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SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Wissen Gene oder Bildung: Was bestimmt den Lebensweg? Von Martin Hubert Sendung: Samstag, 25.02.2017 Redaktion: Christoph König Regie: Autorenproduktion Produktion: SWR 2017
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MANUSKRIPT Atmo 1: Kinderlärm auf dem Schulflur Atmo 2 Morgenkreis der Schüler: gegenseitige Begrüßung Atmo 3: Unruhe im Morgenkreis Atmo 4 Zählen im Morgenkreis Atmo 5 Sprechen im Morgenkreis Atmo 1: Kinderlärm auf dem Schulflur kurz frei, dann unterlegen Sprecher 1 Die Gemeinschaftsgrundschule Styrum in Mühlheim an der Ruhr. Acht Uhr morgens. Die Schüler kommen durch das große Schultor und verteilen sich über Treppen und Flure in ihre Klassenzimmer Atmo 1: Kinderlärm auf dem Schulflur kurz hoch, dann weg Atmo 2 Morgenkreis der Schüler: die Kinder begrüßen sich reihum mit Namen. „Guten Morgen Elvin, Guten Morgen Ahmed ….“ Sprecher 1 Kurz danach sitzen die Schüler der 3. und 4. Klasse in ihrem Klassenzimmer auf Bodenmatten zum Morgenkreis zusammen. Zur Einstimmung in den Unterrichtstag machen sie reihum ein paar Übungen. Zunächst begrüßen sie sich gegenseitig. Atmo 2.usw kurz hoch dann wieder unterlegen Sprecher 1 Deutsche Namen, serbische Namen, türkische Namen. Die Schüler der Styrumer Gemeinschaftsgrundschule stammen aus verschiedenen Ländern und sozialen Schichten. Die einen sprechen laut und verständlich, die anderen flüstern kaum hörbar vor sich hin. Manche im Kreis sitzen aufmerksam und still da, andere sind unruhig, schaben mit den Füßen auf dem Boden oder springen immer wieder mal auf. Richtig ruhig ist es eigentlich nie. Wie werden sich die einzelnen Kinder entwickeln? Atmo 2 weg 2
Sprecher 2 Titelansage: Gene oder Bildung: Was bestimmt den Lebensweg? Eine Sendung von Martin Hubert. O- Ton 1 Dausel 22. 00 Die Kinder sind im Bereich Bewegung, Koordination, Feinmotorik, Grobmotorik auch ganz unterschiedlich. Wir haben Kinder, wenn sie eingeschult werden, die können keinen Stift halten und wenn ich das so sage, dann meine ich das so, die haben auch keine Körperspannung, die kippen zwischendurch vom Stuhl oder können gar nicht lange sitzen, sind sehr unruhig oder bewegungsfreudig und es gibt Kinder, die sind körperlich, motorisch unglaublich fit. Sprecher 1 Simone Dausel ist die Leiterin der Gemeinschaftsgrundschule, die in einem Stadtteil „mit Erneuerungsbedarf“ liegt. Das Wort „sozialer Brennpunkt“ sagt sie, wird nicht so gerne gehört. Aber jeden Morgen erlebt Simone Dausel plastisch, wie unterschiedlich die Kinder sind. O- Ton 2 Dausel 18. 50 Die Unterschiede sind in allen Bereichen ganz stark, auch im Bereich Konzentrationsfähigkeit. Das hat so ein bisschen mit Schulfähigkeit zu tun, d.h. wann ist ein Kind überhaupt in der Lage, dem Unterricht zu folgen? Das muss nicht nur Konzentration zu sein, d.h. dass ein Kind jetzt nicht über 10 Minuten oder eine Viertelstunde oder eine halbe Stunde an einer Aufgabe arbeiten kann, sondern das können auch ganz andere Bereiche sein: selbstständig erst einmal in die Arbeit finden, wenn ich rauskomme, wenn ich abgelenkt bin, wieder in die Arbeit zurückfinden, dem Unterricht folgen können.Und wir haben einfach ganz ganz viele Kinder, die noch nicht so weit sind und die auch das erst lernen müssen. Atmo 3 Lehrerin: Toni! Mit deiner Matte nach vorn!! - Toni.: Ach Mann... Gerumpel. Sprecher 