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Basiswissen Kinder- und Jugendpsychiatrie und Entwicklungspsychopathologie
Störungen des Sozialverhaltens
17. Dezember 2015 Dr. Marc Allroggen
1. Definition und Epidemiologie 2. Entstehungsbedingungen 3. Diagnostik und Therapie
Dr. Marc Allroggen
1. Definition Störungen des Sozialverhaltens
Störungen des Sozialverhaltens umfassen ein Muster dissozialen, aggressiven oder aufsässigen Verhaltens mit Verletzungen altersentsprechender sozialer Erwartungen, welches länger als 6 Monate besteht.
Leitsymptome: Deutliches Maß an Ungehorsam, Streiten oder Tyrannisieren Ungewöhnlich häufige oder schwere Wutausbrüche Grausamkeit gegenüber anderen Menschen oder Tieren
Erhebliche Destruktivität gegenüber Eigentum Delinquentes Verhalten Schuleschwänzen, Weglaufen von zu Hause. Zentrales Symptom: Aggressives Verhalten Hohe Komorbidität mit emotionalen Störungen und ADHS Hohe Assoziation mit schlechter sozialer Integration und schulischen Leistungen Dr. Marc Allroggen
1. Häufigkeit psychischer Auffälligkeiten - BELLA Studie (Ravens-Sieberer et al., 2007)
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1. Klassifikation der Störung des Sozialverhaltens ICD-10
DSM-5
Hyperkinetische Störung
ADHD
Hyperkinetische SSV (F90.1)
ADHD (predominantly hyperactive/impulsive presentation) (314.01)
Störung des Sozialverhaltens (SSV)
Conduct disorder (CD)
…auf den familiären Rahmen beschränkt (F91.0) ...bei fehlenden sozialen Bindungen (F91.1)
Childhood-onset type (312.81)
…bei vorhandenen sozialen Bindungen (F91.2)
Adolescent-onset type (312.82)
…mit oppositionellem Trotzverhalten (F91.3)
Oppositional defiant disorder (313.81)
…und der Emotionen (F92) Intermittent explosive disorder (312.34) Anpassungsstörung
Adjustment disorders
Mit vorwiegender SSV (F43.24)
With disturbance of conduct (309.3) Depressive disorders Disruptive mood dysregulation disorder (296.99)
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Specifier: limited prosocial emotions
1. Entwicklungsverlauf von Störungen des Sozialverhaltens
Frühe Kindheit Angst
Opposition. Trotzverhalten
Adoleszenz Depression
Störung des Sozialverhaltens
Erwachsenenalter Substanzmißbrauch
Antisoziale Persönlichkeitsstörung
Hyperkinetische Störung nach Loeber et al. (2000) Dr. Marc Allroggen
1. Entwicklungsverlauf von Störungen des Sozialverhaltens (Fairchild et al. J Child Psychol Psychiatry 2013; 54(9): 924–40)
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1. Definition und Epidemiologie 2. Entstehungsbedingungen 3. Diagnostik und Therapie
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2. Risikofaktoren delinquenten und aggressiven Verhaltens Individuelle Risikofaktoren Biologische Faktoren: veränderte vegetative Reaktionen (z. B. Hautleitfähigkeit, HR) (Hubbard et al., 2010), Veränderungen Neurotransmittersysteme (z. B. 5-HT2, NA, D4DR, MAOA) (Siever, 2008), strukturelle und funktionelle Hinveränderungen (z. B. vmPFC, ACC, OFC, Amygdala) (Shirtcliff et al. 2009) Psychologische Faktoren: Empathiedefizite (Jolliffe und Farrington, 2004), Selbstwert, Narzissmus (Ostrowsky, 2010), Impulsivität (White et al., 1994), CU-Traits/Psychopathie (Loeber et al., 2009), Persönlichkeits- und Temperamentsfaktoren (Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit; sensation seeking, Belohnungsabhängigkeit) (Frick und Viding, 2009), kognitive Defizite und Defizite Exekutivfunktionen
Soziale und Familiäre Risikofaktoren Geringe elterliche Aufsicht (Loeber et al., 1993), Misshandlung (Widom, 1989), Gewalterfahrungen, Broken home (Henry et al., 1993), Niedriger SES (Velez et al., 1989), Peer influences ?, Geringer Bildungsstatus (Loeber et al., 1998) Dr. Marc Allroggen
2. Risikofaktoren Aggressives Verhalten (Scheithauer, 2008)
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2. Schutzfaktoren kindlicher Entwicklung (Scheithauer, 2008)
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2. Störung des Sozialverhaltens - CU traits Callous-unemotional traits (Psychopathie) -Mangel an Schuldgefühlen -Empathiedefizite -emotionale Kälte Verbunden mit einem stabileren Bild von aggressivem und delinquentem Verhalten.
