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SWR2 Musikstunde Das kann doch nicht wahr sein! – Musikalische Irrtümer (4) Als mit Irrtümern aufgeräumt wurde: Historisch informierte Aufführungspraxis Von Nele Freudenberger Sendung:
Donnerstag, 02. Mai 2016
Redaktion:
Ulla Zierau
9.05 – 10.00 Uhr
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SWR2 Musikstunde mit Nele Freudenberger Das kann doch nicht wahr sein! – Musikalische Irrtümer (4) Als mit Irrtümern aufgeräumt wurde: Historisch informierte Aufführungspraxis Signet Mit Nele Freudenberger Die Alte Musik Szene hat schon mit so manchem musikalischen Irrtum aufgeräumt: ob Dynamik, Besetzung oder Tempo – die Interpretation alter Musik basiere jetzt auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, so heißt es. Doch auch die können in die Irre führen. Die historisch orientierte Aufführungspraxis mit all ihren Irrungen und Wirrungen wird uns in der heutigen Musikstunde beschäftigen. Titelmusik Es war Felix Mendelssohn der die Alte Musik überhaupt wieder zur Aufführung brachte – wie z.B. seine legendäre Wiederaufführung von Bachs Matthäuspassion, die allerdings durch rüde Kürzungen und einige Uminstrumentierungen dem Zeitgeschmack angepasst wurde. Vorher – also Jahrzehnte nach ihrem Tod - wurden Bach, Händel und co. nicht mehr gespielt: unmodern, nicht mehr en vouge. Erst allmählich kam man dahinter, dass auch die alten Meister durchaus hörenswerte Musik komponiert hatten. Hier gab es allerdings ein grundlegendes Problem: mit der Romantik wurden die Klangapparate immer größer und damit unbeweglicher. Das angestrebte Klangideal war in jeder Beziehung üppig: mit großem Vibrato, breiten Bögen und langen Linien. Herrlich für Bruckner, aber ein Todesurteil für Barockmusik, der damit die Spritzigkeit die sie auszeichnet völlig abhandenkommt. Nichtsdestotrotz ließen sich die großen Dirigenten der alten Schule nicht davon abbringen, ein Bachkonzert genauso zu dirigieren wie eine Mahler-Sinfonie. Karajan und die Berliner Philharmoniker haben 1965 die brandenburgischen Konzerte von Johann Sebastian Bach auf diese Weise aufgenommen. Hier ein kurzer Ausschnitt aus dem dritten Satz des dritten Konzerts in G-Dur.
3 Musik 1 J. S. Bach Brandenburgisches Konzert Nr. 3, 3. Satz Berliner Philharmoniker / Herbert von Karajan Track: 10 Zeit: 3:30 Deutsche Grammophon, LC00173, 4803337, 028948033379 Eine solche Interpretation ist heute kaum noch vorstellbar: denn während das hier vielleicht die langsamste Aufnahme dieser Konzerte der Welt ist, hat Reinhard Goebel sicherlich eine der schnellten Aufnahme desselben Stücks hingelegt. Bei den Aufnahmen wurde Goebel zum Tempo gefragt: sind Sie sicher, dass Sie das so schnell spielen lassen wollen? Und ob er das war, denn Goebel hatte lange und viel geforscht. Seine musica antiqua Köln war viel kleiner besetzt als die Berliner Philharmoniker. Vibrato war – zumindest damals – gestrichen, das Stück wurde völlig anders gedacht und eingeteilt: nämlich nicht wie Karajan das getan hatte in dem 12/8 Takt in dem es notiert ist, sondern als alla breve was dem ganzen Stück einen völlig anderen Charakter verleiht. Denn bei einem alla breve verhält es sich folgendermaßen: statt der üblichen Viertel-Noten zählt man die halben – spielt also schneller und setzt die Betonung deutlicher. Während Karajan diesen 12/8 Takt also wie einen vierer Takt schlägt, denkt Goebel ihn nur noch in einem zweier Takt. Neben dieser rein mathematischen Beschleunigung ist Goebels Ansatz menschlich gedacht: zum Zeitpunkt der Aufnahmen war er genauso alt wie Bach als er die Konzerte schrieb (nämlich 35) – ein naheliegender Gedanke also, dass beide etwa dieselbe Auffassung von Temperament und Geschwindigkeit