1 Was entscheidet darüber, wie gut Kinder ihre Schullaufbahn absolvieren, das Leben bewältigen und dabei vielleicht sogar soziale Schranken überwinden können? Lange Zeit hieß es „Entweder sind es eher die Gene, die die Intelligenz bestimmen oder eher die Umwelt“ - eine Alternative, die zu endlosem Streit führte. Der Soziologe Martin Diewald und der Psychologe Rainer Riemann haben daher am Bielefelder Zentrum für interdisziplinäre Forschung ein Jahr lang mit anderen Wissenschaftlern neu über die Beziehung zwischen Genen und Umwelt nachgedacht. Was beeinflusst die Intelligenz? Rainer Riemanns Bilanz: O- Ton 3 Riemann In der Kindheit und Jugend haben wir etwa 40 % genetische Beeinflussung, im Erwachsenenalter etwa 60 % genetische Beeinflussung. Sprecher1: Das akzeptiert auch der Sozialwissenschaftler Martin Diewald. O- Ton 4 Diewald 5.08 3
Es ist unbestreitbar, dass alles, was wir an Menschen beobachten auch genetisch und biologisch mit beeinflusst ist. Das sollte man zunächst einmal anerkennen. Sprecher: Das lässt aber auch Raum für 40 – 60 Prozent Beeinflussung durch die Umwelt. Martin Diewalds Schlussfolgerung: O- Ton 5 Diewald 24. 46 Es nützt überhaupt nichts, Gene und soziale Einflüsse gegeneinander auszuspielen. Die Gene sind immer wichtig, die Umwelt ist immer wichtig, sie sind beide zu einem gewissen Grad immer wichtig. Zunächst einmal als voneinander getrennt zu betrachtende Faktoren und teilweise, in unterschiedlichem Ausmaß eben auch wie sie miteinander interagieren. Atmo 4 (2, 52) Zählen der Schüler im Morgenkreis (mit Unterstützung der Lehrerin) Sprecher1: Die Schüler im Styrumer Klassenzimmer sollen jetzt das Zählen üben. Zum Beispiel, indem sie feststellen wie viele Schüler fehlen und diese Zahl von der Zahl der normalen Klassengröße abziehen. O- Ton 6 Dausel 14, 47: Also es gibt Kinder, die zu uns in die Schule kommen, die überhaupt keine Vorstellung davon haben, was eine Zahl ist. Das heißt, eine Zuordnung von einem Punkt zu „Das ist eine Eins“ ist manchen Kindern noch überhaupt nicht klar. Das ist also dieser pränumerische Bereich, der eigentlich in der Kita oder noch früher gelernt wird. Die sind noch weit entfernt davon überhaupt mit Zahlen irgendwie zu rechnen, da muss wirklich sich erst ein Zahlenverständnis entwickeln. Atmo 4 kurz hoch O- Ton 7 Dausel 15. 29 Dann haben wir aber natürlich Kinder gleichzeitig in der Klasse, die ganz fit sind, die nicht nur die Zahlen kennen, die auch ein Zahlenverständnis haben, ein Mengenverständnis haben, und auch die müssen natürlich weiterkommen. Das heißt das ist ein großer Balanceakt für die Kollegen, alle Kinder zu fördern, die eben noch gar nicht so weit sind, aber auch die, die fit sind, nicht zu bremsen. Sprecher1: Warum können manche Kinder in der 1. Schulklasse schon einigermaßen zählen und rechnen, andere aber nicht? Lange Zeit versuchten Genetiker das vor allem mit der Erblichkeit von Intelligenz zu erklären. Aber auch unter ihnen setzt inzwischen ein Umdenken ein, denn sie stoßen dabei an Grenzen. Rein statistisch gesehen lässt sich in Tests zwar eine „generelle Intelligenz“ berechnen. Dieser generelle Intelligenzfaktor, „g“ abgekürzt, weist darauf hin, dass Kinder nicht nur in einem, sondern in verschiedenen Bereichen in etwa die gleiche Intelligenzleistung besitzen. Rainer Riemann, Professor für Psychologie an der Universität Bielefeld. 4