Ohne CU-Traits Defizite in der Emotionsregulation und Impulsivität häufiger familiäre Risikofaktoren und uneffektive Erziehungsmethoden Höhere Ängstlichkeit
Familiäre Faktoren haben einen geringeren Einfluss
Keine Defizite in der Moralentwicklung
Eher proaktive Aggression
Häufiger Stress in Beziehungen zu Gleichaltrigen Eher reaktive Aggression
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2. Entwicklung aggressiven Verhaltens Reaktiv-impulsive Aggression (Ostrowsky, 2010) Momentane, spontane Aggression als Reaktion auf vermeintliche Bedrohung oder Provokation → defensive Orientierung
Genetische Prädisposition führt in Zusammenhang mit frühen negativen psychischen Erfahrungen zu einer Beeinträchtigung im serotonergen System im Bereich des Frontalhirns Hypersensibilität mit verstärkter Reaktion auf negative und bedrohliche emotionale Reize Affektiv-motorische Impulsivität mit später häufigem Bedauern der aggressiven Reaktion
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2. Entwicklung aggressiven Verhaltens Proaktiv-instrumentelle Aggression (Fecteau et al., 2008; Ostrowsky, 2010)
Vorausgeplante und zielstrebige Aggression zur Erfüllung von Bedürfnissen ohne Defizite in der Impulskontrolle → offensive Orientierung
Hohe genetische Komponente (wenig Einfluss von Umweltfaktoren) mit emotionaler Unempfindlichkeit Defizite bei der Verarbeitung negativer emotionaler Informationen (pathologische Furchtlosigkeit)
Störung des Sozialisationsprozesses Gute Impulskontrolle und Risikowahrnehmung, aber moralisches Defizit (Wahrnehmung von Emotionen prinzipiell nicht gestört, aber keine Konsequenz auf die Handlung)
Delinquentes und dissoziales Verhalten
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1. Definition und Epidemiologie 2. Entstehungsbedingungen 3. Diagnostik und Therapie
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3. Diagnostik
1) Exploration des Kindes/Jugendlichen und der Eltern -
Entwicklung der Symptomatik Erfassung Schutz- und Risikofaktoren Biografische Anamnese, Familienanamnese Umgang mit Problemverhalten
2) Erfassung Komorbiditäten
ADHS, emotionale Störungen, Suchterkrankungen 3) Indikationsgeleitete somatische Diagnostik 4) Indikationsgeleitete testpsychologische Diagnostik
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3. Störung des Sozialverhaltens – Psychotherapeutische Interventionen (Garland, 2008) Gemeinsame Elemente von evidenzbasierten Behandlungsprogrammen mit nachgewiesener Wirksamkeit bei Kindern im Alter von 4 – 13 Jahren Therapeutische Inhalte Positive Verstärkung Effektives Begrenzen / Bestrafen
Eltern-Kind-Beziehung stärken Problemlösen Fertigkeiten vermitteln Ärgermanagement Affektwahrnehmung Rückfallprophylaxe
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3. Störung des Sozialverhaltens – Psychotherapeutische Interventionen (Garland, 2008) Methoden Vermittlung von Grenzsetzung/Bestrafung Psychoedukation Hausaufgaben Rollenspiele Verhaltensrückmeldung Zielvereinbarung und -überprüfung Aspekte des Arbeitsbündnisses Gemeinsame Zielvereinbarung
Beziehungsaufbau Weitere Aspekte Teilnahme von Eltern und Kindern, mindestens 12 Sitzungen, wöchentlich mindestens 1 Stunde Dr. Marc Allroggen
3. Therapieempfehlungen (Eyberg et al., 2008; NICE guidelines)
Junge Kinder Elterntraining Jugendliche Individualtherapie (Soziales und Problemlösetraining)
-Komplexe Behandlungsprogramme [Multidimensional Treatment Foster Care (MTFC) (Chamberlain & Smith, 2003); Multisystemic Therapy (MST) (Henggeler & Lee, 2003)] - Ausführliche Diagnostik bevor Behandlung - Konsequente Behandlung - Einbeziehen der Umwelt des Jugendlichen - Medikamentöse Behandlung bei impulsiver Aggression und emotionaler Dysregulation, wenn psychotherapeutische Maßnahmen nicht ausreichend gewesen sind
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3. Wirksamkeit von Behandlungen Jugendpsychiatrie 2008; 36,5)
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(Bachmann et al., Zeitschrift für Kinder- und
Familie Unterstützung der elterlichen Erziehungskompetenz (klare und konsistente Regeln, positive Verstärkung, milde Konsequenzen, Kompromissbereitschaft) Fokus liegt auf prosozialen Verhaltensweisen (weg von Problemzentrierung) Einrichtung Policy; Krisenstrategien, klare Regelungen,
Individuum Emotionsregulation Impulsivität Soziale Kompetenz Bewältigungsmechanismen
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Gleichaltrigengruppe Förderung Kontakte zu nicht aggressiven Jugendlichen Schule Policy; Krisenstrategien, klare Regelungen, positives Classroom-Management, Klassenrat
3. Behandlungsoptionen – Expertenkonsensus (Pappadopulos et al., 2011)
Psychopharmakologische Behandlungsoptionen bei unzureichendem Therapieerfolg von Elterntraining und Verhaltenstherapie -Stimulantien
-Risperidon -Lithium
-Valproat
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3. Psychopharmakologie – Diagnosen bei AP-Verordnung (Glaeske & Schicktanz, 2013, Barmer Arzneimittelreport)
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3. Psychopharmakotherapie (Comai et al. J Clin Psychopharmacol 2012;32)
3. Psychopharmakotherapie (Loy et al., 2012, Cochrane Systematic Review)
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3. Psychopharmakotherapie (Loy et al., 2012, Cochrane Systematic Review)
„There is some limited evidence that risperidone reduces aggression and conduct problems in the short term in children and youths (aged 5 to 18) with disruptive behavior disorders. This evidence comes from a small number of studies conducted in clinical sites in which there was some risk of bias of overestimating the true intervention effect due to methodological shortcomings. The children and adolescents in the trial were recruited from inpatient and outpatient populations so that findings are potentially generalisable. The size of the effect reported in these studies is likely to be clinically meaningful.“
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3. Prävention aggressiven Verhaltens (Connor, 2006) Präventions- und frühe Interventionsprogramme sind effektiv, wenn – Unterstützung von Kind, Familie und Lehrer/Erzieher erfolgt – Gezielte Interventionen regelmäßig, hochfrequent erfolgen
– Die Intervention ausreichend lang ist (mind. 2 Jahre) – Spezifische Interventionen zur Reduktion psychosozialer Risikofaktoren (gewalttätiges Familienklima, vernachlässigender oder misshandelnder Erziehungsstil) erfolgen
– Eine Verbesserung der Eltern-Kind-Interaktion erfolgt (Kommunikation, Problemlöse-Verhalten, Copingstrategien) – Die Intervention möglichst früh erfolgt (Alter des Kindes 0-6 Jahre) – Eine intensive Kollaboration zwischen Familie, Schule, Jugendamt, Jugendgerichtshilfe und KJP erfolgt
Dr. Marc Allroggen
Zusammenfassung
Störungen des Sozialverhaltens stellen eine heterogenes Störungsbild dar, das vor allem durch aggressives und dissoziales Verhalten gekennzeichnet ist. Bedeutsam scheint eine Unterscheidung in Patienten mit und ohne CU-traits, während die Unterscheidung zwischen spätem und frühem Beginn wahrscheinlich prognostisch wenig aussagekräftig ist.
Es besteht eine hohe Komorbidität mit emotionalen Störungen. Psychotherapeutisch sind vor allem Verfahren wirksam, die einen systemischen Ansatz verfolgen und sowohl die Familie als auch das Umfeld mit einschließen. Bei schweren Verläufen kann zur Verbesserung der Impulskontrolle der Einsatz atypischer Neuroleptika sinnvoll sein.
Dr. Marc Allroggen
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie / Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm Steinhövelstraße 5 89075 Ulm
www.uniklinik-ulm.de/kjpp
[email protected]
Ärztlicher Direktor: Prof. Dr. Jörg M. Fegert