hatten. Und Goebel ist eher von der schnellen Truppe und wenn man sich Bachs Kompositionen sowohl in Qualität als auch in Quantität ansieht, kann man wohl davon ausgehen, dass das auch auf Bach zutrifft. Diese Aufnahme von 1985/86 war ein Meilenstein! Und spaltete, wie zu erwarten die Gemüter. Während die einen Goebel für diesen radikalen, aber eben wissenschaftlich fundierten Ansatz feierten, beschwerten sich die anderen über den fehlenden Kuschelfaktor dieser Interpretation. Und tatsächlich: diese Aufnahme geht ab, wie eine Rakete! Völlig entschlackt ist das eine Verjüngungskur um etwa 200 Jahre! Dass mit dem Irrtum aufgeräumt wurde, man könne Bach wie ein romantisches Stück spielen, hat die historisch orientierte Aufführungspraxis weit nach vorne gebracht. Goebel stand schon damals natürlich in einer nicht mehr ganz neuen Tradition. Er selbst studierte unter anderem bei Marie Leonhardt – eine der Pionierinnen der Barockvioline und der historisch informierten Aufführungspraxis. Sie war Konzertmeisterin in Ton Kopmans musica antiqua Amsterdam und natürlich spielte sie auch im Leonhardt-Consort – schließlich war sie mit dem Cembalisten Gustav Leonhardt verheiratet.
4 Goebel studierte außerdem bei Eduard Melkus – ebenfalls Barockgeiger, der nicht nur zum engeren Kreis um Leonhardt, sondern auch zu dem um Nikolaus und Alice Harnoncourt gehörte. Impulse gab es für Goebel also reichlich. Hier aber nun besagte revolutionäre Aufnahme von Reinhard Goebel und seiner musica antiqua Köln – ebenfalls der dritte Satz aus dem brandenburgischen Konzert in G-Dur Musik 2 J. S. Bach Brandenburgisches Konzert N.r.3, 3. Satz Musica Antiqua Köln, Reinhard Goebel M0011221 009, 3‘50 Reinhard Goebel und seine musica antiqua Köln mit dem dritten Satz aus dem brandenburgischen Konzert Nr. 3 in G-Dur von Johann Sebastian Bach. Vielleicht DIE Aufnahme, die eine ästhetische Wende für die Interpretation von Barockmusik brachte – denn von einzelnen Ausnahmen abgesehen – wurde Barockmusik genauso gespielt, wie romantisches Repertoire auch. Jetzt könnte man ja annehmen, dass die historisch informierte Musikpraxis sich ausschließlich um Alte Musik kümmert – aber auch das ist ein Irrtum. Sukzessive haben sich die Protagonisten der historischen Aufführungspraxis weiter vorgepirscht – denn wer sagt denn, dass die Werke der Romantik genau SO aufgeführt wurden, wie man es sich im Laufe der Jahre und Jahrzehnte angewöhnt hat! Es wurde also weiter geforscht und experimentiert. Eine der berühmtesten und beeindruckendsten Figuren dieser Zeit ist ohne Frage Nicolaus Harnoncourt. Auch wenn er zu den Frontleuten dieser Bewegung gehörte, so konnte er die Formulierung „historisch informierte Aufführungspraxis“ nicht leiden. Er empfand es als seine Pflicht zu forschen und nicht nur nach rein ästhetischen Parametern zu musizieren. Er legte seinen Interpretationen die Idee der Musik als Klangrede zugrunde – ein Prinzip, über das er auch mehrere Bücher geschrieben hat. Eigentlich war Harnoncourt Cellist. Festangestellt bei den Wiener Philharmonikern. Schon während seines Studiums kam er in Kontakt zur Alten Musik – und zu Musikern, die sich damit befassten. Unter anderem lernte er seine spätere Frau die Geigerin Alice Harnoncourt geborene Hoffelner kennen. Gemeinsam mit ihr und noch ein paar anderen Musikern gründete er einen Vorläufer des Concentus Musicus Wien – ein Ensemble, dessen primäres Ziel es war, die alte Musik und deren authentische Aufführung zu erforschen und nicht, Konzerte zu geben. Dieser Vorläufer des Concentus bestand überwiegend aus Musikern der Wiener Philharmoniker. Sie suchten nach alten Instrumenten und versuchten, aus alten Quellen herauszubekommen, wie genau man sie spielte.
5 Schnell wurde Harnoncourt zum musikalischen Leiter – dirigierte aber eben nicht, sondern übernahm die Leitung vom Cello aus. So, wie es in der Zeit des Barock üblich gewesen war; der Dirigent ist eine vergleichsweise späte Erfindung. Auch in dieser Besetzung gab es eine bahnbrechende Aufnahme von Bachs Brandenburgischen Konzerten – aus dem Jahre 1964. Von da an nahm die Internationale Karriere des Ensembles ihren Lauf, eine Aufnahme folgte der nächsten, die historisch informierte Aufführungspraxis trat ihren Siegeszug an. Plötzlich wurde Harnoncourt auch von anderen Ensembles als Dirigent angefragt. Zunächst lehnte er ab, denn er sah sich nicht in der Dirigentenrolle, sondern in der des musikalischen Leiters – ohne Taktstock, vom Cello aus. Erst in den 70er Jahren sagte er zu, als es darum ging, an der Mailänder Scala Monteverdis Oper „il ritorno d’Ulisse in patria“ zu dirigieren. Und von da an dirigierte er immer häufiger, wagte sich zeitlich im Repertoire immer weiter vor, bis zu den Klassikern Mozart und Beethoven. Er predigte – und lebte – „die Botschaft der Handschrift“ so der Titel einer seiner Aufsätze über Mozart. Er hat die Dirigenten und Solisten quasi zu Philologen gemacht, die nun fleißig die Handschriften studieren, um einen klareren Bezug, eine klarere Idee zu den Werken zu bekommen. Und das funktioniert, genau wie das Prinzip der Klangrede, eben in allen Epochen. Es waren unter anderem die Wiener Philharmoniker, die ihn baten ihr Chefdirigent zu werden. Aber er lehnte ab. Immerhin nahm er die Ehre an, das Neujahrskonzert zu dirigieren. Hier also ein historisch informierter Johann Strauß, mit den Wiener Philharmonikern, die ja auf modernen Instrumenten spielen, und Harnoncourt am Pult Musik 3 Johann Strauß: Baunerpolka Wiener Philharmoniker / Nikolaus Harnoncourt Neujahsrkonzert 2003 M0055581 011, 2‘53 Die Bauernpolka von Johann Strauß Sohn: gespielt von den Wiener Philharmonikern unter der Leitung von Nicolaus Harnoncourt. Die Alte Musik gehört dank Menschen wie Nikolaus Harnoncourt oder Gustav Leonhardt oder Christopher Hogwood heute wie selbstverständlich zum klassischen Repertoire. Das war beileibe nicht immer so. Die ersten Anfänge gab es etwa zur Jahrhundertwende. Hier begann man, sich für alte, authentische Instrumente zu interessieren. Alfred Deller, der die Gesangstechnik der Countertenöre wiederbelebte spielte eine wichtige Rolle, aber sie galten lange Zeit noch als absolute Exoten.