O- Ton 8 Riemann14.05 Wir kennen das in der Schule, dass also die guten Schüler sozusagen meist in vielen Fächern gut sind, aber trotzdem noch mal so leichte Schwerpunkte haben können, also entweder mathematisch-naturwissenschaftlich oder eben im Bereich der Sprachen, der Fremdsprache dann in der Schule und ähnliches. Sprecher 1 Aber der Weg von der Intelligenz zu den Genen bereitet Probleme. O- Ton 9 Turkheimer. 8. 28 A very big topic in fields of genetics particular....is the missing heretability problem. Sprecher 2 (Übersetzer) Bei der genetischen Erforschung der Intelligenz gibt es zur Zeit ein großes Thema: das Problem der fehlenden Erblichkeit. Sprecher 1 Eric Turkheimer, ein renommierter Verhaltensgenetiker von der Universität Virginia in den USA. O- Ton 10 Turkheimer 8. 41 And the missing heritibality problem is...than anybody anticipated. Sprecher 2 (Übersetzer): Das Problem der fehlenden Erblichkeit der Intelligenz bezieht sich darauf, dass wir eine Menge an Zwillingsstudien und ähnlichen Tests durchführen, um herauszufinden, dass die Intelligenz zu einem Teil erblich bedingt ist. Das kann man auch nicht länger bestreiten. Inzwischen können wir aber auch die DNA, den Grundbaustein der Gene, untersuchen. Und wir glaubten alle, wow, damit können wir jetzt exakt die Gene identifizieren, die manche Menschen intelligenter als andere machen. Aber das hat sich als komplizierter herausgestellt als wir dachten. Sprecher 1 In Zwillingsstudien, bei der die Betroffenen die gleichen Gene haben und sich in ihrer Leistung mehr oder weniger stark ähneln kommt man auf die erwähnten 40-60 Prozent erblicher Intelligenz, also im Schnitt auf ungefähr 50 Prozent. O- Ton 11 Turkheimer 9. 49 If you put together everything you can figure out---- those two is the missing heritabilty. Übersetzer: Wenn man aber zusammenfasst, was man auf der DNA der Menschen finden kann, dann erklärt das gerade mal 3 Prozent der Intelligenzleistung! Und diese Lücke zwischen den 50 und den 3 Prozent, das ist das Problem der fehlenden Erblichkeit. Sprecher 1: 5
Im Klartext: die Genetiker finden weder genug Gene für „allgemeine Intelligenz“ noch für andere Intelligenzleistungen und persönliche Eigenschaften. Und bereits statistisch gesehen ist die Erblichkeit für „Bildungserfolg“ geringer als für Intelligenz. O- Ton 12 Diewald 2/0.29 Da ist der genetische Einfluss etwa um die 30 %, also substantiell niedriger als bei der kognitiven Fähigkeit. Das hat damit zu tun, dass für den Bildungserwerb eine Reihe anderer Faktoren vermittelnd sind, die eben klar soziale Einflüsse sind. Es gibt die Ausgestaltung des Bildungssystems. Bei den Schulübergängen sprechen die Lehrer ein gewichtiges Wort mit und auch die haben eine verzerrte Wahrnehmung von Schülerfähigkeiten - sind auch nur Menschen - d.h. da werden ein und dieselben Fähigkeiten unterschiedlich wahrgenommen und bewertet. Und Eltern spielen ja auch eine große Rolle, beispielsweise bei der Wahl einer weiterführenden Schule, in dem sie dann Ressourcen mobilisieren, versuchen Einfluss zu nehmen, damit auch vielleicht auch nicht so begabte Kinder doch den im Zweifelsfall höher möglichen Schulzweig wählen, selbst wenn das angesichts der Fähigkeiten der Kinder nicht immer so ratsam erscheint, aber da ist halt auch eine starke soziale Motivation dahinter, Abstiege zu vermeiden und das hat jetzt nicht direkt mit den Genen der Kinder zu tun, ist trotzdem sehr wichtig. Sprecher 1 Das unterstreicht