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Vorlesung 11: Sozialisation: Wie wird man Mitglied einer Gesellschaft?
Evolutionäre Perspektive
Bindung und Lösung als Wechsel im Lebenslauf und als Entwicklungsaufgabe der Eltern bei der Sozialisation
Der Mensch als Gruppentier: Erlernen der Vorlieben, Rituale, Vorschriften und Rangposition
Lange Lernzeit ermöglicht Übernahme komplexer Kulturen
Entwicklung von Emotionen und deren Regulationsfunktion (Magai & McFadden, 1995; Barrett, 1998)
Emotion
Anlass
Regulationsfunktion intrapersonal
Regulationsfunktion Interpersonal
Ekel (ab 0 Monaten)
Wahrnehmung von schädlichen Substanzen
Weist schädliche Subtanzen zurück
Signalisiert mangelnde Aufmerksamkeit
Neugier/Erregung (ab 0 Monaten)
Neuartigkeit, Abweichung, Erwartung
Öffnet das Signalisiert sensorische System Aufnahmebereitschaft für Information
Freude (ab 2 Monaten)
Vertrautheit, genussvolle Stimulation
Signalisiert dem Selbst, die momentanen Aktivitäten fortzuführen
Fördert soziale Bindung durch Übertragung von positiven Gefühlen
Ärger (ab 7 Monaten)
Zielbehinderung durch andere Personen
Bewirkt die Beseitigung von Quellen der Zielbehinderung
Warnt vor einem möglichen Angriff (Aggression)
Trauer (ab 9 Monaten)
Verlust eines wertvollen Objekts, Mangel an Wirksamkeit
Niedrige Intensität: fördert Empathie; hohe I: führt zu Handlungsunfähigk.
Löst Pflege- und Schutztendenzen sowie Unterstützg. und Empathie aus
Emotion
Anlass
Regulationsfunktion intrapersonal
Regulationsfunktion Interpersonal
Furcht (ab 8 Monaten)
Wahrnehmung von Gefahr
Identifiziert Bedrohung; fördert Flucht u. Angriff
Signalisiert Unterwerfung, wehrt Angriff ab
Überraschung (10 Monate, als OR schon ab Geburt)
Verletzung von Erwartungen
Unterbricht Handlungsablauf
Demonstriert der Bezugsperson Naivität, schützt vor Angriffen
Verlegenheit (ab 18 Monaten)
Wahrnehmung, dass eigene Person intensiv beobachtet wird
Verhalten, das Selbst vor weiterer Begutachtung zu schützen
Signalisiert Bedürfnis nach Zurückgezogenheit
Stolz (ab 24 Monaten)
Wahrnehmung eigener Tüchtigkeit in Gegenwart anderer
Steigerung des eigenen Selbstwertgefühls
Appell zur Bewunderung, Signalisierung der eigenen Größe
Scham (ab 30 Monaten)
Wahrnehmung eigener Unzulänglichkeit in Gegenwart anderer
Gefahr des sozialen Ausschlusses, führt zu Vermeidungsverhalten.
Signalisiert Unterwürfigkeit, um soz. Ausschluss zu verhindern
Emotion
Anlass
Regulationsfunktion Regulationsfunktion intrapersonal Interpersonal
Schuld (ab 36 Monaten)
Erkenntnis, falsch gehandelt zu haben
Versuche zur Wiedergutmachung
Unterwürfige Körperhaltung, die die Wahrscheinlichkeit eines Angriffs reduziert
Bezugsperson reguliert das Erregungsniveau des Neugeborenen
Appelliert ungerichtet A
E
Neugeborenes
Bezugsperson E A Handelt explorativ
Säugling übernimmt Regulationsanteile in der interpersonellen Regulation
Appelliert zunehmend gerichtet A
E
Säugling
Bezugsperson E A Handelt zunehmend gerichtet
Kleinkind hat gleichwertigen Anteil an der interpersonellen Regulation
Appelliert intentional A
E
Kleinkind
Bezugsperson E A Handelt gezielt
Vorschulkind reguliert sich selbst unter Anleitung der Bezugsperson
Appelliert intentional A
E
Vorschulkind
Bezugsperson E A Regt zu Selbstregulation an
Schulkind reguliert sich selbst unter eigener Anleitung
A Appelliert an sich selbst Schulkind E
Handelt selbst
Der Zivilisierungsprozess nach Norbert Elias Die Kultur hat historisch entscheidenden Einfluss auf die menschliche Bedürfniskontrolle ausgeübt. Das, was sich beim Kind scheinbar von selbst entwickelt, ist in Wahrheit ein gemeinsames Produkt von Gesellschaft und Individuum. Die Kultur fordert Bedürfniskontrolle, und das Individuum erfüllt sie, sobald es dazu in der Lage ist. Wenn die Kultur keine Bedürfnis- und Emotionskontrolle verlangt, wird sie auch nicht vom Einzelnen praktiziert.
