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Manuskript Evangelische Perspektiven
„Alles wirkliche Leben ist Begegnung“ Martin Buber zum 50. Todestag
Autor/in:
Elke Worg
Redaktion:
Friederike Weede / Matthias Morgenroth Religion und Kirche
Sendedatum:
Pfingstmontag, 25. Mai 2015 / 08.30 - 09.00 Uhr www.br.de/bayern2/religion
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ZITATOR 2: Der Rabbi von Berditschew sah einen auf der Straße eilen, ohne rechts und links zu schauen. „Warum rennst du so?“ fragte er ihn. „Ich gehe meinem Erwerb nach“, antwortete der Mann. „Und woher weißt du“, fuhr der Rabbi fort zu fragen, „dein Erwerb laufe vor dir her, dass du ihm nachjagen musst? Vielleicht ist er im Rücken, und du brauchst nur innezuhalten, um ihm zu begegnen, du aber fliehst vor ihm.“ MUSIK
ERZÄHLERIN: Eine Anekdote aus den „Erzählungen der Chassidim“. Die Chassidim, das sind die frommen Anhänger des Chassidismus, einer mystisch-jüdischen Bewegung, die Mitte des 18. Jahrhunderts in Südpolen entstand. Die Gläubigen versuchten, in Gebeten, Liedern, Tänzen und religiöser Ekstase Gott näher zu kommen. Der chassidische Rabbi, genannt Zaddik, galt als vollkommen. Durch seine Lehre und sein Vorbild half er seinen Anhängern, den Weg zu Gott zu finden. In Form von Erzählungen und Gleichnissen gab er seine Ratschläge an seine Schüler weiter. Außerhalb dieser Kreise interessierte sich kaum jemand für diese Geschichten. Martin Buber bewahrte sie vor dem Vergessen. Er hat die heiteren, schrulligen, mitunter auch rätselhaften Weisheitstexte der Ostjuden über viele Jahrzehnte hinweg gesammelt und bearbeitet.
O-Ton Karl-Josef Kuschel: Das Ostjudentum galt ja im Westen als ein minderwertiges, heruntergekommenes Judentum, verachtet, in Ghettos lebend, auf einer ganz primitiven Stufe existierend. ERZÄHLERIN: Karl-Josef Kuschel, emeritierter Professor der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Zu Bubers fünfzigstem Todestag hat er eine neue Biografie des großen jüdischen Denkers vorgelegt.
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O-Ton Karl-Josef Kuschel: Plötzlich entdeckt man auch im Westen, dass da ein Judentum sich bewahrt hat über Jahrhunderte, das eine eigene Kraft hat, eine eigene spirituelle Tiefe, das die Armseligkeit der Existenz sozusagen in Kontrast steht zu der großartigen Weisheit und Tiefe, die diese Tradition zu bieten hat. MUSIK
ERZÄHLERIN: 1878 kommt Martin Buber in Wien zur Welt, ein jüdisches Kind im Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn. Seine Mutter verlässt die großbürgerliche Familie, als Martin drei Jahre alt ist. Ein Trauma, das er nie ganz verwinden wird. Der Junge wächst bei seinen Großeltern im polnischen Lemberg auf, das heute zur Ukraine gehört. Sein Großvater, Salomon Buber, ist nicht nur ein wohlhabender Großgrundbesitzer und Bankier, sondern auch ein berühmter jüdischer Gelehrter, der seinen Enkel im aufgeklärten Geist der Haskala erzieht. Die buchstabentreue Befolgung des jüdischen Gesetzes – wie sie von orthodoxen Juden verlangt wird – ist seine Sache nicht. Und auch Martin Buber wird sie zeitlebens suspekt bleiben. Nicht ohne Stolz wird er im Alter sagen: ZITATOR 1: Ich bin ein polnischer Jude aus einer Familie von Aufklärern.
ERZÄHLERIN: Doch der Chassidismus, den Martin Buber in der Heimat seines Großvaters kennenlernt, verträgt sich schlecht mit der Aufklärung. Die Bewegung liegt bereits in ihren letzten Zügen, als Buber – noch ein Kind – den Gläubigen bei der Ausübung ihrer Religion zusehen kann. Schule und Studium lassen Martin Buber die seltsame Welt der Frommen zunächst vergessen. Aber der Chassidismus hat – ohne dass ihm dies bewusst ist – in seiner Seele Wurzeln geschlagen. MUSIK
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ERZÄHLERIN: Als 18-Jähriger schreibt sich Buber zunächst an der Wiener Universität ein. Später setzt er seine Studien in Leipzig, Zürich und Berlin fort. Sein Interesse gilt der Philosophie, der Psychologie, der Germanistik und der Kunstgeschichte.