für Rainer Riemann noch einmal, dass man Gene und Umwelt nicht gegeneinander ausspielen darf, sondern dass man je nach Fragestellung und Situation untersuchen muss, wie sie sich gegenseitig beeinflussen. O- Ton 13 Riemann: Hier ist jetzt zu sagen, das ist 50 % oder 99 % genetisch, dann bedeutet eben eine im Moment starke Erblichkeit vor allem, dass wir, um sozusagen Veränderungen zu bewirken, sehr viel investieren müssen, dass wir uns also sehr viel mehr bemühen müssen als wenn der genetische Effekt sehr gering ist. Aber es bedeutet keineswegs, dass alles irgendwie eingeschränkt ist, es bedeutet auch nicht, dass Grenzen dadurch festgelegt werden, das bedeutet das alles eigentlich nicht! Also da kann man eigentlich eher nur warnen, diese Zahlen für sich so zu bedeutsam zu nehmen, sondern sich zu fragen: was steht denn dahinter, wie viel bemühen wir uns denn? Atmo 5 (4, 40) Sprechen im Morgenkreis Sprecher 1 Die Kinder im Morgenkreis in der Styrumer Schule sollen jetzt kleine Denk- und Sprachspiele mit dem Datum machen, mal auf deutsch, mal auf englisch. Welcher Tag kommt vor und nach gestern, welcher vor und nach vorgestern usw. Bei manchen geht das flüssig, bei anderen sehr stockend. O- Ton 14 Dausel Es gibt Kinder, die sind sprachlich richtig fit, das sind aber auch Kinder, die vielfältige Spracherfahrung schon im Kindergartenalter oder schon früher hatten, denen auch viel vorgelesen wurde, wo eben nicht nur der Fernseher lief, sondern wo einfach auch gesprochen wurde. Und es gibt Kinder, die sind ganz ganz spracharm, die 6
können teilweise nur Einwortsätze, denen fehlt auch das Zutrauen zur Sprache, denen fehlen Begriffe, denen fehlen Wörter, denen fehlen Redewendungen, die sind auch gar nicht in der Lage, eine literarische Sprache erst mal auch überhaupt zu verstehen. Die Kinder kommen ganz unterschiedlich in die Schule und das ist so, dass wir damit umgehen müssen. Sprecher 1 Wie stark wirkt die soziale Umwelt tatsächlich darauf, wie sich genetische Anlagen für Sprache und Intelligenz entfalten können? Eric Turkheimer von der amerikanischen Virginia Universität war einer der ersten, der solche Fragen an Zwillingsstudien überhaupt untersucht hat. O- Ton 15 Turkheimer What we found is that the genetics...the effect of the environment at all. Sprecher 2 (Übersetzer) Wir entdeckten, dass sich der genetische Anteil des Intelligenzquotienten abhängig von der Umwelt verändert, in der ein Kind aufwächst. Bei Kindern, die unter Armutsbedingen aufwuchsen, verschwand der genetische Einfluss fast komplett. Alle Unterschiede zwischen ihnen schienen allein der Umwelt zurechenbar zu sein. Wir konnten dann Schritt für Schritt nachvollziehen, wie sich dieser genetische Anteil von arm aufgewachsenen Kindern über niedrige Mittelklassenkindern bis zuhöheren Mittelklassenkindern kontinuierlich erhöhte. Bei den gut situierten Mittelklassenfamilien konnten wir die Unterschiede der Kinder fast ausschließlich genetisch erklären und der Umwelteffekt war gleich Null. Sprecher 1 Offenbar wurde bei den Kindern aus armen Familien das genetische Potenzial fast völlig unterdrückt. Da sie nicht ausreichend gefördert wurden, konnten sie ihre Anlagen auch nicht entfalten. Die schlechte Umwelt bestimmte also fast ausschließlich, wie gut sie sich entwickelten. Die gut situierten Kinder dagegen wurden in ihren Familien offenbar durchweg so gut gefördert, dass ihr genetisches Potenzial