Norbert Elias (1976) hat gezeigt, wie sich in der Geschichte des Abendlandes die Zivilisierung des rohen Affekts vollzogen hat. „Zivilisierung“ ist bei ihm eine langfristige Veränderung der Persönlichkeit, die auf einem Wandel der Sozialstruktur beruht. Er analysiert die Zeit von etwa 800 bis 1900 nach Christus in Westeuropa anhand von Dokumenten.
Die wachsende wechselseitige Abhängigkeit im Laufe der Jahrhunderte führte zur Notwendigkeit von Selbst- und Affektkontrolle. Der Zentralisierung innerhalb der Gesellschaft folgte zeitlich etwas später die „Zentralisierung“ in der Persönlichkeit in Form willentlicher Kontrolle der Emotionen, Triebe und Bedürfnisse. Im Einzelnen veränderten sich in der Persönlichkeitsstruktur nach Elias vor allem vier Bereiche. Erhöhung der „Schamschwelle“. Entblößung, intime Verrichtung werden nicht mehr in der Öffentlichkeit praktiziert.Erhöhung der „Peinlichkeitsschwelle“. Bestimmte Handlungen anderer wirken verstörend oder ekeleinflößend. „Psychologisierung. Verbesserung der Fähigkeit, andere zu verstehen und erhöhte Neigung, das Verhalten anderer psychologisch zu deuten. „Rationalisierung“. Konsequenzen des eigenen Handelns werden vorausbedacht, wobei lange Handlungsketten berücksichtigt werden.
Diese Veränderung hat enorme Konsequenzen für das Alltagsverhalten. Die Gewaltbereitschaft sinkt im Laufe der Jahrhunderte, Sexualität wird (bis Anfang des 20. Jahrhunderts) tabuisiert, das Essverhalten wird verfeinert (Essen mit Messer und Gabel) und die Ausscheidungsfunktionen werden aus der Öffentlichkeit verbannt. Generell tritt zwischen Impuls und Handlung ein Akt der Kontrolle und Reflexion.
Diese Darstellung des Zivilisationsprozesses von Elias gilt nicht mehr für das ausgehende 20. Jahrhundert und danach. Nun nämlich wird Selbstkontrolle in den Bereich von beruflicher Leistung und Konkurrenz kanalisiert, während bei Sexualität und im Konsum den Bedürfnissen freier Lauf gelassen wird.
Bedürfnis- und Emotionskontrolle
Emotionskontrolle
Bedürfnisaufschub: delay of gratification – resistance to temptation
Motorische Kontrolle: und ihr Gegengewicht im Sport und in Feinmotorik
Kontrolle der Bedürfnisse
Wahl zwischen kleiner Belohnung jetzt und großer Belohnung später
Strategien zum Bedürfnisaufschub: Ablenkung (nicht hinschauen, zudecken, an etwas anderes denken, etwas anderes tun).