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ERZÄHLERIN: Während des Studiums kommt Buber mit Theodor Herzl in Kontakt. Buber schließt sich der zionistischen Bewegung an und entdeckt – wie er schreibt – seine „jüdische Identität“. O-Ton Hans-Joachim Werner: Der Begriff ist nicht ganz unproblematisch. Wenn es eine solche jüdische Identität für Buber gibt, dann besteht sie eigentlich in der Sprengung eines in sich geschlossenen, etwa nationalen, Bewusstseins. Er spricht dann später immer wieder von einem hebräischen Humanismus. Damit könnte man vielleicht, das was hier mit "jüdischer Identität" gemeint sein könnte, am ehesten bezeichnen. ERZÄHLERIN: Hans-Joachim Werner ist Vorsitzender der Martin-Buber-Gesellschaft. Bis zu seiner Emeritierung war er Professor für Philosophie an der Pädagogischen Hochschule in Karlsruhe.
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ERZÄHLERIN: Mit Feuereifer engagiert sich Buber in der neuen Bewegung. In Leipzig ruft er den Bund jüdischer Studenten ins Leben. Auf Herzls Bitte wird er Redakteur der zionistischen Zeitschrift „Die Welt“ und gründet einen jüdischen Verlag. Doch bald schon treten die Meinungsverschiedenheiten zwischen Buber und Herzl offen zutage. Herzl geht es in erster Linie darum, einen eigenen Staat für die Juden zu gründen. Dieser muss seiner
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Meinung nach nicht zwangsläufig in Palästina liegen. Herzl kann sich durchaus vorstellen, die Juden in Ostafrika anzusiedeln. Sein politisch-nationaler Zionismus widerspricht Bubers Ansichten.
O-Ton Karl-Josef Kuschel: Dagegen sagt Buber dann: "Nein, wir brauchen so etwas wie eine kulturelle Erneuerung, eine geistige Erneuerung von innen. Wir müssen wieder Anschluss haben an die Quellen, aus denen Judentum sich speist. Und das ist vor allen Dingen der Geist der großen Propheten. Wir brauchen eine neue Lebensordnung, eine neue Lebensverfassung, die wir als Volk einüben wollen. Also, Zionismus als eine Aufgabe, ein neues Volk, ein anderes Volk, zu werden, das war sein Ansatz. ERZÄHLERIN: Die Auseinandersetzungen zwischen Herzl und Buber finden letztlich durch den frühen Tod Herzls im Jahr 1904 ein Ende. Doch sie hinterlassen tiefe Spuren bei Buber. Jahrzehnte später versucht er, sein schwieriges Verhältnis zu Herzl in dem chassidischen Roman „Gog und Magog“ aufzuarbeiten. MUSIK
ERZÄHLERIN: In Herzls Todesjahr promoviert Buber in Philosophie und Kunstgeschichte an der Universität Wien. Gegenstand seiner Dissertation ist die deutsche Mystik. Noch im selben Jahr beginnt er, sich intensiv mit dem Chassidismus auseinanderzusetzen – aus Enttäuschung über die rein politische Dimension der zionistischen Bewegung. O-Ton Hans-Joachim Werner: Der Chassidismus war, kann man sagen, eine Konstante in seinem Denken und Leben. Was ihn daran besonders interessierte und auch faszinierte, das ist die weltliche Dimension dieser Form von Frömmigkeit, dieser Form von Religiosität, einer Art Weltfrömmigkeit, die er im Chassidismus, in den chassidischen Geschichten, immer wieder entdeckte.
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ERZÄHLERIN: Der Kern der chassidischen Botschaft, so wie Buber sie verstand, lautete: Gott ist überall. Das Versagen der abendländischen Kultur bestand Bubers Ansicht nach unter anderem darin, dass sie Gott entrückt und verzweckt hatte. Gotteserfahrung war gebunden an bestimmte Zeiten, an bestimmte Riten, an sakrale Räume und an bestimmte religiöse Ausdrucksformen.
O-Ton Karl-Josef Kuschel: Das sprengt Buber auf. Und das bleibt auch bis heute seine Herausforderung. Er sagt einmal in einem ganz späten Text: „Nichts ist so geeignet, den Menschen das Antlitz Gottes zu verstellen als eine Religion.“ Er hat ein Leben lang dafür gekämpft, dass Religion etwas Lebendiges bleibt, die Gottesbeziehung offen bleibt für Überraschendes, dass Gott dort zu finden ist, wo man ihn eben nicht erwartet oder wo die traditionellen Religionen ihn ausgeschlossen haben.
ZITATOR 1: Was die Größe des Chassidismus ausmacht, ist nicht seine Lehre, sondern eine Lebenshaltung, und zwar eine gemeindebildende und ihrem Wesen nach gemeindemäßige Lebenshaltung. ERZÄHLERIN: Bubers Ansicht nach ging es im Chassidismus im Innersten um Begegnung und Beziehung. Beziehung – das wird Buber mehr und mehr klar – entsteht durch Gespräch, vorausgesetzt es handelt sich um ein echtes Gespräch. So hat es Buber selbst gesagt: O-Ton Buber: Das weitaus meiste von allem, was sich heute unter Menschen "Gespräch" nennt, wäre richtiger, in einem genauen Sinn als "Gerede" zu bezeichnen. Im Allgemeinen sprechen die Leute nicht wirklich zueinander, sondern jeder ist zwar dem andern zugewandt, redet aber in Wahrheit zu einer fiktiven Instanz, deren Dasein sich darin erschöpft, ihn anzuhören.
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ERZÄHLERIN: Angeregt durch die chassidischen Geschichten entdeckt Buber das „dialogische Prinzip“ als sein endgültiges Lebensthema, das er in seinem Hauptwerk „Ich und Du“ verarbeitet. Die Quintessenz des Buches liegt in der Formel: ZITATOR 1: Alles wirkliche Leben ist Begegnung. ERZÄHLERIN: Vor dem Hintergrund moderner Kommunikationsmittel scheint Bubers dialogisches Prinzip nötiger denn je zu sein. Chat, E-Mail oder SMS können den persönlichen Kontakt zweier Menschen nicht ersetzen. Denn das echte Gespräch – so Buber – besteht aus Anreden und Angeredetsein. Noch einmal Buber im Original:
O-Ton Buber: Die Hauptvoraussetzung zur Entstehung eines echten Gesprächs ist, den Partner als diesen, eben diesen anderen Menschen zu meinen. Ich werde seiner inne. ERZÄHLERIN: Um des Anderen „inne zu werden“, muss man ihn ansehen. Deswegen legte Martin Buber großen Wert darauf, seinem Gegenüber während des Gesprächs in die Augen blicken zu können. Eine wichtige Rolle spielten für ihn auch die beiden Wortpaare Ich-Du und Ich-Es. O-Ton Hans-Joachim Werner: Gemeint sind eigentlich Welthaltungen, also grundsätzliche Einstellungen zur Welt, eine in der Ich-Du-Beziehung auch grundsätzlich alternative Gesamtansicht der Wirklichkeit. Das ist der Durchblick auf eine primäre Erfahrungswirklichkeit, eben die des Ich-Du, während die Gegenwart, also seine Zeit, zunehmend durch das andere Grundwort, die Haltung Ich-Es, geprägt ist. Mit Ich-Es ist gemeint das, was wir alle kennen, also ein nutzender, gebrauchender, vereinnahmender, verallgemeinernder Umgang mit der Welt,
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eben nicht, so wie die Ich-Du-Beziehung konzentriert auf die Einzigkeit, die einzigartige Person, die mir eben begegnet. ERZÄHLERIN: Das ganze Wesen des Menschen definiert Buber als „dialogisch“, da sich der Mensch erst in der Begegnung mit dem anderen verwirklichen kann.
