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Wo liegt die Grenze zwischen verhaltensauffällig und
psychisch krank? Vom Nutzen einer differenzierten Diagnosestellung Marion Reichert Hutzli, Leitende Ärztin, November 2015
Gesund oder krank? • Kein eindeutiger Grenzwert zwischen normal und psychisch krank, der Übergang ist fliessend
• Wo setzt man die Grenze?
• Wo sind Verhaltensauffälligkeiten einzuordnen?
Verhaltensauffällig?
Was heisst psychisch gesund? Zentrale Aspekte der psychischen Gesundheit sind persönliches Wohlbefinden, Selbstbewusstsein, Lebenszufriedenheit und
Beziehungsfähigkeit, die Fähigkeit, den Alltag zu bewältigen und einer Arbeit nachgehen zu können sowie zu gesellschaftlicher Teilnahme in der Lage zu sein.
Schweizerisches Gesundheitsobservatorium 2003
Psychisch gesund oder krank? • Auch gesunde Mensch sind in einem wechselnden seelischen Gleichgewicht. • Durch positives Selbsterleben, körperliche Integrität, berufliche und soziale Verankerung können eine weit reichende emotionale Stabilität erreicht und Belastungen erfolgreich bewältigt werden. • Spannungen und Konflikte gehören zum normalen Leben und zur normalen Entwicklung eines jeden Menschen.
Kontext von Verhalten • Historische Zusammenhänge • Kulturelle und religiöse/ethische Aspekte • Biographie, besondere Lebenserfahrungen • Alter, Geschlecht, soziale Rolle/Status
Verhaltensauffälligkeit • Allgemein unübliches Verhalten das die Person selbst und/ oder andere in ihrer freien Entfaltung einschränkt.
• Verhaltensnormen können nur im Vergleich mit dem Verhalten vieler Mitglieder einer Gemeinschaft über einen längeren Zeitraum erfasst werden und müssen den situativen Kontext berücksichtigen • Das Abweichen von Normen ist noch nicht zwangsläufig Ausdruck einer sozialen/ oder psychischen Störung.
Formen von Verhaltensauffälligkeiten • Kontaktstörungen z.B. fehlende Kontaktaufnahme, sozialer Rückzug, Nähe-Distanz-Probleme, Verhaltensstereotypien • Fremdaggressives Verhalten, d.h. Aggression gegen Personen oder Sachen • Selbstverletzendes Verhalten
• Verhalten in akuten oder chronischen psychischen Krisen, z.B. Angstzustände, Depressionen, schizophrene Symptome • Hyperaktives Verhalten
Bradl
Formen von Verhaltensauffälligkeiten • Dissoziales Verhalten oder Straffälligkeit • Suchtverhalten
• Auffälliges Sexualverhalten einschließlich sexueller Gewalt. • Zusätzlich zu organischen Symptome (z.B. Epilepsie, Delir) • Verhalten nach traumatischen Situationen, Konflikten, Erlebnissen
Bradl
Mögliche Ursachen von Verhaltensstörungen •
Organische und neurophysiologische Faktoren, z.B. Verhaltensstereotypien in Verbindung mit Seh- oder Hörstörungen
•
Lernfaktoren, d.h. Verhalten als gelernte Reaktion (z.B. aggressives Verhalten als erlernte erfolgreiche Durchsetzungsstrategie)
•
Verhaltensauffälligkeiten als Fortführung/Folge frühkindlich gestörter Beziehungsmuster
•
Auffallendes Verhalten als aktiv gesetzte Signale für gestörte Interaktionsund Kommunikationsabläufe in emotional bedeutsamen Beziehungen oder Sozialsystemen
•
Selbstwahrnehmung, Identität und Körpererfahrung, d.h. Verhaltensauffälligkeiten als Störungen des Erlebens und Verhaltens zu sich selbst, vor allem zum eigenen Körper (z.B. Autoaggressionen)
•
„Krankmachende" soziale Bedingungen."