völlig zum Durchbruch kam und ihre Testleistungen beherrschte. Die Umwelt, in die die gut situierten Kinder hineinwuchsen, stellte den genetischen Anlagen keine Barrieren entgegen, sondern verstärkte nur ihren Effekt. Turkheimers Studien zeigen, wie wichtig der Einfluss von Schuldbildung und sozialem Status für die Entfaltung genetischer Anlagen ist. O- Ton 16 Turkheimer That phenomenon has been followed up...than it does in the US. ÜBERSETZER: Seit unserer ersten Studie wurde dieses Phänomen fast überall in der Welt beobachtet. Aber die sozialen Veränderungen zwischen dem genetischem und den Umweltanteil waren in den USA größer als in Europa. Die Erklärung dafür ist wohl, dass es in den USA eine größere Ungleichheit im Bildungssystem gibt als in Europa. In den USA ist das Schulsystem lokal organisiert. Die Schulen in den ärmsten Gegenden haben auch am wenigsten Geld, die Kinder erhalten daher dort die schlechteste Erziehung und das verstärkt die Ungleichheit der ökonomischen und der 7
Bildungschancen der Menschen noch einmal. In Europa dagegen sind die Schulen meist eine nationale Angelegenheit, das Unterrichtsprogramm wird national festgelegt und das bessere Sozialsystem in Europa sorgt außerdem für eine erhöhte Sicherheit. Sprecher 1 Bildung kann also nachweislich beeinflussen, wie gut jemand sein genetisches Potenzial ausschöpft. Studien legen nahe, dass ein Kind seinen IQ um 5 Punkte verbessert, wenn es nur ein Jahr länger zur Schule geht. Insgesamt kann jemand seinen IQ um 10 bis 15 Prozent verbessern oder verschlechtern, je nachdem, wie stark er gefördert wird bzw. sich selbst anstrengt. Wie stark dabei Armut die Entwicklung der Kinder beeinflussen kann, konnte auch der Geograph Thomas Groos vom Zentrum für interdisziplinäre Regionalforschung der Universität Bochum zeigen. Groos untersuchte die Daten der Schuleingangsuntersuchung von knapp 5000 Kindern in Mühlheim an der Ruhr, wo sich auch die Gemeinschaftsgrundschule Styrum befindet. Er schaute sich den Migrations- und den Bildungshintergrund der Eltern an, registrierte, ob sie Hartz-4-Empfänger sind, analysierte die soziale Zusammensetzung der Kitas und bezog ein, in welchen Vereinen die Kinder aktiv waren. Sein Ergebnis. O- Ton 17 Groos Zum einen haben wir wirklich feststellen können, dass es einen eigenständigen Armutseffekt gibt für verschiedenste Entwicklungsmerkmale eines Kindes. Das heißt Kinder, die Hartz IV beziehen, sind unabhängig von dem elterlichen Bildungshintergrund benachteiligt in ihrer Entwicklung. Wir haben ja auch Familien, die Hartz IV beziehen, die hoch gebildet sind, denken Sie zum Beispiel an Studierende, die in jungen Jahren Kinder bekommen noch während des Studiums, aber das Einkommen schlichtweg nicht reicht. Auch diese Kinder sind ein Stück weit systematisch benachteiligt in ihrer Entwicklung, weil einfach die finanziellen Ressourcen der Familie für die Inanspruchnahme von was auch immer an Präventionsmaßnahmen möglicherweise nicht vorhanden sind. Man kann sich schlichtweg nicht so viel leisten und das wirkt benachteiligend auf die Kinder. Und das unabhängig auch von der elterlichen Bildung. Sprecher 1 Groos fand auch, dass es schlecht für die für Entwicklung der Kinder ist, wenn der Armutsanteil in ihrer Kita insgesamt besonders hoch ist. O- Ton 18 Groos Das heißt, geht ihr Kind in einen Kindergarten, in dem sehr viele arme Familien und Kinder anzutreffen sind, sind die Ergebnisse noch einmal schlechter, als wenn ein armes oder nicht armes Kind in eine andere Kita gehen. Hier haben wir es mit Effekten der Zusammensetzung von Einrichtungen zu tun, das heißt, das ist ein ganz klarer Ansatzpunkt für Kommunen aber auch natürlich für das Land, hier systematisch gegenzusteuern und solche Einrichtungen, die massiv systematisch benachteiligt sind, mit mehr Ressourcen auszustatten, um diese Benachteiligung wieder versuchen abzubauen. Sprecher 1 8