ZITATOR 1: Der Mensch wird am Du zum Ich. ERZÄHLERIN: Die Ich-Du-Beziehung gilt allerdings nicht nur für Menschen. Sie schließt auch andere Sphären mit ein:
O-Ton Hans-Joachim Werner: Es gibt eine Ich-Du-Beziehung zu den so genannten geistigen Wesenheiten, das sind also geistige Hervorbringungen des Menschen. Es gibt auch eine Ich-Du-Beziehung zur Natur, also die gesamte Schöpfung, wenn wir auf diese religiöse Dimensionen zu sprechen kommen. Die religiöse Dimension durchzieht im Grunde alles. Jede innerweltliche Begegnung ist zugleich eine Begegnung mit Gott. ERZÄHLERIN: Theorie und Praxis klafften allerdings bei Martin Buber etwas auseinander. Innerhalb seiner eigenen Familie wollte es mit dem „echten Gespräch“ nicht so recht klappen. Während des Studiums hatte Buber in Zürich seine spätere Frau Paula Winkler kennengelernt. Aus der Ehe gingen zwei Kinder hervor, die ihren Vater eher autoritär erlebten. Über Probleme wurde mit den Kindern nicht viel diskutiert. Bubers Tochter Eva durfte nicht mitreden, als ihre Eltern beschlossen, sie nie auf eine Schule zu schicken, sondern von Privatlehrern zu Hause unterrichten zu lassen. Später, als sie in Stuttgart Gartenbau studieren wollte, wurde ihr dies von dem übermächtigen Vater verboten. Er verlangte von ihr, dass sie zu Hause blieb. Auch zu seinem Sohn Rafael hatte Martin Buber zeitlebens ein angespanntes Verhältnis.
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O-Ton Karl-Josef Kuschel: Das ist ja ein Muster, das wir bei vielen Menschen kennen. Und dennoch hat er Prinzipien aufgestellt, die für ungezählte Menschen eine wichtige Botschaft sind. Dass er im persönlichen Leben auch dahinter zurückgeblieben ist, macht ihn meiner Meinung nach nur menschlicher.
ERZÄHLERIN: Anfänglich wohnt die Familie Buber in Berlin. Dort erlebt Martin Buber begeistert den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Er lässt sich zu nationalistischen Äußerungen hinreißen, die sein pazifistisch gesinnter Freund, der Sozialist Gustav Landauer, als „widerwärtig“ und unbegreiflich empfindet. 1916 kommt Buber allerdings zur Besinnung und ändert seine Haltung. In diesem Jahr erwirbt er ein Haus in Heppenheim an der Bergstraße. Hier findet er die nötige Ruhe, um seine Dialogphilosophie auszuarbeiten.
MUSIK
ERZÄHLERIN: Das dialogische Prinzip lässt Buber auch in sein Konzept der Erwachsenenbildung einfließen, das er zusammen mit Franz Rosenzweig umsetzt. Rosenzweig, ein jüdischer Philosoph und Theologe, hat in Frankfurt eine Bildungsakademie für jüdische Erwachsene aufgebaut. Es gelingt ihm, Buber als Dozenten für das „Freie Jüdische Lehrhaus“ zu gewinnen. Außerdem übernimmt Buber einen Lehrauftrag für Religionswissenschaft und jüdische Ethik an der Universität Frankfurt. Zusammen mit Rosenzweig macht sich Buber auch an einen neue deutsche Übersetzung des Alten Testaments. Sie soll den hebräischen Urtext so getreu wie möglich wiedergeben und den Juden helfen, sich mit ihrer eigenen Geschichte und Kultur neu zu identifizieren. MUSIK
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ERZÄHLERIN: Nach der Machtergreifung der Nazis legt Buber seine Professur an der Universität Frankfurt nieder. 1938 emigriert er nach Jerusalem. An der Hebräischen Universität übernimmt Buber einen Lehrauftrag für Sozialpsychologie. Und natürlich versucht er, sein Dialog-Konzept auch auf die besondere Situation Palästinas anzuwenden. Ihm schwebt ein bi-nationaler Staat vor, in dem Juden und Araber völlig gleichberechtigt nebeneinander leben sollen. Noch kurz vor seinem Tod im Juni 1965 mahnt er in einem Aufsatz: ZITATOR 1: Es besteht für mich kein Zweifel daran, dass es die Schicksalsfrage des Nahen Osten ist, ob eine Verständigung zwischen Israel und den arabischen Völkern zustande kommt, solange noch die Möglichkeit dazu besteht. Damit ein so großes, fast präzedenzloses Werk gelingt, ist unerlässliche Voraussetzung, dass geistige Vertreter der beiden Völker miteinander in ein echtes Gespräch kommen, in dem sich gegenseitige Aufrichtigkeit und gegenseitige Anerkennung verbinden. ERZÄHLERIN: Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war Martin Buber einer der ersten Juden, die den Deutschen die Hand zur Versöhnung reichten. 1953 wurde ihm in der Frankfurter Paulskirche der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. In seiner viel beachteten Rede sagte er:
O-Ton Buber: Der Krieg hat von je einen Widerpart, der fast nie als solcher hervortritt, aber in der Stille sein Werk tut - die Sprache. Die erfüllte Sprache! Die Sprache des echten Gesprächs, in der Menschen einander verstehen und sich eben deshalb auch miteinander verständigen können. ERZÄHLERIN: Wichtige Impulse setzte Buber auch im jüdisch-christlichen Dialog. Er machte den christlichen Kirchen deutlich, dass Gott seinen Bund mit Israel keineswegs gekündigt
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habe. Folglich sei das Judentum keine überholte Größe, die durch das Christentum abgelöst worden sei. Die unterschiedlichen Ansichten in dieser Frage sind zumindest zwischen Katholiken und Juden noch immer nicht ganz beseitigt, gibt Karl-Josef Kuschel zu bedenken. Der emeritierte Professor für Theologie der Kultur und des interreligiösen Dialogs an der Universität Tübingen war zugleich Ko-Direktor des Instituts für ökumenische und interreligiöse Forschung.