Bradl
Verhaltensauffälligkeiten – eine Herausforderung • Wenn ein Verhalten als störend und problematisch empfunden wird • Betroffenen selbst unter einem starken Leidensdruck stehen und diese Verhaltensformen ein Ausdruck des Leidens sind
Sind hohe fachliche und kommunikative Kompetenzen gefordert
Häufig reagiert die Umwelt mit Unverständnis oder Abwehr, was leicht zu einer negativen Verstärkung der Verhaltensweisen führen kann
Gewinn der Auseinandersetzung mit auffälligem Verhalten Wenn es gelingt, die innere, subjektive Logik zu begreifen und eine Vorstellung davon zu entwickeln, worin die Bedeutung für den Menschen selbst liegen kann • Kommt er uns als unverwechselbare Persönlichkeit, als Subjekt näher, und wir können
• unser eigenes Verhalten so gestalten, dass die Würde des anderen Menschen geachtet wird • und wir ihn bestmöglich unterstützen
Verhaltensauffälligkeiten können Teil einer psychischen Erkrankung sein können aber auch für sich bestehen
Psychische Erkrankungen führen zu Verhaltensauffälligkeiten
Historische Konzepte psychischer Störung • Bis vor 150-200 Jahren: Beurteilung von auffälligen Verhaltensmustern nicht Teil der medizinischen oder psychologischen Wissenschaft • Aufgabe von Pädagogen, Geistlichen, Philosophen usw. • Psychische Störungen häufig als fehlgeleitetes Verhalten bzw. Folge von Unmoral interpretiert • Als Einfluss dämonischer oder göttlicher Kräfte
Die Psycho-Falle • Psychiatrische Diagnosen können zu Irritation und Verunsicherung führen. • Die Begrifflichkeiten sind oft unklar, vieldeutig oder mit Vorurteilen behaftet. • Viele Betroffene haben Angst vor Stigmatisierung und fürchten die Diagnose.
ICD 10
nik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Kapitel
V
Gliederung
Titel
F00-F09
Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen
F10-F19
Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen
F20-F29
Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen
F30-F39
Affektive Störungen
F40-F48
Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen
F50-F59
Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren
F60-F69
Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen
F70-F79
Intelligenzstörung
F80-F89
Entwicklungsstörungen
F90-F98
Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend
F99-F99
Nicht näher bezeichnete psychische Störungen
Die Bedeutung der psychiatrischen Diagnose • Diagnosen sind keine festgeschriebenen Tatsachen oder Sachverhalte, sondern Zuschreibungen, die einen Beitrag zum Verständnis der Bedeutung und des subjektiven Sinns des Verhalten in lebensweltlichen Bezügen und sozialen Situationen leisten • Erleichtert den Austausch, die Reflexion und Zusammenarbeit von Betroffenen und Umfeld
Dieckmann, Hass 2007
Klassifikation von psychischen Störungen Nutzen • Verbesserung der Kommunikation • Sinnvolle Informationsreduktion • Ökonomische Informationsvermittlung • Überzufällige Syndrome • Handlungsanleitung • Wissensakkumulation
Gefahren • Etikettierung • Informationsverlust • Verwechselung von Deskription und Erklärung • Schaffung künstlicher Einheiten • Verschleierung basaler Dimensionen
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Wie sollten Diagnosen gestellt und genutzt werden? • Unter Beachtung biologischer, psychologischer und sozialer Einflüsse, komplexer Wechselwirkungen von Disposition und Umwelt (sog. Gen-Umwelt-Interaktion) • Basierend auf objektivierbaren Symptome und dem subjektive Erleben des Patienten und dessen Angehörigen.
• Diagnose soll dem Patienten mitgeteilt werden. • Reflexion der Diagnose vor dem Hintergrund der fortlaufenden Entwicklung
• Ansprechen von Aspekte, die durch die Diagnose nicht benannt sind.
Ein Verhalten viele Ursachen
soziale Benachteiligung Gefühl unangemessen behandelt zu werden
Schizophrenie Angst vor Verfolgern Borderline Erkrankung Gefühl der Zurückweisung Aggression
Delir Reizüberflutung
Demenz Gefühl der Bedrohung da Absicht des Helfenden nicht verstanden wird
Manie Gefühl der Autonomiebeschränkung
Warum Diagnose und Behandlungsplanung? • Unterschiedliche Diagnosen fordern unterschiedliche Interventionen ( je nach Diagnose und Ursache stehen unterschiedliche, validierte Verfahren zur Verfügung) • Massgeschneiderte Interventionen • Zielen auf die zugrundeliegenden Probleme • Entsprechen den Bedürfnissen der Betroffenen und der Helfenden • Sind effektiv
Veränderung in Gang bringen Problem Verhalten
Umsetzung Ändern von Kommunikation, Situation,..
Lösung Behandlungsplan
Analyse Diagnosestellung, Situationsanalysen
Ziele Wie soll sich das Verhalten ändern
Glück ist dort wo man Glück macht……..
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit