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05. März 2016
Theologie im Gespräch
Weder „Krone“ noch „Krankheit“ – Was ist unsere Bestimmung in der Schöpfung? – Einstieg ins Thema – Diese Unterlage soll der Hinführung zur Thematik dienen und der Vertiefung. Am TiG-Tag vom 05.03.16 werden schwerpunktmässig nur einige thematische Aspekte aufgegriffen Claus D. Eck
A Um was es geht 1. Menschen neigen aus ihrem Grössenselbst und mehr noch aus ihrem Unwissen heraus, sich als species (Art) als Mittel-, End- und Zielpunkt des Geschaffenen zu betrachten. Seit der Antike (z.B. Aristoteles 384-322) verstand man die Entwicklungen in der Natur als ein Stufenmodell von niederen, minderen zu höheren, vollkommeneren Stufen. So entstand die Redewendung vom Menschen als „Krone der Schöpfung“. Nicht nur die moderne Biologie hat diese Sicht als problematisch und unzureichend kritisiert. Auch die Kulturkritik weist diesen überheblichen Anspruch zurück (in drastischer Form z.B. der Arzt und Dichter Gottfried Benn in Gesammelte Gedichte, „Der Arzt“, S. 14). Die Gegenbewegung zum „Krone-der-Schöpfung-Sein“ bestand/besteht darin, den Menschen total zu entwerten als z.B. „Irrläufer der Evolution“ (Arthur Koestler, 1978), und Günther Anders spricht von der „Antiquiertheit des Menschen“ (1956). Oder der Mensch sei eine Krankheit, ein (tödlicher) Virus. Oder U. Horstmann, „Das Untier. Konturen einer Philosophie der Menschenflucht“, Wien-Berlin 1983, 8ff. „Und vielleicht ist das Untier mit all seinem Erfindungsreichtum, seinem Selbstbewusstsein und seiner Philosophie nicht die Krone der Schöpfung, sondern bloss ihr Strick, die ingeniöse Methode, auf die vor Milliarden von Jahren der erste Einzeller verfiel, um nach ebenso vielen Zellteilungen und Teilungen von Teilungen, die sein Leben multiplizierten, doch noch Selbstmord zu begehen“.
Die Bibel hat einen weit gefassten dabei aber sehr realistischen Blick auf den Menschen. „Nach Gottes Bild geschaffen“ (Genesis, 1,V. 27) – „wenig geringer als Engel“, „Herrscher über alles Geschaffene“ (Psalm 8, V. 5-6) – „aus Staub gemacht (Genesis, 2, V. 7), „zu Staub werden“, „vielfach gefährdet“ (Psalm 90, V. 3-7) – „Verstocktheit des bösen Herzens“ (Jeremia, 11, 8), und es ist ein auch in der Bibel vorkommender Gedanke, dass es besser sein könnte, wenn der Mensch nicht geboren wäre (Kohelet, 6, V. 3, Hiob, 3, V. 10-13; Math. 26, V. 24; MK 14, V. 21). Ein Gedanke der u.a. bei Arthur Schopenhauer (1788-1860), E.M. Cioran (1977) und Ilse Aichinger (2005) vielfältig reflektiert wird. Unsere Tagung fragt nun aber nicht allgemein nach dem „Wesen des Menschen“ – so spannend, ergiebig und unerlässlich darüber nachzudenken es auch ist – sondern etwas „funktionaler“ nach „unserer Bestimmung in der Schöpfung“. Damit kommt die Frage in das Bewusstsein: wie findet der Mensch als species und als Individuum seine Einordnung in die Welt? Welt als Natur, aus der alles entstand und ausserhalb der es kein Menschsein gibt. In seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ 1