O-Ton Karl-Josef Kuschel: Es geht also nicht darum, dass Juden Christen werden und Christen Juden, sondern dass sich beide neu auf Gott einlassen, auf Gottes Geheimnis, auf Gottes Transzendenz und Unverfügbarkeit. ERZÄHLERIN: Heute geht es nicht nur um den Dialog zwischen Juden und Christen, sondern auch um den Dialog mit anderen Religionen. Umso aktueller Ist Bubers Forderung, den Anderen in seiner Andersartigkeit gelten zu lassen und ihn wertzuschätzen. MUSIKAKZENT
ZITATOR 1: Ich habe keine Lehre. Ich zeige nur etwas. Ich zeige Wirklichkeit.
ERZÄHLERIN: … antwortete Martin Buber einmal seinen Kritikern, als sie ihm vorwarfen, sich nicht an wissenschaftliche Spielregeln zu halten. Aber welche Wissenschaft hätte das sein sollen? Die meisten Nachschlagewerke bezeichnen Martin Buber als Religionsphilosoph. Doch diese Etikettierung wird ihm nicht ganz gerecht und sie wäre ihm auch nicht recht gewesen. Er sei ein „atypischer Mensch“, behauptete er von sich selbst. Schon zu seinen Lebzeiten machten sich seine Zeitgenossen Gedanken darüber, welcher Disziplin Buber zuzuordnen sei. War er nun Philosoph, Theologe, Pädagoge, Soziologe? War er Literaturwissenschaftler, Bibelwissenschaftler oder gar
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Kulturhistoriker? Nichts von alledem und doch von allem etwas, meint Karl-Josef Kuschel 50 Jahre nach Bubers Tod. . O-Ton Karl-Josef Kuschel: Wenn man ihn charakterisieren möchte, dann würde ich sagen, er ist ein religiöser Denker aus jüdischen Quellen mit Wirkungen bis in den Bereich der Philosophie, der Pädagogik, der Erwachsenenbildung, ja sogar der Sozialphilosophie und den Sozialwissenschaften. Buber ist in diesem Sinne nicht einfach greifbar, man muss sich schon auf ihn einlassen und erlebt dann den ganzen Reichtum und Lebendigkeit seines Denkens. ERZÄHLERIN: In der Pädagogik konnte Bubers dialogisches Prinzip besonders gut Fuß fassen. Hier setzte sich seine Idee durch, dass nicht autoritäre Dogmen, sondern Verantwortung und Vertrauen das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler kennzeichnen sollten. Ohne persönliche Beziehung gibt es keine Erziehung, so Buber. Buber sah in den Erziehern „Brückenbauer“, die jedem Kind offen und unvoreingenommen begegnen, es mit all seinen Eigenarten akzeptieren und entsprechend seinen Fähigkeiten fördern sollen. MUSIKAKZENT
ERZÄHLERIN: Unverkennbar ist Bubers Einfluss auf die Psychotherapie. Carl Rogers und seine Gesprächstherapie und die Logotherapie Viktor E. Frankls zeigen deutliche Übereinstimmungen mit den Vorstellungen Martin Bubers. MUSIKAKZENT
ERZÄHLERIN: Auch in den Sozialwissenschaften wurden und werden Bubers Ideen immer wieder neu diskutiert. Buber war der Ansicht, dass sich echte soziale Beziehungen nur in Gemeinschaften gleicher und freier Menschen verwirklichen lassen. Zusammen mit
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Gustav Landauer plädierte er dafür, dem Staat und Kapitalismus den Rücken zu kehren. Die Lehren von Marx und Engels waren für Buber allerdings keine brauchbare Alternative. Sein Anliegen war es, die Gesellschaft von innen heraus zu erneuern. Alles was anstelle öffentlicher Gewalt den Dialog und das konstruktive Miteinander fördert, kam Bubers Gemeinschaftsideal entgegen. Dazu zählten Genossenschaften, Gewerkschaften, Bürgerinitiativen und Selbsthilfeorganisationen. Alternative Lebens-und Arbeitsformen, die auf Bubersches Denken zurückgehen, finden sich immer wieder. Dazu gehören zum Beispiel Betriebe ohne Führungskräfte oder Wohngemeinschaften, in denen Junge, Alte und Hilfsbedürftige miteinander leben und füreinander da sind. MUSIKAKZENT