Je mehr Lehrer und Unterrichtsmaterialen verfügbar sind und je mehr Nachhilfe möglich ist, desto besser entwickeln sich Kinder aus ärmeren Familien. Für Martin Diewald heißt das: Bildungsgleichheit hat nur auf dem Boden einer guten Sozialpolitik eine Chance. O- Ton 19 Diewald Kinder aus unteren sozialen Schichten müssen mehr Leistung erbringen, müssen intelligenter sein, um den Sprung in eine höhere Schule zu schaffen als Kinder aus oberen sozialen Schichten, das hat etwas damit zu tun, dass Eltern alle Hebel in Bewegung setzen, um zu verhindern, dass ihre Kinder einen niedrigeren Bildungsund Sozialstatus erreichen als sie selbst. D.h. da wird richtig viel Druck gemacht, damit ihre Kinder, auch wenn sie vielleicht eher mäßig begabt sind, doch noch einen höheren Schulabschluss zu erlangen, weil sie wissen, wie wichtig Schulabschlüsse sind und wenn die entsprechenden Ressourcen vorhanden sind, dann ist es halt notfalls auf das Internat in Großbritannien, wo dann Preise aufgerufen werden, die in die Nähe von koste es was es wolle gehen. Also da reden wir doch immerhin von 50.000 € und mehr pro Jahr, die da investiert werden müssen. Atmo 1 Schulflurgeräusche Sprecher 1 Pausenzeit in der Gemeinschaftsgrundschule Styrum. Die meisten Schüler gehen friedlich nach draußen. Ein Schüler jedoch packt einen Mitschüler aggressiv an der Schulter, knallt ihn heftig gegen die Wand und lacht triumphierend. Ein dritter Schüler ruft empört. „Das hat weh getan!“ O- Ton 20 Dausel Besonders in Konfliktsituationen merken wir, dass es Kinder gibt, die nicht abschätzen können, wie es einem anderen Kind geht oder wie weit sie gehen können. Oder auch in unseren Augen angemessen mit Provokationen umzugehen oder auch mit körperlichen Angriffen. Das ist für manche Kinder ganz schwierig. Und wenn wir dann sagen, was hast du gemacht, weißt du überhaupt, was du da gemacht hast dann wissen die Kinder das teilweise gar nicht, sie können das gar nicht sagen, sind dann manchmal sehr verwundert. Weil es das ist, wie sie eben bis dato agiert haben und gehandelt haben und hier hören sie dann vielleicht das erste Mal, nein, das geht so nicht. Und das ist für manche Kinder einfach - die wundern sich, die wundern sich wirklich. Sprecher 1 Natürlich lassen sich auch für Aggression genetische Anteile berechnen. Aber das soziale Verhalten von Kindern lässt sich durch Umweltmaßnahmen nachhaltig beeinflussen, wenn man nur ernst genug daran arbeitet. Das zeigt eine Studie des Neuroökonomen Armin Falk von der Universität Bonn, die mehr als 600 Grundschulkinder einbezog. O- Ton 21 Falk In meinen Augen ist das der erste kausale Befund für die Rolle sozialer Umgebung auf die Entwicklung von Prosozialität. 9
