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Call for Papers Streitfragen der soziologischen Gewaltforschung 17./18. November 2017, RWTH Aachen University, Super C Organisiert von Andreas Braun (Universität Bielefeld), Thomas Hoebel (KWI Essen & Universität Bielefeld), Thomas Kron (RWTH Aachen) & Rainer Schützeichel (Universität Bielefeld) Die soziologische Gewaltforschung nimmt gegenwärtig zwei Entwicklungen: (a) Generalisierende Perspektiven statt fragmentierter Forschung – In den vergangenen Jahren sind genuin soziologische Theorien der Gewalt entstanden, die den Anspruch und das Potenzial haben, jedes Gewaltereignis erklären zu können (Black, Collins, Gould, Tilly, Wieviorka). Sie wenden sich gegen die zunehmenden Fragmentierung der soziologischen Gewaltforschung in Spezialfelder, die sich nur mit einer dieser Formen befassen. (b) Situative Dynamiken statt Täterzentrierung oder Ereignisholismus – Der analytische Schwerpunkt der soziologischen Gewaltforschung liegt gegenwärtig auf die Situationen der Gewaltausübung. Entsprechende Untersuchungen konzentrieren sich nicht vornehmlich auf Täter*innen, sondern auf situative Konfigurationen aller an Gewalt beteiligten Parteien. An die Stelle holistischer Vorstellungen von Gewalt, die mit Begriffen wie Staatlichkeit, Krieg und Genozid verbunden werden, sind differenzierende Analysen von Formen, Prozessen, Mechanismen, Ebenen und Struktureffekten der Gewaltausübung bzw. des Verzichts, des Abbruchs und des Scheiterns von Gewalt getreten. Der Produktivität der soziologischen Gewaltforschung hat es dabei gut getan, sich kontrovers mit ihrem Untersuchungsbereich auseinanderzusetzen, ohne sich heillos zu zerstreiten. Die gegenwärtigen Streitfragen des Forschungsgebiets stehen daher im primären Aufmerksamkeitsfokus der Tagung. Gleichsam ist es eine „Streitfrage zweiter Ordnung“, welche Kontroversen besondere Aufmerksamkeit verlangen. Die Lage ist durchaus unübersichtlich, da die Antagonismen sich nicht entlang einer wesentlichen Oppositionslinie sortieren, wie sie seinerzeit die Unterscheidung von Mainstream und Innovation zu programmatischen Zwecken insinuierte (ohne dann jedoch besonders instruktiv für die tatsächliche Untersuchung von Gewalt zu sein). Sicherlich ließe sich allein über die Frage trefflich streiten, wie weit Trutz von Trothas mittlerweile zwanzig Jahre altes Urteil noch gilt, dass Gewalt ein analytisches Stiefkind der allgemeinen soziologischen Theorie sei. Einerseits ist das Theorizing von Gewalt in den vergangenen Jahren erheblich vorangeschritten. Gemessen an seiner jüngsten 1 Rezeption ist Randall Collins‘ Mikrosoziologie der Gewalt der prominenteste Ansatz. Diese relative Prominenz darf gleichsam nicht darüber hinweg täuschen, dass die Zahl substanzieller Forschungsbeiträge, die den engen Kontakt zu soziologischen Theorien suchen bzw. Gewalt soziologisch theoretisieren, insgesamt stark gestiegen ist. Andererseits liegt u.a. der Einwand nahe, dass die Stärke der jüngeren Studien eher in ihrer mittleren Reichweite liegt, ihre sozial- oder gesellschaftstheoretischen Erträge jedoch gering sind. Die Tagung ist darauf ausgerichtet zu ergründen, zu welchen theoretischen und methodologischen Problemstellungen es kontroverse Positionen gibt, welche ‚guten Gründe‘ für die betreffenden Differenzen existieren und welche Forschungsperspektiven aus den jeweiligen Streitfragen erwachsen. Sie verfolgt somit die drei Ziele, (1) die gegenwärtigen Streitfragen der soziologischen Gewaltforschung zu systematisieren, (2) kontroverse Positionen und ihre Gründe miteinander zu konfrontieren und (3) Potenziale und Grenzen der Komplementarität kontroverser Positionen auszuloten. Dabei zeichnen sich aus Sicht der Veranstalter momentan mindestens fünf Kontroversen bzw. Fragen innerhalb der soziologischen Gewaltforschung ab, die im Mittelpunkt der Tagung stehen sollen. Die Liste ist jedoch weder vollständig noch erhebt sie diesen Anspruch. #1: Wer qualifiziert einen Vorgang anhand welcher Kriterien als „Gewalt“? Gewalt ist zum einen ein normativer Begriff, der dazu dient, illegales und illegitimes Verhalten („und ihre Menschen“) zu bezeichnen. Er ist durch seinen alltäglichen Gebrauch selbst handlungswirksam. Zum anderen kennzeichnen Sozialforschende ein Geschehen, eine Handlung, eine soziale Tatsache u.