ERZÄHLERIN: Bubers Philosophie des Gesprächs lieferte namhaften Philosophen wie Gadamer, Habermas und Lévinas entscheidende Anregungen. Vor allem Emmanuel Lévinas zeigt deutliche Anklänge an Bubers Denken. Manche sahen in ihm sogar einen Nachfolger Bubers und bezeichneten Lévinas‘ Lehre gar als „Philosophie der Begegnung“. HansJoachim Werner, Philosoph und Buber-Experte, hält beides für unzutreffend. Ähnlich wie Buber war auch Lévinas davon überzeugt, dass sich Gott in der unmittelbaren Begegnung von Mensch zu Mensch offenbart. Lévinas fühlte sich vor allem den Opfern des Holocaust verpflichtet. „Wenn Gott ins Denken einfällt“, so Lévinas, wird uns im Antlitz des Anderen dessen Schutzlosigkeit und unsere Verantwortung ihm gegenüber bewusst.
ZITATOR 2: Das Andere des Anderen ist nicht eine verstehbare Form, die im Prozess des intentionalen 'Enthüllens' an andere Formen gebunden ist, sondern ein Antlitz, die proletarische Nacktheit, die Mittellosigkeit; das Andere ist der Andere; das Herausgehen aus sich selbst ist die Annäherung an den Nächsten; die Transzendenz ist Nähe, die Nähe ist Verantwortung für den Anderen.
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ERZÄHLERIN: Martin Buber stand auch mit zahlreichen Theologen in Verbindung. Dazu gehörten auf evangelischer Seite Rudolf Bultmann, Emil Brunner, Albert Schweitzer, Leonhard Ragaz – um nur einige zu nennen. Auf katholischer Seite sind vor allem Romano Guardini und Hans Urs von Balthasar von Buber inspiriert worden. Bis in die heutige Zeit liefert Buber wertvolle Denkanstöße für die so genannte dialogische Theologie. Viele Versuche, innerhalb der Kirche Gott neu zu denken, gehen auf Bubers Überlegungen zurück. Der Glaube an Jesus Christus als Erlöser und die „Vergottung“ Jesu wurden von Buber deutlich kritisiert genauso wie die institutionalisierte Religion, die Buber als „Urgefahr des Menschen“ betrachtete. Für die Theologie heißt das, die Bedeutung menschlicher IchDu-Begegnungen zu erkennen und unermüdlich darauf hinzuweisen, dass in lebendigen Beziehungen immer auch Gott selbst zu erfahren ist. Gottes- und Menschenliebe sind nach Bubers Auffassung eng miteinander verbunden. Martin Bubers Denken bleibt auch 50 Jahre nach seinem Tod erstaunlich aktuell. Karl-Josef Kuschel, sein Biograph:
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O-Ton Karl-Josef Kuschel: Er ist einer der religiösen Denker im 20. Jahrhundert, der alle Probleme im Blick auf die Religionen kennt, der alle Abgründe erlebt hat, alle Zeitumbrüche am eigenen Leibe erfahren und der dennoch aus seinem tiefen Gottvertrauen, das er aus der jüdischen Überlieferung und aus der biblischen Überlieferung kennt, an Gott festhält. In einer Zeit, die er selber als Gottesfinsternis diagnostiziert hat, gelingt es Buber, auf eine glaubwürdige, ja manchmal ergreifende Weise, ein Ja, ein Vertrauen zu Gott, durchzuhalten. Ich denke, das ist seine große Bedeutung, die er nach wie vor in einer Zeit ungeheurer Krisen, die auch wir durchmachen, behalten hat.
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