Sprecher 1 Zunächst erfragte das Team um Armin Falk die sozialen Einstellungen der Kinder. O- Ton 22 Falk Das waren Fragen zu Vertrauen, also glaube ich, dass Menschen eher vertrauenswürdig sind oder glaube ich, dass man anderen Menschen eher nicht trauen kann. Und das waren von der Mutter jeweils ausgefüllt Fragen zu Prosozialität im Alltag, also ist das Kind bereit, anderen Kindern zu helfen, ist es bereit Konflikte zu schlichten, sich kooperativ zu verhalten usw. Sprecher 1 Dann wurde der unterschiedliche sozioökonomische Status der Kinder bestimmt: das Einkommen, der Bildungsstand und der berufliche Rang ihrer Eltern. Anschließend startete ein Programm, das das Sozialverhalten der Kinder verbessern sollte. Armin Falk schickte Mentoren zu den Grundschulkindern, die sich um sie kümmern sollten. Diese Kinder verglich er mit einer anderen Kindergruppe, die diese Betreuung nach dem Zufallsprinzip nicht erhielt, er konnte so den Effekt der Behandlung genau berechnen. O- Ton 23 Falk Das Mentorenprogramm ging so, dass über den Zeitraum etwa eines Jahres dieser Mentor, das waren meistens Studentinnen oder Studenten, das Kind dann zu Hause besucht haben, dass waren Kinder im Alter von 8-9 Jahren, und einen Nachmittag in der Woche miteinander verbracht haben. Sprecher 1 Den Mentoren wurde kein Schema vorgegeben, wie sie sich verhalten sollten. Stattdessen sollten sie sich wie ein verlässlicher Freund auf die individuellen Bedürfnisse der jeweiligen Kinder einlassen. Sie halfen ihnen, ihre eigenen Interessen, Ängste und Wünsche auszudrücken, indem sie sich auf unterschiedlichste gemeinsame Tätigkeiten einließen: Sie unterhielten sich mit den Kindern, kochten mit ihnen, gingen ins Museum oder in den Zoo oder spielten mit ihnen Fußball. O- Ton 24 Falk Und wenn man die beiden Gruppen jetzt vergleicht, mit und ohne den Mentor, findet man also einen signifikanten Zuwachs an prosozialem Verhalten im Vergleich zur Kontrollbedingung. Sprecher 1. Wenn ein Mentor eingreift, schließen die Kinder der niedrigen Statusgruppen zu den höheren auf. Soziale Ungleichheit wird nivelliert, die Kinder verhalten sich ähnlich sozial. Sie sind nicht mehr so aggressiv, lösen Konflikte friedlicher und helfen anderen häufiger. O- Ton 25 Falk Wenn man das politisch bewerten möchte. Das Glück oder das Pech der Geburt, wenn man das so nennen möchte, also die Chancen, die einen mitgegeben werden dadurch dass man in besseren oder weniger guten Verhältnissen groß wird, haben 10
schon bei Kindern im Alter von acht Jahren nachweisbare Effekte. Aber man kann dagegen steuern, indem man die Umgebung dieser Kinder positiv beeinflusst. Wenn man sich dann weiter überlegt, was so eine Unterstützung kostet, wie wichtig aber prosoziales Verhalten im Alltag nachher ist, dann denke ich ist es absolut politisch wünschenswert,viel mehr in die Verbesserung genau dieser sozialen Umgebung von solchen Kindern zu investieren. Sprecher 1 Viele Interventionsprogramme, die weltweit durchgeführt wurden, um das soziale Verhalten oder die Leistung von Schülern in sozialen Brennpunkten zu verbessern, hatten nur bescheidenen Erfolg. Sie wirkten so lange wie die Unterstützungsmaßnahmen liefen, aber die Effekte verschwanden zum großen Teil wieder, nachdem die Förderung ausgelaufen war. Manche Wissenschaftler nahmen das als Beleg dafür, dass letzten Endes eben doch immer nur die genetischen Anlagen das Sozialverhalten determinieren. Armin Falk widerspricht. O- Ton 26 Falk Unsere Studie zeigt, dass das eindeutig nicht der Fall ist! Natürlich spielt die biologische Ausstattung eine Rolle. Aber was wir zeigen ist, dass eine zufällig erzeugte Variation in