(1791) schreibt Johann Gottfried Herder: „Der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöpfung; er steht aufrecht“ (in: Der Mensch ist zu feineren Trieben, mithin zur Freiheit organisiert, 4. Teil, Kap. 4). Tatsächlich ist der Mensch aber überhaupt nicht ein Freigelassener, sondern er bleibt integraler Bestandteil, Subsystem der Natur. Das Überleben des Menschen und mit ihm das Überleben vieler anderer species hängt entscheidend davon ab, in wie weit es dem Menschen gelingt, sich in die Natur als seinem einzigen Biotop einzuordnen. 2. Im Hinblick auf die hohe besorgniserregende ökologische, politische, wirtschaftliche, soziale Situation der Welt startete 1983 in Vancouver ein konziliarer Prozess: „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“. An der Ökumenischen Weltversammlung 1990 in Seoul wurden diesbezüglich „Zehn Grundüberzeugungen“ verabschiedet (Ulrich Schmittkenner, 1990). Wenn auch pragmatisch durchaus verstanden wird, was mit „Bewahrung der Schöpfung“ gemeint sei und „bewahren“ (hebr. šāmar) ein göttlicher Auftrag bzgl. des Garten Eden (Genesis, 2, V. 15/16) verbunden war, so wurde die Formulierung „Bewahrung der Schöpfung“ (durch den Menschen) doch als wenig präzise, prätentiös und als solche gar nicht möglich erlebt (vgl. dazu die graphische Skizze Seite 4). Die weitere Entwicklung dieses konziliaren Prozesses ging dann in Richtung des „AGAPE-Prozesses“. „Der AGAPE-Prozess (Alternative Globalization Addressing People and Earth / Alternative Globalisierung im Dienst von Menschen und Erde) äussert sich zu Fragen sozialer und wirtschaftlicher Gerechtigkeit im globalen Kontext. In seinem Verlauf fanden mehr als ein Dutzend Konsultationen in verschiedenen Weltregionen statt. Eine menschliche Entwicklung innerhalb von überlebensfähigen Gemeinschaften lautet darin die Vision des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) in seiner Einstellung zur wirtschaftlichen Globalisierung. Zusammenfassender Begriff ist „Wirtschaften für das Leben“. Der ÖRK strebt damit die ökonomische, finanzielle und ökologische Gerechtigkeit ganzheitlich und unter demokratischer Beteiligung auf allen Ebenen an. Nach seiner Überzeugung kann sie jedoch nicht verwirklicht werden, solange der materielle Überfluss einiger weniger weiterhin auf Kosten der Mehrheit der Menschen auf dieser Welt wächst. Das unbegrenzte Streben von einigen Individuen, Gesellschaftsgruppen oder Konzernen nach mehr Macht, mehr Profit und mehr Besitz sei unhaltbar. Er nehme vielen Gemeinschaften die Möglichkeit, ihre Bedürfnisse in Harmonie mit der Umwelt nachzukommen. Die Globalisierung sei heute eine der Hauptursachen für die wachsende Kluft zwischen Reich und Arm, zwischen Nord und Süd.“ (wikipedia.org)
Diese thematischen Dimensionen bringen uns in die Perspektive, in der wir auch unsere heutige TiG-Tagung konzipierten. Und wie bei allen Veränderungsvorhaben reichen Begeisterung und Anfangselan nicht aus, und übergrosse Vereinfachungen sind angesichts der Komplexität sehr gefährlich. Es geht also zunächst darum, sich in aller Nüchternheit und im Wissen (evtl. auch nur Ahnen) der komplexen Zusammenhänge eine adäquate Vorstellung zu machen bezüglich der drei Dimensionen menschlicher Handlungsmöglichkeiten in einer bestimmten Situation. Dabei – aber das ist ein weiteres Thema – spielt der sog. Habitus (Gewohnheit/en) eine grundlegende Rolle. Die „Macht der Gewohnheit" entsteht nicht nur auf individueller, biographischer Basis, sondern hat immer eine mächtige kulturelle, strukturelle Grundlage. Die folgenden Grafiken fassen die Hintergründe zusammen, vor denen sich unsere Problemstellung abspielt und begrenzt wird.
