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Vergänglichkeit Heute wird mit viel Licht, viel Musik und noch mehr Gerede der Berliner Hauptbahnhof eröffnet. Frau Merkel, Herr Mehdorn und Herr Wowereit werden sich gegenseitig auf die Schultern klopfen, sich beweihräuchern und viel über die Zukunft dieser Stadt zu berichten wissen. Über zehn Jahre wurde an dem neuen Bahnhof gebaut. Mehrere Millionen Euro wurden investiert und das, obwohl der alte Bahnhof erst 1987 liebevoll und aufwendig saniert wurde. Berlin braucht das. Der Hauptbahnhof ist ein gläsernes Symbol für das Wachsen der Weltmetropole. Kreuzung für Züge, Einkaufspalast, Sammelpunkt für Heimkehrer, Pendler und vom Fernweh Getriebene. Ebenso Begegnungsstätte und Wallfahrtsort für alle, die moderne Architektur lieben. In diesem Bahnhof soll das Leben tosen und sprudeln. Für mich hat der Berliner Hauptbahnhof eine andere Bedeutung. Für mich verkörpert er die Vergänglichkeit. Nichts ist für die Ewigkeit. Kein Leben, kein Gebäude, nicht einmal der Stein oder der Stahl aus dem es gebaut ist. Als ich im Februar 1989 mit klopfendem Herzen und einer offiziellen Ausreisegenehmigung in der Tasche die DDR endlich verlassen durfte, war mein erster Schritt in das neue Leben, den Fuß aus der S-Bahn auf den Bahnsteig des Lehrter Stadtbahnhofes zu setzen. Ankunft 14:37 Uhr, Gleis 3. Da stand ich nun mit meinem Koffer. Voll gepackt mit Hoffnungen und Erwartungen. Obendrauf das Wissen, dass nichts um mich herum mehr so ist, wie es vor einer halben Stunde noch war. Nicht einmal die Luft, denn die war in der Tat frischer, als im Ostteil der Stadt. Ich habe das nie geglaubt, wenn Westberliner mir erklären wollten, dass es einen Unterschied macht, ob man West- oder Ostberliner Luft einatmet. Als ob die Luft an der Mauer Halt macht. Zweitakter hin oder her. Schließlich gibt es doch den Wind, der alles vermischt. Aber es war tatsächlich so. Ich stand auf dem Lehrter Stadtbahnhof, sog meine Lungen mit besserer Westluft voll und erlebte diesen Moment, wie ein Baby, das seinen ersten Atemzug macht. Vielleicht war es ein sinnlich erfahrbarer Irrtum. Ein naiver Glauben, dass jenseits der Mauer sowieso alles besser ist. „Vorbei – ein dummes Wort“ schrieb Goethe im Faust. In diesem Moment passte es jedoch. Mein altes Leben war in der Tat vorbei. Ich hatte es mit meinem Ausweis am Grenzübergang Friedrichstraße abgegeben. Das war mir nie klarer, als in diesem Augenblick, da ich auf dem Bahnsteig des Lehrter Stadtbahnhofs stand. Inzwischen gibt es keine Mauer mehr, der romantische kleine Bahnhof, der für viele Menschen das Tor zu einer neuen Welt bedeutete, existiert nicht mehr. Ich selbst habe Kinder, die weder den Bahnhof, noch die Mauer kennen gelernt haben. Leben und Gebäude kommen und gehen. Was bleibt, ist meine Erinnerung. Jedenfalls solange ich lebe. Und jetzt, da ich sie aufgeschrieben habe, lebt die Erinnerung hoffentlich noch weiter. Vielleicht existiert sie sogar noch, wenn es den Berliner Hauptbahnhof schon nicht mehr gibt. Wenn er irgendwann auch Opfer einer zukunftsorientierten Stadtplanung wird. Kann sein, dass meine Urenkelin ihren Enkeln bei einem Spaziergang an der Spree dann erzählt, dass es vor vielen Jahren mal eine Uroma gab, für die dieser Platz eine ganz besondere Bedeutung hatte. Wer weiß das schon?