6 Heute erleben Countertenöre geradezu eine Hoch-Zeit: tolle Stimmen wie die von Philippe Jaroussky, Max Emanuel Cencic, Valer Bader Sabadus und wie sie nicht aller heißen feiern geradezu Siegeszüge! Doch die alten Instrumente starteten trotzdem ihre Karriere neu: ob Blockflöte, Laute oder Gambe: sie wurden wieder populär. Zunächst zwar nicht in den Konzertsälen, aber zum häuslichen musizieren. Der Grund ist schnell erklärt und ein großer Irrtum: die Instrumente galten als besonders leicht zu spielen, ebenso wie die alte Musik an sich, weswegen die Alte Musikszene sich aus einer Jugendmusikbewegung heraus etabliert hat. Es gab eine sogenannte „Gambenbewegung“ die tatsächlich eine Art Protestbewegung gegen das künstlerische Establishment war. Wirklich interessant wird es ab etwa 1927, als der Cellist August Wenzinger auf der Bildfläche erscheint: schon längst beschäftigt er sich mit der Gambe und ein Hagener Industrieller wird auf seine Arbeit aufmerksam: Hans Eberhardt Hoesch. Er ist selbst passionierter Geiger, interessiert sich brennend für den Originalklang und beginnt früh, alte Instrumente zu sammeln, was seine finanzielle Lage ihm durchaus im großen Stil erlaubt. Später unterhält er sogar eine eigene Instrumentenwerkstatt. Aber er sammelte auch Schriften und Musikalien, um dem Originalklang auf die Schliche zu kommen – kurz um: er forschte und förderte mit allen Mitteln. Quasi autodidaktisch wurde er vom Liebhaber zum Fachmann – gerade, was Fragen zur Mensur alter Streichinstrumente anging. Aber das Sammeln und forschen allein, waren ihm nicht genug. Er versammelte Musiker um sich, die genau wie er für die Alte Musik brannten! Nach einigen Forschungsreisen zu Festivals und Konzerten initiierte Hoesch die Kabeler Kammermusik. Das erste Mal wurden sie 1930 gegeben. Aus ganz Deutschland wurden Musiker eingeladen, um unter der Leitung von Christian Döbereiner innerhalb von 5 Tagen ein Programm mit alter Musik einzustudieren. Das Konzert war ein voller Erfolg, so dass gleich eine regelmäßige Einrichtung daraus wurde. Hier trafen sich Musiker wie der Flötist Gustav Scheck und der Cellist und Gambist August Wenzinger, die ihrerseits auch außerhalb der Kabeler-Kammermusiktage musizierten, forschten und ihre Ergebnisse verbreiteten. Die alte Musik wurde immer populärer, erreichte ein immer größeres Publikum. Den Durchbruch erreichte sie sicherlich mit dem ersten Konzert der capella coloniensis unter der Leitung von Wenzinger. 1954 trat das Orchester, das auf Originalinstrumenten spielte mit einem Bach Programm beim Nordwestdeutschen Rundfunk im Kölner Funkhaus auf. Auch Wanda Landowska darf man natürlich in dieser Entwicklung nicht vergessen: sie verhalf dem Cembalo zu neuem Glanz. Die Polin hat wichtige Impulse für die Alte Musikszene gegeben.
