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Swr2 Musikpassagen

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SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE _________________________________________________________________________________ SWR2 Musikpassagen Der Biss der Tarantel Die Pizzica von Apulien Von Anke Behlert Sendung: Sonntag, 20. März 2016, 23.03 Uhr Redaktion: Anette Sidhu-Ingenhoff Produktion: SWR 2016 __________________________________________________________________________ Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. __________________________________________________________________________ Service: Mitschnitte aller Sendungen der Redaktion SWR2 Musikpassagen sind auf CD erhältlich beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden zum Preis von 12,50 Euro. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 __________________________________________________________________________ Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de Musik: Uccio Aloisi - "Stornelli" Heute: Der Biss der Tarantel - Die Pizzica von Apulien. Am Mikrofon ist Anke Behlert. Musik: Uccio Aloisi - "Stornelli" Heute begeben wir uns auf eine Reise in den äußersten Südosten Italiens, in die Region, die gemeinhin als der Absatz des italienischen Stiefels bezeichnet wird: das Salento in Apulien. Begrenzt von Adria und Ionischem Meer gibt es hier traumhaft schöne Küstenabschnitte, endlose Olivenhaine und unzählige Kakteen. Lange ist das Salento eine der ärmsten Regionen Italiens gewesen, die Menschen waren hauptsächliche Bauern, die sich in den heißen Sommern auf den Feldern abmühten. Dort kam es hin und wieder zu Begegnungen mit einer eher unangenehmen Kreatur, der Tarantel. Der Biss dieser mythischen Spinne konnte laut Legende nur durch ein Ritual aus Musik, Tanz und Farben geheilt werden - dem Tarantismo. Musik: Unbekannter Interpret - Pizzica Für das Tarantismo-Ritual kommen die Musiker in das Haus der Betroffenen, der sogenannten Tarantati, und spielen so lange, bis er oder, in den meisten Fällen, sie, geheilt ist. Die Autorin Teresa de Sio beschreibt das in ihrem Roman "Lass den Teufel tanzen" so: "Don Vincenzo Epifani rückt das Handtuch über seinen Schultern zurecht, klemmt sich die Geige unter das Kinn und beginnt mit einer Abfolge von Akkorden. Do, do, do fragt sich die Geige mit einem zischenden Laut. Do, do, do kommt das Echo der Zieharmonika von Don Luigi wie zur Bestätigung. Dann greift Uccio Blasi zur Gitarre und schlägt die ersten Töne an. Donna Aurelia singt: "Alle Brünnlein sind versiegt, mein armes Lieb, es verdurstet." Musik: Alla Bua - "Fior di tutti i fiori" Bei Teresa de Sio wurde das 12-jährige Mädchen Archina gebissen. Da die Kur am ersten Tag noch nicht den erhofften Erfolg gebracht hat, wird sie am nächsten fortgesetzt. "An diesem zweiten Tag [...] werden von Neuem die Nachbarn kommen, um der Musik zu lauschen, das von der Tarantel gebissene Mädchen zu bestaunen und zu sehen, ob der Teufel und das Gift heute ihren Körper verlassen werden. [...] Heute schlägt Donna Aurelia vor, das Konzert gleich mit der Pizzica des heiligen Paul zu beginnen, da das junge Mädchen auf diese Tarantella besonders gut angesprochen und gleich mit dem Tanzen angefangen hat. "Oh heiliger Paul von Galatina, schenk uns heute deine Gnade, oh heiliger Paul von Galatina, schenk uns Gnade für diese Tochter." Musik: Officiana Zoè - "Santu Paulu I" 2 Diese Tradition hielt sich bis weit ins 20. Jahrhundert, wie auch der Musiker Angelo Cordella