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B Frankenstein, Kassandra, Titanic & Co. Die Vielzahl der Einflussfaktoren auf den sozio-ökologischen Zustand der Welt und deren Zusammenwirken plus die zahlreichen Unbekannten der Ursache – Wirkung – Relationen bilden einen Grad von Komplexität, welche uns an die Grenzen der Verstehbarkeit führt und diese manchmal auch übersteigt. Viele Menschen und auch Institutionen erfahren sich als überfordert im Verarbeiten, Nachvollzug der vorhandenen Informationen und noch mehr bezüglich der Frage nach den Konsequenzen des angemessenen Handelns und NichtHandelns. Die Menge der Informationen, die Abstraktheit der Begriffe und Theorien und die immer gegebene starke Interessensgebundenheit des Wissens können leicht zur Resignation und zu der mentalen Strategie des „aus-dem-Felde-gehen“ führen. Das war auch dem jungen G.W.F. Hegel (1779-1831) bewusst und so schrieb er (1796/1797): „Ehe wir die Ideen ästhetisch, d.h. mythologisch machen, haben sie für das Volk kein Interesse; und umgekehrt, ehe die Mythologie vernünftig ist, muss sich der Philosoph ihrer schämen. So müssen endlich Aufgeklärte und Unaufgeklärte sich die Hand reichen, die 5
Mythologie muss philosophisch werden und das Volk vernünftig, und die Philosophie muss mythologisch werden, um die Philosophen sinnlich zu machen.“
(Werke, Bd. 1, S. 234) Deswegen sind Erzählungen (Narrative), Bilder, Gestalten und Symbole für die Darstellung und das Verständnis abstrakter und hoch komplexer Sachverhalte von so grosser Bedeutung. Michel Maxime Egger (2012) ruft die Erzählung von drei Gestalten bzw. Geschehnisse in Erinnerung, in denen sich im Zusammenhang unserer Problemstellung die Dynamik der Antriebe und Folgen bestimmten menschlichen Verhaltens kristallisiert: Frankenstein – Kassandra – die Titanic. Und natürlich gäbe es noch viele andere. Z.B. Prometheus – Krösus – Faust – den Homo occonomicus. Doktor Frankenstein steht für den Hochmut (und die Fähigkeit) des Menschen, selber Schöpfer von Leben zu sein und einen künstlichen Menschen zu schaffen. Das Experiment hat sich jedoch verselbstständigt, das „Geschöpf“ des Dr. Frankensteins wurde zum mordenden und zerstörerischen Monster. Was die Fähigkeit des Menschen unter Beweis stellen sollte, selber Schöpfer von Leben zu sein, „Master oft the Universe“, richtet sich zunehmend gegen den Menschen selbst, verselbständigt sich, ist nicht mehr steuerbar. Diese Erfahrung drückte sich schon in J.W. Goethes „Zauberlehrling“ (1798) aus: „Herr, die Not ist gross! Die ich rief, die Geister, werd‘ ich nun nicht los“. Was bei Goethe aber noch mit einem spöttischen Unterton bezüglich der Selbstüberschätzung eines „Lehrlings“ gemeint war, ist bei Dr. Frankenstein kollektiviert. Die Hybris befällt nicht nur einzelne Menschen, sondern es ist zu einem kollektiven Bestreben geworden, „Gott-zu-spielen“. Die Frankensteinmentalität findet sich nicht nur in einigen Forschungslabors grosser Konzerne oder einiger Hochschulinstitute, z.B. auch in Formen der Erzeugung genetisch modifizierter Organismen, Patenten auf Lebewesen, etc. Die Frankensteinmentalität ist, teils unbewusst, eine Denk- und Phantasieregion des homo occidentalis (der westlichen Menschen) geworden. Darauf weist auch die Faszination hin, die sich in den zahlreichen Adaptionen und Inszenierungen des Frankensteinmotivs auf der Bühne und im Film nach wie vor ganz intensiv äussert. Eine kleine literaturgeschichtliche Fussnote: Das Frankensteinmotiv beruht auf dem 1818 (anonym) veröffentlichten Roman von Mary Shelley, der Gattin des englischen Dichters Percy B. Shelley. Geschrieben wurde der Roman im Sommer 1816 in der Villa Diodati am Genfersee. 