7 Sie lehrte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an unterschiedlichen Musikhochschulen Europas und konzertierte auf der ganzen Welt und brachte so das Cembalo als Instrument wieder in das öffentliche Bewusstsein. Allmählich also kamen die alten Instrumente wieder zu neuem Ruhm und mit ihnen eben auch die alte Musik. Und wenn diese Szene eines bewiesen hat, dann sicherlich, dass die alten Instrumente und die alte Musik mindestens so virtuos sind, wie die romantische. Musik 4 The Duke of Norfolk (Paul's Steeple) Ensemble 1700, Dorothee Oberlinger M0384877 001, 2‘55 Dorothee Oberlinger und das Ensemble 1700 mit Musik von the Duke of Norfolk – aus „the division Violin“ gemischt mit Variationen aus „the division flute“ und improvisierten Variationen. Die Blockflöte – ein Instrument, mit schlechtem Ruf und dem man vor allem zu Unrecht unterstellt, dass es besonders leicht zu spielen sei. Überraschenderweise glaubte man das auch von der Gambe – weil sie im Gegensatz zum Cello Bünde hat. Für die Gambe, die quasi die Vorgängerin des Cellos im Musikleben war, gibt es zahlreiche Kompositionen. Sie galt als das Instrument der Könige, von besonderer Eleganz und Finesse und so wundert es nicht, dass auch Nicht-Könige sich für dieses Instrument begeistern konnten und es reichlich Nachfrage gab. Trotzdem konnte es sich nur ein Georg Philipp Telemann leisten, 12 Fantasien für Gambe solo herauszubringen. Schließlich war er nicht nur Komponist sondern auch Verleger und dem Publikum muss damals eine Komposition so ganz ohne Generalbass und für Gambe, die allmählich vom Cello abgelöst wurde, nicht geheuer gewesen sein – das war ja furchtbar altmodisch! Dass diese Sammlung 1735 auf dem Markt erschienen sein muss, geht aus einer Art Werbekatalog hervor, den Telemann regelmäßig drucken ließ. Deswegen wusste man, dass es diese 12 Fantasien geben musste! Aber ach, kein einziges der gedruckten Exemplare war mehr zu finden und ein Autograph schon überhaupt nicht. Damit bekam dieses Werk eine mystische Aura bzw. Legendencharakter, ähnlich dem Bernstein-Zimmer. Wunderschön und kunstvoll muss es sein – aber leider werden wir es nie erfahren… schließlich ist es weg. Ein großer Irrtum! Mit so etwas kann man sich natürlich abfinden, sollte man aber nicht, wie der Gambist Thomas Fritzsch eindrucksvoll bewiesen hat: denn er hat sie
8 wiedergefunden, die sagenumwobenen „douze Fantaisies pour la Basse de Violle“ von Georg Philipp Telemann. 12 Fantasien, die tatsächlich unglaublich sind! Zeugnis ablegen von Telemanns Kreativität und Kennerschaft des Instruments, die zeigen, dass er mit Geschmack und Zeitgeist nicht viel zu schaffen hat, denn er nutzt gleichermaßen die alten, wie die neuen Formen – eben so, wie es gerade am besten passt. Gefunden hat Thomas Fritzsch die Noten übrigens auf Schloss Ledenburg in der Privatbibliothek der adeligen Dichterin Eleonore von Münster. Sie lebte von 17341794 und war offenbar eine hervorragende Gambistin, die diese Noten einfach haben musste! Dass es diese private Sammlung überhaupt gibt, diesen Hinweis bekam Fritzsch von dem französischen Musikwissenschaftler Francois-Pierre Goy. Der ist Konservator der Bibliotheque national de France in Paris und die Gambe und Zupfinstrumente sind sein Forschungsschwerpunkt. Dass er mit seiner These richtig lag, dass wenn jemand die Noten von Telemann hatte, es Eleonore von Münster sein müsse, war ein Glücksgriff. Ein Irrtum also einfach anzunehmen, ein Werk sei verschollen, nur weil es nicht in einer