der sozialen Umgebung, die wenn alles genetisch bestimmt wäre, genau keinen Effekt haben dürfte, hier ziemlich große Effekte sogar hat, was eben sagt: ja, wir können uns nicht zurückziehen und sagen „Die Gene machen das und dann ist eh alles gelaufen“. Es gibt eine gesellschaftliche Verantwortung und gerade da eben, wo aufgrund der Startbedingungen Hilfe nötig wäre, sollte man sie auch leisten. Autor: Dafür spricht nach Armin Falk auch, dass der Effekt des Mentorprogramms anhaltend war. Zwei Jahre nach dessen Beendigung waren die Wirkungen immer noch nachweisbar. Falk führt das vor allem darauf zurück, dass jeder Mentor als soziales Vorbild wahrgenommen wurde, denn die Kinder wussten, dass diese sich freiwillig für die Studie gemeldet hatten, um für sie da zu sein. In Tests zeigten die Mentoren des Bonner Programms ein überdurchschnittlich hohes Maß an sozialer Einstellung. Unterschiede im sozialen Verhalten lassen sich also ausgleichen, wenn Menschen aktiv werden, die soziales Verhalten als Wert für sich betrachten und das wirklich authentisch verkörpern. Das ist die Botschaft, die die Studie von Armin Falk in die wissenschaftliche Diskussion zum Thema Gene und Umwelt einbringt. Atmo 1 Schulflurgeräusche Sprecher 1 Auch die Mühlheimer Schulleiterin Simone Dausel versucht innerhalb des Schulbereichs mit verschiedenen Mitteln, das Sozialverhalten der Schüler zu analysieren und zu verbessern. Zum Beispiel nimmt sie per Video auf, wie einzelne Lehrer und Schüler miteinander kommunizieren und bespricht dann, was sich verbessern lässt. O- Ton 27 Dausel 11
Das sind ganz kleine Sachen, Zeit geben teilweise, es gibt Kinder, die verpassen das freundliche Gesicht der Lehrerin, weil sie so schnell weggucken oder weil sie zu spät gucken und das braucht ein Mensch und ein Mensch braucht ein freundliches Gesicht, und dann einfach dem Kind die Zeit zu geben, mein freundliches Gesicht auch zu sehen, das kann schon eine Sache sein, die dem Kind weiterhilft. Sprecher: Es gibt viele Möglichkeiten, Kinder im weitesten Sinne zu bilden, sodass sie sich gut entwickeln können. Die Gene sind nicht zu vernachlässigen, niemand wird allein durch Bildung zum Genie. Aber für Rainer Riemann kommt es vor allem darauf an, für den Menschen und seine Gene gute Umweltbedingungen zu schaffen, auch wenn das aufwändig und teuer ist. O- Ton 28 Riemann Also dass Schüler statt zur Einschulungsuntersuchung erst mal zum Gentest müssen, ist vielleicht eine Zukunftsvision, wo ich mir jetzt die ganzen Konsequenzen im Moment noch gar nicht ausmalen kann - aber im Moment eigentlich gar nicht so wichtig, weil das, was man dort sieht in der Einschulungsuntersuchung an Verhaltensmerkmalen, Fähigkeiten ausreichend ist schon für eine individualisierte Beschulung und für eine Entscheidung darüber, ob jemand nun schon zur Schule gehen sollte oder nicht. Atmo 1 kurz hoch O- Ton 29 Riemann Was für mich immer ganz wichtig ist in diesem Kontext, dass wir darauf achten, immer viele Wege zum Ziel offen zu halten. Das gilt gerade für die Schule, da gibt es ja zum Glück auch viele Wege, dass man später auch noch die Möglichkeit hat, ein Abitur zu erwerben, dass es viele Wege mittlerweile gibt zum Studium. Das halte ich für Entwicklungen, die ganz wichtig sind, weil die ganz konkret im Alltag eben unterschiedlichen Entwicklungsverläufen gerecht werden.
Atmo 1 weg
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