zu berichten weiß. Er ist Jahrgang 1930, mit 12 Jahren hat er angefangen, Akkordeon zu spielen. "Ich bin oft auf Festen aufgetreten und auf dem Weg dorthin habe ich auch schon ein bisschen gespielt. Wenn ich in die Nähe der Stadt Galatina kam, musste ich aufhören. Die Tarantate haben die Musik gehört, sind auf den Wagen gesprungen und haben den Weg versperrt. In Galatina habe ich vor der Kirche weitergespielt. Dort konnten sich die Tarantate austoben, aber es durften keine roten Gegenstände in der Nähe sein, sonst konnten sie gefährlich werden." In Galatina steht die kleine Kirche des Heiligen Paul, dem Schutzheiligen für alle von der Tarantel Gebissenen. Musik: Angelo Cordella - Mazurka Gesungen wurden die traditionellen Stücke im regionalen Dialekt, der stark vom StandardItalienisch abweicht. Außerdem wurde auch im Griko-Dialekt gesungen, der in der sogenannten Grecia Salentina gesprochen wird und alt-griechische und italienische Elemente enthält. Die starke Verwurzelung im Dialekt war unter anderem ein Grund, warum Mitte des 20. Jahrhunderts die Popularität der Pizzica abnahm, erzählt Mauro Durante. Er ist der Bandleader der Canzoniere Grecanico Salentino, einer der bekanntesten Gruppen des Salento. Sie wurde 1975 von Durantes Eltern gegründet und existiert heute in der zweiten Generation. "1975 haben sich die Leute für ihre Wurzeln geschämt. Es gab eine Kampagne zur Förderung des Standard-Italienisch, gegen Dialekte. Alles was damit zu tun hatte wurde als ärmlich und ignorant betrachtet, also auch die Musik. In der Werbung hat man sich über die Bauern lustig gemacht, die nicht richtig Italienisch sprechen konnten oder die alten Lieder gesungen haben. Die Leute wollten deshalb dieses schlechte Image loswerden. Canzoniere haben damit angefangen, die alte Musik wieder auszugraben. Und sie haben sie auch live gespielt. Das Publikum hat junge Leute gesehen, die auf der Bühne die Lieder ihrer Großeltern gespielt haben." Musik: Canzoniere Grecanico Salentino - "Comu è bellu" Canzoniere Grecanico Salentino waren Ende der 70er die erste Folkrevivalband, die den alten Liedern neues Leben einhauchte. Seit Anfang der 90er gibt es eine zweite Welle von Bands, die traditionelle salentinische Musik spielen. Eine davon waren zum Beispiel Canzoniere di Terra d'Otranto. Hier sind sie mit dem Stück "Lu vecchiu". Musik: Canzoniere di Terra d'Otranto - "Lu vecchiu" Der Arbeitsraum von Mauro Durante ist vollgestopft mit dutzenden Instrumenten wie Gitarren, Geigen und anderen Saiteninstrumenten, Akkordeons, Percussioninstrumenten und dem Wichtigsten: dem Tamburello. Genauer gesagt hat er etwa 30 verschiedene. Das Tamburello steht für die Pizzica und die Gegend von Salento wie kein anderes Instrument. 3 Es sieht aus wie ein Tamburin und wird meist mit dem Daumen oder einem kleinen Holzstock gespielt. "Es gibt viele Leute, die großartige Tamburello-Spieler sind. Es gibt verschiedene Techniken. Heute spielen die meisten mit dem Daumen und drehen ihren Arm, um diesen kontinuierlichen Beat zu erzeugen." Soundbeispiel Tamburello Einer der bekanntesten Tamburello-Spieler war Uccio Aloisi, der auch als einer der besten Sänger gilt. Als Aloisi 2010 im Alter von 82 Jahren starb, versammelten sich hunderte Menschen in den Straßen zu seinem letzten Geleit und spielten ihre Tamburello. Hier ist Uccio Aloisi mit seiner Gruppe und dem Stück "Pizzica degli Ucci". Musik: Uccio Aloisi - "Pizzica degli Ucci" Die starke Präsenz der katholischen Kirche, speziell im Süden Italiens, konnte dem Glauben