der großen Bibliotheken katalogisiert ist! Hier also eine der 12 Fantasien für Viola da Gamba solo von Georg Philipp Telemann Musik 5 Georg Philipp Telemann Fantasie für Viola da gamba Nr. 1 c-Moll, TWV 40:26 Thomas Fritzsch M0433984, 5‘48 Die erste aus den 12 Fantasien für Viola da gamba solo von Georg Philipp Telemann, gespielt hat Thomas Fritsch, der die verschollen geglaubten Noten auch wiederentdeckt hat. Während dieses Werk also wiedergefunden wurde, nachdem man es endgültig ins Reich der Mythen entlassen wollte ist die nächste Musik die ich Ihnen vorstellen möchte ein wirklich großer Urheberirrtum! Das ist besonders bitter, denn im Grunde ist es das bekannteste Werk von Tomaso Albinoni – nur ist es eben nicht von Albinoni. Die Rede ist vom Adagio in g-Moll. Eins DER Werke des Barock, das praktisch auf jeder CD zu finden ist, die etwas seichte Klassik anbietet. Ein Werk, das unzählige Male und in unglaublichen Versionen und Arrangements bearbeitet wurde. Kitsch pur! 1958 präsentierte ein italienischer Komponist und Musikwissenschaftler namens Remo Giazotto das Adagio, das er selbst – im Stile Albinonis – komponiert habe
9 und zwar aus Fragmenten rekonstruiert, einer Skizze nur, die der Meister hinterlassen haben soll. Erstaunlich hierbei, dass Giazotto die Skizzen nicht vorlegen konnte – und das ist doch das, was ein Musikwissenschaftler reflexartig und voller Stolz tun würde: einen Autographen-Fund präsentieren! Man weiß nur, was Giazotto über diese Skizze zu einer angeblichen Triosonate sagt: nicht mehr als 6 Takte sollen es gewesen sein für Violine und eine bezifferten Bassstimme. Auch wenn sich schon damals Zweifel breit machten, zumal wegen der unbarocken Harmonik und Struktur, ist dieses Adagio bis heute für die breite Masse das bekannteste Werk von Tomaso Albinoni. Bitter. Zumal, wenn man bedenkt, was für herrliche Musik der Venezianer tatsächlich komponiert hat! Hier also nun der Fake von Remo Giazotto: das Adagio g-Moll. Nennen wir es wohlwollend Adagio á la Albinoni…. Musik 6 Albinoni / Remo Giazotto Adagio g-Moll Academy of St. Martin in the Fields / neville Marriner Decca, LC0171, 460483-2, 028946048320 7’16 Neville Marriner am Pult der Academy of St. Martin in the Fields mit dem Adagio in g-Moll angeblich von Tomaso Albinoni und absurderweise heutzutage sein bekanntestes Stück, dabei hat es der Komponist und Musikwissenschaftler Remo Giazotto geschrieben – nach einer ominösen Skizze Albinonis, die er aber niemals hat vorzeigen können. Einer Verwechslung gänzlich anderer Art fiel – und zwar immer wieder – der Komponist Ludwig Berger zum Opfer. Er hatte nämlich einen Namensvetter, der allerdings noch ein K. zwischen Vor- und Nachname trug: Ludwig K. Berger war Sänger und komponierte offenbar auch das ein oder andere Lied – in der Regel allerdings mit Gitarrenbegleitung. Da sich sowohl Ludwig als auch Ludwig K. Berger in erster Linie mit Gesang beschäftigten, war diese Namensverwandtschaft fatal. Zumindest für Ludwig – denn qualitativ lagen Welten zwischen den Werken der beiden. Ludwig Berger, also der, über den zu reden sich lohnt, wurde 1777 in Berlin geboren. Er war in den Berliner Salons ein gern gesehener Gast und ging dort ein und aus. Unter anderem beim Staatsrat Friedrich August von Staegemann, wo er den Dichter Wilhelm Müller kennen lernte. Innerhalb dieses Salons entstand unter dem Motto „Rose, die Müllerin“ Müllers berühmter Gedichtzyklus, dem vor allem Franz Schubert durch seine Vertonung zu Unsterblichkeit verholfen hat.
