucher infolge eines Rechtsbruchs geschädigt wurden. 5.4 Effektive Sanktionen schaffen Die Unterlassungsklage sollte durch effektive Sanktionen begleitet werden. Um Anreize zugunsten von Rechtsbruch zu vermeiden, muss vor allem verhindert werden, dass
___________________________________________________________________________________________ 16
Hoge Raad, Urt. v. 28.03.2014, NJB 2014/737, ECLI:NL:HR:2014:766.
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Unternehmen diejenigen Gewinne, die sie durch Rechtsbruch erwirtschaftet haben, behalten können. Verbraucherverbände sollten deshalb in die Lage versetzt werden, solche Unrechtsgewinne abzuschöpfen, wenn oder soweit eine individuelle Entschädigung von Verbrauchern nicht stattfindet. Ein solcher Gewinnabschöpfungsanspruch sollte nicht – wie bislang im deutschen Recht – vom Nachweis eines vorsätzlichen Verstoßes abhängen. Darüber hinaus sollte die Gewinnabschöpfung grundsätzlich infolge aller Verstöße gegen europäisches Verbraucherrecht möglich sein und insbesondere Verstöße im Bereich der unzulässigen Vertragsklauseln (Allgemeine Geschäftsbedingungen) umfassen. 5.5 Anwendungsbereich ausweiten Der Anwendungsbereich der Unterlassungsklagenrichtlinie sollte weiter gefasst werden und folgende Bereiche abdecken: Gas- und Elektrizitätsversorgung (RL 2003/54/EG und RL 2003/55/EG) Datenschutz Beförderung Finanzdienstleistungen Produkthaftung. Mit Blick auf die Wandelbarkeit der gesellschaftlichen Bedürfnisse sollte für die Fortentwicklung der Verbandsklage Raum bleiben. Daher sollte die Aufzählung der klagefähigen Normen nicht abschließend, sondern nur beispielhaft sein. So ist etwa auch die Liste von verbraucherschützenden Normen im deutschen Unterlassungsklagegesetz offen für Erweiterungen (§ 2 Abs. 2 UKlaG: „Verbraucherschutzgesetze im Sinne dieser Vorschrift sind insbesondere…“).