Das Wissen kommt vor der Kontrollfähigkeit: wie es kluge Kinder machen; Trennung von Fühlen und Urteilen
Sozialisation in die moderne Arbeitsstruktur
Definition: die wohlmotivierte zuverlässige Erledigung fremdgesetzter Aufträge innerhalb bestimmter Zeitgrenzen Große Variationsbreite bezüglich des Grades an Selbständigkeit
Die moderne Arbeitsstruktur gilt auch für die Schule: Wohlmotiviert: mit Interesse am Unterrichtteilnehmen und etwas Beliebiges lernen Fremdgesetzt: typisch für Prüfungsaufgaben Zeitgrenzen: Prüfungszeit ist vorgegeben, Einteilung der Fächer nach Stunden Zuverlässig: Bestleistung dann erbringen, wenn sie verlangt wird (z.B. beim Abfragen oder bei einer Schulaufgabe), nicht wenn man sich selbst optimal dazu in der Lage fühlt Gegenwert: Noten; bei gesellschaftlicher Arbeit Geld. In der Schule gibt es für gleich Arbeit ungleichen Lohn. Roboteranforderungen an den Menschen?
Handlungsplanung und -organisation In westlichen Gesellschaften besteht eine wichtige Leistung darin, sein Leben sowohl privat als auch öffentlich gut zu organisieren.
Zeit wird immer kostbarer, man versucht, möglichst viel hinein zu packen. Beschleunigung von Arbeitsprozessen und täglichen Handlungen.
Aufgabe für Kleinkinder: 3 bemalte Bausteine so aufeinanderstellen, dass eine Figur entsteht.
Tafel reinigen als Aufgabe
Tagesplan eines 7jährigen Mädchens für ihren letzten Ferientag
Handlungsplanung bei einer Organisationsaufgabe
Ergebnis: Fortschritte in der Handlungsplanung
Freundschaften
Sozialisation als Durchlaufen von Settings
Definition: Setting ist ein Ort mit spezifischen physikalischen Merkmalen, in dem die Teilnehmer in bestimmter Weise in bestimmten Rollen und zu bestimmten Zeiten in einer spezifischen Weise aktiv sind. Die Faktoren Ort, Zeit, physikalische Eigenschaften, Aktivität, Teilnehmer und Rolle konstituieren die Elemente eines Settings. Soziale Entwicklung als Durchlaufen von Settings: Familie , Kinderkrippe, Kindergarten, Grundschule, weiterführende Schule, Lehrstelle etc.
Wechsel der Settings kann in vertraute oder fremde Umgebungen erfolgen. Beispiel: für Kinder aus Migrantenfamilien und bildungsfernen Schichten ist der Übergang in das Setting Schule neu, für Mittelschichtkinder eher vertraut.
Ökologische Systeme Bronfenbrenner
Mikrosystem: das unmittelbare an Settings gebundene System (Familie, Schule, Arbeitsplatz)
Mesosystem: die Wechselwirkung zwischen Settings (Mikrosystemen), z. B. zwischen Schule und Elternhaus.
Exosystem: Settings bzw. Mikrosysteme, denen das Individuum nicht angehört, die aber Einfluss auf seine Entwicklung nehmen (z. B. Schule, die von älteren Geschwistern besucht wird, der Arbeitsplatz des Vaters und der Mutter)
Makrosystem: Wirkung der Gesamtkultur oder Subkultur. Beeinflusst mit Doktrinen, Werten, Moden, Wissen alle Einzelbereiche und drückt ihnen seinen Stempel auf.