1816 war das „Jahr ohne Sommer“, verursacht durch die in die Atmosphäre geschleuderte Asche des Vulkans Tambora bei seinem Ausbruch 1815 (vgl. Grafik S. 4). Wochenlanger Regen verhinderte, dass die Bewohner der Villa Diodati das Haus verlassen konnten (wollten). Die Herrschaften, die unter diesen Umständen ihren gewohnten OutdoorZerstreuungen nicht nachgehen konnten (es steht zu befürchten, dass die Dienerschaft durch die misslichen Wetterverhältnisse nicht weniger, sondern sicher viel mehr und unter schwierigen Bedingungen beschäftigt war), vertrieben sich die Zeit mit der Erfindung / Erzählung von Schauergeschichten (u.a. auch von Dracula, Vampire), so entstand der „Doktor Frankenstein“. Kassandra, die trojanische Seherin, wurde von Apollon in die Kunst eingeführt, kommende Ereignisse vorher zu sagen. Da Kassandra das Begehren Apolls nicht erwiderte, verwandelte der gekränkte Apoll die weissagende Begabung in einen Fluch: Kassandras sachlich richtige, zutreffenden Voraussagen sollten von den Empfängern nicht ernst genommen werden. Berühmt ist u.a. ihre vergebliche Warnung vor dem hölzernen trojanischen Pferd. 6
Auch diese Weissagung erwies sich als zutreffend, wurde aber nicht gehört i.S. von ernstgenommen. Seither steht Kassandra (Kassandras Rufe) für nicht gehörte, nicht ernstgenommene Warnungen. Dieses Interaktionsmuster ist ebenfalls für unsere Epoche typisch. Die sich abzeichnenden klimatischen, politischen, wirtschaftlichen, kulturellen Katastrophen mit ihren Folgekatastrophen kommen nicht aus „heiterem Himmel“. Le système sait, es stehen uns alle notwendigen Informationen zur Verfügung, um die sich aufdrängenden Entscheidungen (Verlangsamung, Minderung, Verzichte, Alternativen entwickeln, nachhaltige und zukunftsfähige Investitionen, etc., etc.) zu treffen und umzusetzen. Aber es geschieht zu wenig, nicht konsequent genug, oder es wird getrickst. Stattdessen werden die „Kassandras“ und ihre Warnungen entwertet, ignoriert oder einfach bestritten. Mächtige – allerdings kurzsichtige – politische – wirtschaftliche Interessen verhindern, dass das schon längst Überfällige entschlossen getan wird. Aber auch hier gilt: die „Taubheit“ gegenüber den Warnungen, das Sich-verweigern, das Weiterwursteln „Business as usual“ ist nicht nur bei den „Anderen“, den sog. „Mächtigeren“ zu lokalisieren. Breite Schichten der Bevölkerung, weite Teile auch der kirchlichen Christenheit entwickeln Abwehr- und Verharmlosungsstrategien gegenüber den Veränderungen erheischenden Informationen (Zahlen, Entwicklungskurven, Interdependenzen, etc.). Empörender weise gibt es aber auch bei gewissen evangelikalen-fundamentalistischen Bewegungen eine pathologische „Lust am Untergang“. Kann denn die jesuanische Verheissung „Ich mache alles neu“ sich tatsächlich nur auf den Trümmern des Bisherigen erfüllen? Der biblische Prophet Ezechiel gehörte auch zu den Kassandrafiguren. Ich lese das Kassandramotiv besonders deutlich im 33. Kapitel, V. 1-20; und insbesondere in den Versen 7-9. „ 7 Und dich, Mensch, habe ich zum Wächter für das Haus Israel gemacht: du wirst ein Wort aus meinem Mund hören und sie vor mir warnen! 