an die heilenden Kräfte des Pizzica Tarantate nichts anhaben, sagt Mauro Durante. "Die Kirche hat gar nicht erst versucht, diesen Volksglauben zu verbieten. Er ist stattdessen ein Teil der Liturgie geworden. Der Heilige Paul ist der Beschützer der Tarantate. In vielen Liedern bitten die Leute um seine Gnade." Musik: Arakne Mediterranea - "Ci è Taranta" Neben der Heilung, hat Pizzica auch noch andere Funktionen. Die Musik dient auch der romantischen Werbung und wurde auf Dorffesten aller Art gespielt. Im sogenannten Messertanz duellieren sich zwei Männer, zwei Finger stellen das Messer dar und um sie herum steht der Kreis der Tamburello-Spieler. Musik: Taranteye - La Pizzica di San Vito Seit Mauro Durante die Canzoniere Grecanico Salentino von seinem Vater übernommen hat, hat es einige Änderungen gegeben. Die älteren Musiker haben jüngeren Platz gemacht und Durante hat die Musik in eine neue Richtung gelenkt. "Ich möchte auch Musik für ein internationales Publikum machen, unsere Live-Auftritte sollen auch auf Festivals funktionieren. Unsere Songs sollen eine Verbindung von der Vergangenheit in die Gegenwart sein. Die Philosophie der Band hat sich nicht geändert, wir spielen alte Songs, aber wir fügen ihnen etwas neues hinzu. Sie sollen nicht angestaubt oder altbacken klingen. Und wir wählen auch nur solche Stücke aus, deren Inhalt auch heute noch relevant ist. Bei den neuen Stücken beschreiben wir in den Texten unsere Realtität. Es ist wichtig, dass traditionelle und moderne Folkmusik sich mit der Wirklichkeit auseinandersetzt." Musik: Canzoniere Grecanico Salentino - Tienime tata 4 War für den Erfolg des Tarantismo-Rituals von jeher ein gewisser Aberglauben von Nöten, werden Pizzica und die anderen traditionellen Genres heute kaum noch gespielt, um jemanden von einem Spinnenbiss zu heilen. Aber ganz verloren ist der therapeutische Aspekt nicht, findet Mauro Durante. "Wenn du heute eine Pizzica Tarantate spielst, will niemand geheilt werden. Man muss ja daran glauben, dass man die Musik braucht, um geheilt zu werden. Ohne den Glauben daran, ist das Ritual sinnlos. Mit unserem letzten Album "40" beziehen wir uns auf diesen Glauben. Wir haben heute mit unsere eigenen Dämonen zu kämpfen. Musik und Tanz können helfen, Unterschiede zu überwinden. Sie können den Geist der Solidarität wieder herstellen. Mir gefällt die Idee des Tarantismo, dass keiner zurückgelassen wird, auch wenn man ein bisschen verrückt ist und diese seltsame Therapie braucht. Heute ist das etwas komplizierter." Musik: Canzoniere Grecanico Salentino - Nu te fermare Für die Bewohner des Salento ist Pizzica wieder ein Bestandteil des täglichen Lebens. Einst als hinterwäldlerisch verpönt ist es heute ein Verkaufsargument und damit für die Tourismus-Industrie interessant. Jeden Sommer finden verschiedene Festivals statt, die sich dieser Musik widmen. Das größte ist La Notte della Taranta, das im August an mehreren Orten stattfindet und mittlerweile hundertausend Besucher anzieht. Heute gibt es unzählige Gruppen, die mehr oder weniger traditionelle Varianten des Pizzica spielen. Wie bei allen Genres findet auch hier eine Vermischung statt mit anderen Arten von Folkmusik, zum Beispiel mit arabischen, südamerikanischen oder auch jamaikanischen Soundelementen. Mit einem solchen Pizzica-Fusion-Stück des Künstlers Eugenio Bennato geht die heutige Sendung zu Ende. In den Musikpassagen hörten Sie "Der Biss der Tarantel - Die Pizzica von Apulien." Am Mikrofon war Anke Behlert, ich wünsche Ihnen eine gute Nacht. 5