Perspektivenwechsel in der Sozialisationstheorie
Durkheim, Parsons: Sozialisation als passive Anpassung an das gesellschaftliche System, Übernahme von Vorschriften durch Lernen, Einprägen, Einstanzenj
Wygotski: In der Entwicklung des Kindes tritt jede höhere Funktion zweimal in Szene – einmal als kollektive Tätigkeit, d. h. als interpsychische Funktion, das zweite Mal als individuelle Tätigkeit, als intrapsychische Funktion
Heute: Sozialisation als aktive Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Anforderungen, als Wechselspiel von Anpassung und Selbstdurchsetzung
Wechselspiel von kultureller und individueller Entwicklung als sozialem Prozess
Aneignung durch Mitglieder der G. = Enkulturation Objektive Struktur
Subjektive Struktur Mitglieder der Kultur
Gesellschaft/Kultur Vergegenständlichung durch Gruppe/Gesellschaft
Isomorphie: wechselseitige Abbildbarkeit
Sozialisation als aktive Auseinandersetzung mit der äußeren und inneren Realität
Äußere Realität: Gesellschaft und ihre Ökologie
Individuum
Innere Realität: Entwicklungsund Sozialisationsniveau
Psychische Prozesse bei der Sozialisation
Klassische Konditionierung
BR
Keller
US
Schreck -reiz
UR
Angst
Eysencks Theorie der moralischen Entwicklung
Normal Konditionierbare: angepasstes moralisches und gesellschaftliches Verhalten
Schwerkonditionierbare: Psychopathen, die kriminell handeln, weil sie keine Angst bei ihrer Tat empfinden.
Übersensibel Konditionierbare: Überängstliche, die ständig fürchten, etwas falsch zu machen.
Operante Konditionierung
Reaktionen, Verhalten
„Braves“ Verhalten
Belohnung, Verstärkung
erfährt Belohnung
Schläge: KLASSISCH: Angstauslösung bei Wiederkehr der Situation
OPERANT: negative Folgen der Handlung
Liebesentzug:
Analog, aber zusätzlich selbstschädigend, identitätsverletzend
Nachahmungslernen Nachahmung ohne Zeitverzögerung: schon kurz nach der Geburt
Nachahmung mit Zeitverzögerung: entscheidende Form des Sozialastionslernens
Neurologisches Basis: Spiegelneuronen: lösen automatisch Nachahmungsreaktionen aus. Beispiele: Lachen und Weinen, Hüsteln, Räuspern. Bei Kindern: Nachahmung von Wörtern und Sätzen
Neuerdings wird der Nachahmung beim Spracherwerb wieder größere Bedeutung beigemessen (Tomaselli)
Was wird nachgeahmt? Gute „Gestalten“
Zu ihnen gehört leider auch aggressives Verhalten Experimente von Bandura et al. Augsburger Untersuchung (huber): Gruppenunterricht in Schulen
Historische Bedeutung der Nachahmung im Meister-Lehrlings-Verhältnis Anekdotisch: Skilehrer und Schüler
Nachahmung als Hauptform der Sozialisation in schriftlosen Kulturen
Ko-Konstruktion Erkenntnis der Welt und des sozialen Zusammenlebens als Konstruktionsleistung Piaget: Raum, Gegenstand und Zeit; vom Egozentrismus zur Dezentrierung. Auch die soziale Welt wird konstruiert.
Ko-konstruktion als Hauptform sozialen Lernens in modernen Gesellschaften.
Schritte der Ko-Konstruktion auf der Zone nächster Entwicklung -Diagnose des Entwicklungsniveaus -gemeinsame Bearbeitung einer Aufgabe auf der Ebene oberhalb des jetzigen Niveaus (= Zone nächster Entwicklung) mit einem kompetenten Partner -Selbständiges Lösen der Aufgabe ohne fremde Hilfe
Ko-Konstruktion als Herstellung von Isomorphie
Beispiel Mathematik: richtig rechnen, eine mathematische Struktur verstehen
Beispiel Musik: Isomorphieniveaus (Melos – Intervalle – Ankerton - Mehrstimmigkeit
Beispiel Werkzeuggebrauch: variierendes Hantieren – äußere Imitation – Nutzung der physikalischen Eigenschaften
Moderne Sonderform sozialen Lernens
Mensch-Maschine-Einheit: Nutzung von Geräten und Maschinen
Alltagsmaschinen vom Geschirrspüler bis zum Auto: ein riesiger Lernbereich
Digitale Medien: Handy und Computer. Das Erlernen ihres Gebrauchs erfolgt meist informell und beiläufig.
Erforderliche Kompetenzen: - Feinmotorische Fertigkeit - Gutes mechanisches Gedächtnis - Gutes Ortsgedächtnis Ergo: Komponenten der Mechanik (fluiden Intelligenz)