ä. mit diesem Begriff zu empirischen Zwecken und um den betreffenden Untersuchungsgegenstand zu deuten und zu erklären. Es ist eine offene Frage, wie die soziologische Gewaltforschung den sowohl alltäglich-normativen als auch epistemischen Funktionen des Gewaltbegriffs systematisch Rechnung tragen kann. #2: Was erklärt Gewaltsituationen? Der situationistische Drift der jüngeren soziologischen Gewaltforschung kulminiert – insbesondere im Fall der Collins’sche Mikroperspektive – in Positionen, die Gewalt nahezu ausschließlich durch Elemente und Prozesse der Situation erklären, in der sie stattfinden. Diese recht „sparsame“ Forschungsstrategie ist wiederkehrender Anlass für Kritik, klammert sie doch vorgefasste Motive, übergeordnete Gründe und Rechtfertigungen oder inkorporiertes Wissen mehr oder weniger stark aus – zumindest explanatorisch. Damit verbunden ist es eine offene Frage, wie Situationen zeitlich, sachlich und sozial begrenzt sind und die ihr zugehörigen Elemente ihr empirisches Gewicht für den konkreten Situationsverlauf gewinnen. 2 #3: Was sind die elementaren Parameter und Prozesse eines Gewaltgeschehens? Während Collins im Kern für eine emotionssoziologische Mikrofundierung der soziologischen Gewaltforschung argumentiert, gibt es konkurrierende Positionen, die den elementaren Stellenwert von „Deutungen und Bedeutungen“ (Sutterlüty u.a.), „gemeinsamen Wissens“ (Paul und Schwalb u.a.) und „sozialen Praktiken“ (Christ) für die Ausübung von Gewalt und ihrer sowohl situativen als auch retrospektiven Beobachtung geltend machen. Es ist eine offene Frage, ob und inwiefern bestimmte Typen von Situationselementen die Dynamik des Geschehens maßgeblich prägen, ob und inwiefern sich elementare Parameter und Prozesse miteinander verschränken und/oder in ihrem zeitlichen Gewicht wechseln. #4: Wie sind Gewaltsituationen temporal und strukturell mit anderen Formen sozialer Ordnung verschränkt? Gerade situationistische Analysen von Gewalt haben einen Hang zur „Kontextvernachlässigung“. Gleichzeitig ist die durchaus umstrittene, aber aufgrund ihrer epistemischen Funktionen äußerst beständige Mikro-/Meso-/Makro-Differenz ein wesentlicher Bestandteil des gewaltsoziologischen Begriffshaushalts, um Ebenen sozialer Ordnung, epistemologische Blickwinkel oder gleich beides zu kennzeichnen. Es ist eine offene Frage, wie Gewaltsituationen mit anderen Formen sozialer Ordnung verschränkt sind und die Güte von soziologischen Deutungen und Erklärungen davon abhängt, diese Verschränkungen nachzeichnen zu können. #5: Welche sozialen Folgen haben die Ausübung und das Erfahren von Gewalt? Während die praktikerorientierte Literatur zu Gewalt (Grossman, Kane und Wilder, Miller) die drei „Zeitzonen“ Prävention, Intervention und Postvention unterscheidet, um die Frage zu bearbeiten, was eine Person tut/tun kann, die andere mit Gewalt konfrontiert bzw. mit Gewalt konfrontiert ist/wird, gibt es in der soziologischen Forschung vornehmlich eine Auseinandersetzung damit, was vor und in Gewaltsituationen geschieht. Das Theorizing der Folgen von Gewalt, die stattgefunden hat, ist dagegen eine weitgehend offene Frage, die nicht zuletzt der unter #1 genannten Problemstellung Rechnung zu tragen hat, wer eigentlich ein Geschehen als Gewalt definiert und diese Definition gegen andere durchsetzen kann, etwa als Mittel zur Bildung, Aufrechterhaltung oder Veränderung sozialer Strukturen. Sehr willkommen sind Beiträge, die sich zu einer oder mehreren Streitfragen positionieren, die Komplementaritäten von Positionen zu einer oder mehreren Kontroversen ausloten oder die eine weitere, hier nicht aufgelistete Streitfrage elaborieren. 3 Bitte senden Sie Ihre Abstracts im Umfang von 1-2 Seiten mit dem Betreff „Streitfragen“ bis zum 31. März 2017 an [email protected]. Sie erhalten bis zum 03. April 2017 Bescheid, ob Ihr Vorschlag angenommen ist. Vortragende erklären sich bereit, den Teilnehmenden der Tagung ein Diskussionspapier im Umfang von 10-12 Seiten zur Verfügung zu stellen, das bis zum 20. Oktober 2017 vorliegt und an alle Beteiligten versendet werden kann. 4