Transcript
Aus dem kurzen, erbarmungswürdig intensiven Leben der Milchkühe. Eine Rede für sanfte Mitgeschöpfe von Susanne Schütz
Teil 1.
Diese Rede ist euch Kühen gewidmet, die ihr auf erbarmungswürdig intensive Weise zum profitablen Nutzen der modernen Landwirtschaft lebt. Ihr, die ihr Teile eines Systems sind, das sich ständiger Optimierung, Hochleistungserträgen und bedingungsloser Effizienz verschrieben hat. Was das angeht, geht es euch wie uns modernen Menschen. Zusammen sind wir Teile eines Systems, das als Ganzes einer falschen Wachstumserwartung verfallen ist. Immer höhere Leistung über biologische Grenzen hinaus führt uns Menschen in die Erschöpfung (Burnout) und euch in eine „kurze Nutzungsdauer“, den frühen Tod. Aber von Anfang an. In euren ersten beiden Lebensjahren, wenn ihr Kälber und dann Färsen seid, werft ihr für eure Halter keinen Gewinn ab. Profitabel seid ihr erst, wenn ihr euer erstes Kalb bekommt. Da seid ihr ungefähr 26 Monate alt, manchmal auch jünger. Die Bullenkälber, die ihr gebärt, haben keinen Platz in der Milchwirtschaft. Sie sind wertlos, unnütze Nebenprodukte, schwer verkäuflich. Diejenigen unter euch, die sehr jung ihr erstes Kalb bekommen, um dann als Hochleistungskuh in der Produktion zu gehen, sind Krankheiten gegenüber nicht widerstandsfähig. In den ersten Wochen nach der Geburt eurer Kälber gebt ihr sehr viel Milch, was euch viel Energie kostet. Dabei fresst ihr in dieser Zeit viel weniger als ihr bräuchtet, um so viel Milch zu produzieren. Dieses Phänomen kennen Forscher und Landwirte, sie nennen es negative Energiebilanz. Diese ist messbar: Ihr nehmt nach der Geburt bis zu 50 kg ab, so viel, dass eure Hüft- und Schulterknochen aus dem Körper ragen. Ihr fresst einfach nicht genug, um ausreichend Energie zu bekommen und gebt trotzdem immer mehr Milch. Es ist falsch zu sagen, dass die Natur das eben so eingerichtet hat, weil ein Kalb in den ersten Tagen und Wochen gar nicht so viel Hunger und Durst hat, dass es seiner Mutter schaden könnte: Es ist das Melkgeschirr, das so lange pumpt, bis kein Tropfen mehr aus euch raus kommt. Und es ist geradezu zynisch, das beschönigende Bild vom dankbaren Nutztier zu bemühen, das seinen Landwirt mit Leistung belohnt. Ihr magert nicht nur ab, ihr werdet krank und unfruchtbar. Eure Gebärmütter, Euter oder
Klauen entzünden sich, viele von euch leiden an der gefürchteten Stoffwechselerkrankung Ketose. Ausgerechnet in dieser Zeit werdet ihr neu besamt, denn ohne ein neues Kalb würde euer Milchfluss ja versiegen. Die Milchproduktion soll hoch sein, also werden die Zeiten zwischen den Kalbezeiten möglichst kurz gehalten. Das bedingungslose Ziel ist ein Kalb pro Jahr für jede von euch. Praktisch heißt das, dass ihr schon sechs bis acht Wochen nach der Geburt eures Kalbes wieder besamt werdet. Und das in der Zeit der negativen Energiebilanz, wenn eure Stoffwechsel schon aufs Äußerste strapaziert sind. In dieser Situation sind viele von euch noch gar nicht wieder fruchtbar. Ihr hattet nämlich als Reaktion auf die negative Energiebilanz euren Zyklus gedrosselt – ein Erbe der Evolution übrigens, die Milchproduktion für das Kalb ist wichtiger als eine neue Trächtigkeit. Was also aussieht wie eine gesunde Schutzfunktion bringt euch in Wahrheit in tödliche Gefahr: Wenn ihr nicht tragend seid, verliert ihr euren Wert für den Landwirt. Misslingen die ersten Besamungsversuche, in der Regel sind es nicht mehr als drei, werdet ihr zum Schlachthof geschickt. Die Regel der modernen Milchwirtschaft lautet: Nach durchschnittlich drei Laktationen, also drei Jahren im Melkstand, werden Milchkühe in Deutschland geschlachtet. Oder mit dem landwirtschaftlichen Fachausdruck: gemerzt. Da seid ihr gerade mal 5 Jahre alt. Das finden die Profiteure völlig normal. Auch das Thünen-Institut, das renommierte Forschungsinstitut der Nutztierhalter, vermeldet, dass „Kühe mindestens drei Laktationen im Betrieb verbleiben sollen, da diese zur Vollkostendeckung der Aufzucht benötige werden. Häufig werden die leistungsphysiologischen Optima jedoch nicht genutzt, weil Kühe früher abgehen. Durchschnittlich werden die Milchkühe 5,3 Jahre alt.“ Zum Vergleich: In Schlipfs Handbuch der Landwirtschaft aus dem Jahr 1898, dem Klassiker der landwirtschaftlichen Lehrbücher für Generationen von Landwirten steht: „Vom dritten Kalbe an, also vom fünften, sechsten bis zum zwölften Lebensjahre hat die Kuh den höchsten Wert für die Zucht:“ Euer drittes Kalb wird häufig nicht mehr geboren. Bevor die Kuh von heute ihre höchste Leistung zeigen kann, ist sie schon tot. Prof. Martens, Tierarzt und emeritierter Professor für Tierphysiologie an der FU Berlin, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit diesem Problem. Er sagt: „In den letzten Jahrzehnten bis Anfang 2000 hat sich die Milchleistung pro Laktation verdoppelt, die Lebensleistung der Kuh hat sich in diesem Zeitraum jedoch nicht geändert. Aus einem einfachen Grund: Die Nutzungsdauer der Kühe hat abgenommen.“ Prof. Martens hat herausgefunden, warum so viele junge Tiere unter euch aussortiert werden: Ihr seid dem Leistungsdruck nicht dauerhaft gewachsen.
Viele von euch werden tragend geschlachtet. Die Bundestierärztekammer geht von 10 % der Kühe aus, das sind in Deutschland 180.000 ungeborene Kälber, die Jahr für Jahr in ihren getöteten Müttern am Schlachthaken qualvoll ersticken. (www.prohvieh.de/skandal-schlachtung-traechtigertiere-ueblich)
Effizienz, Ökonomie, Tiergesundheit. Wenn ihr mit 5 Jahren aus diesem System rausfallt, gibt es ein grundsätzliches Problem. Es ist nicht richtig, was mit euch und euren Kälbern passiert.
Fortsetzung folgt.
28.02.2016
Literatur Prof. Holger Martens: Energiestoffwechsel und Fruchtbarkeit der Kuh, in: Tierärztliche Umschau 67, S. 496-503 (2012) Prof. Holger Martens: Die Milchkuh. Leistungssteigerung www.basfanimalnutrition.de/de/news_2012_04_15.php
ohne
Grenzen.
Tanja Busse: Die Wegwerfkuh. Wie unsere Landwirtschaft Tiere verheizt, Bauern ruiniert, Ressourcen verschwendet und was wir dagegen tun können. Karl Blessing Verlag, München 2015 Prof. Dr. Folkhard Isermeyer: Plädoyer für eine nationale Nutztier Strategie: Wie kommen moderne Landwirtschaft und Gesellschaft wieder zueinander. Thünen-Institut, veröffentlicht in Agra-Europe 36-15 am 31.08.2015, Länderberichte, Sonderbeilage S. 1-4 Thünen Working Paper 28, Braunschweig (2014) Johann Adam Schlipf: Handbuch der Landwirtschaft (1898) (www.prohvieh.de/skandal-schlachtung-traechtiger-tiere-ueblich)