10 Die erste musikalische Version allerdings stammt von Ludwig Berger! Er vertonte 10 der Gedichte, noch bevor der Zyklus fertig gestellt war. Freilich ist diese Fassung von anderer Qualität als die von Franz Schubert, aber die Lieder sind durchaus hörenswert und handwerklich gut gemacht. Hier eine Probe aus diesem Zyklus – der übrigens ausnahmsweise mal nicht Ludwig K. Berger zugeschrieben wurde – „des Baches Lied“ Musik 7 Ludwig Berger Des Baches Lied Markus Schäfer, Tobias Koch Avi-music, LC15080, 8553333, 4260085533336 3‘16 Des Baches Lied von Ludwig Berger, ein Komponist, der Zeit seines Lebens und auch noch danach mit einem Zeitgenossen und Namensvetter verwechselt wurde, der ebenfalls Lieder komponierte, wenn auch von minderer Qualität. Markus Schäfer wurde von Tobias Koch begleitet. Wir bleiben beim Thema Kammermusik, verlegen uns aber auf Streichinstrumente. Auf Streichquartette um genau zu sein. Das Streichquartett, so wird bzw. wurde allgemein angenommen, sei eine Erfindung von Joseph Haydn. Vor ein paar Jahren kam allerdings der berechtigte Einwand auf, dass auch Franz Xaver Richter schon Streichquartett publiziert hat – und zwar bereits 1768. Zwar hatte Joseph Haydn schon 1764 Quartettdivertimenti veröffentlicht, aber richtige Streichquartette op.9 erst 1771. Die These, dass Haydn das Streichquartett erfunden hat, wird aber nicht nur von Richter bedroht: auch in Italien gibt es eine Entwicklung für diese Kammermusikform, die mit zwei Geigen, einer Bratsche und einem FESTGESCHRIEBENEN Cello besetzt ist. Vorher hätte man die Bassstimme mit einem beliebigen Instrument besetzen können. Während Haydn und Richter also in Deutschland an dieser Form arbeiteten, war es in Italien maßgeblich Luigi Boccherini, der als Cellovirtuose den Streichinstrumenten ja ohnehin zugeneigt war, der eine italienische Form des Streichquartetts in die Welt gebracht hat. Während sein op. 1 noch Streichtrios sind, so ist sein op. 2 erweitert aufs Quartett – mit der üblichen Besetzung: 2 Violinen, Viola und Violoncello. Diese Quartette stammen aus dem Jahre 1761 und sind beileibe nicht der einzige italienische Versuch ins Streichquartettgeschäft einzusteigen. Madalena Lombardini Venezianische Geigerin und Komponistin veröffentlichte ihre ersten Streichquartette nur 6 Jahre später! Und auch Bartolomeo Campagnioli legte ein Jahr später nach. Also von wegen, Haydn oder Richter hätte das Streichquartett erfunden! Die von Boccherini fanden sogar ausgesprochen schnell Verbreitung, denn veröffentlicht wurden sie in Paris. Ein cleverer Schachzug, denn dort gelangten sie
11 praktisch direkt in die Salons. Insgesamt hat Boccherini übrigens 91 Streichquartette komponiert! Haydn und Boccherini haben sich beide sehr um die Gattung verdient gemacht. Ihr Stil könnte aber kaum unterschiedlicher sein und der von Haydn hat sich nun mal in der öffentlichen Wahrnehmung durchgesetzt. Hier eine Kostprobe wie ein Quartett von Boccherini klingen mag: natürlich eines aus seinem op. 2
Musik 8 Luigi Boccherini Quartett für 2 Violinen, Viola und Violoncello C-Dur, G 164 (op. 2 Nr. 6) Sonare Quartett M0018082 W06 016, 3‘44 Der erste Satz aus Luigi Boccherinis Streichquartett in C-Dur op. 2 Nr. 6, gespielt hat das Sonare Quartett. Damit geht die SWR2 Musikstunde für heute zu Ende. Morgen beschäftigen wir uns in unserer Reihe musikalische Irrtümer mit dem Thema Biographik: die kann nämlich absichtlich oder unabsichtlich voller Irrtümer stecken. Mein Name ist Nele Freudenberger – ich sage Tschüss und wünsche Ihnen noch einen schönen Tag!