8 Wenn ich zum Ungerechten spreche: Ungerechter, du musst sterben!, und du hast nicht geredet, um einen Ungerechten vor seinem Weg zu warnen, so wird er als Ungerechter seiner Schuld wegen sterben, sein Blut aber fordere ich aus deiner Hand. 9 Hast du aber den Ungerechten vor seinem Weg gewarnt, damit er sich von ihm abkehrt, und er kehrt sich nicht ab von seinem Weg, so wird er seiner Schuld wegen sterben, du aber hat dein Leben gerettet.“ (NZB)
Die „Kassandras“ im biblischen Verständnis sind nicht nur tragische Figuren – weil nicht oder nicht genügend gehört – sondern sie sind verpflichtet zu warnen, zur Umkehr aufzufordern. Das ist u.a. die Aufgabe des Zeugnisses eines authentischen und zukunftsfähigen Lebensstils der Christen/Innen und der sog. öffentlichen Theologie. Titanic, Name eines Schiffes, steht für eine der grössten Seekatastrophen der Moderne. Das Schiff wurde 1912 als das grösste, sicherste (unsinkbare!) und komfortabelste Schiff gebaut und in Dienst genommen. Was auf dessen erster Fahrt am 14. April 1912 geschah, ist bekannt und gab Stoff für Darstellung und Analysen in Kunst, Literatur, Filmen. Die Titanic steht für die totale Technikgläubigkeit. Da das Schiff als so sicher galt, wurden zu wenig Rettungsboote und Schwimmwesten an Bord gebracht. Der Prestigedruck und wirtschaftliche Überlegungen führten dazu, dass eine risikoreiche Seeroute gewählt und die zahlreichen Eiswarnungen ignoriert wurden; auch war die Besatzung bzgl. des Verhaltens in Katastrophensituationen nicht ausreichend geschult. Die Matrosen im Ausguck waren auch nicht mit Ferngläsern ausgestattet. Und wie immer in solchen Fällen gab es nach dem Eintritt der technisch scheinbar „gar nicht möglichen Katastrophe“ gegenseitige Schuldzuweisungen; die wirklich Verantwortlichen wurden entweder nie zur juristischen Rechenschaft gezogen oder freigesprochen oder starben in den Fluten. Der „Fall Titanic“ kann als abgeschlossen betrachtet werden. Was aber bleibt und sich noch verstärkt hat, ist die „blinde“ Technikgläubigkeit. Auch wir fahren auf ganz verschiedenen Schiffen, die aber alle, symbolisch gesprochen, der „Titanic-Klasse“ angehören. Die durch 7
die Technik allenfalls geschaffenen Probleme werden ganz sicher durch neue, bessere, sicherere Technologien gelöst – so das Credo. Wer’s glaubt, wird sicher nicht selig – wer’s nicht glaubt, erhöht seine Überlebenschancen. Nur, es geht eben nicht um individuelle Schicksale, sondern um die Zukunftsfähigkeit von Kulturen und Zivilisationen. Und: was oft vergessen wird: um Leben und Lebensraum von Tieren und Pflanzen.
C Das Projekt Aufklärung – nicht abgeschlossen Aufklärung ist zunächst der Name für eine Epoche des 18. Jahrhunderts (frz. Siècle de lumières, engl. Enlightenment). Namensgebend war die epochale geistige Strömung, die erfahrungsbasiertes Wissen und Kritik verband, fussend auf Vernunft und Überwindung von Vorurteilen. Aussagen, Begründungen sollen „claire et distincte“ (klar und deutlich unterschieden) gemacht werden. Das war nicht nur das Programm von René Descartes (15961650), sondern der ganzen Aufklärung. Die in der Aufklärung immer vorhandene Kritik wandte sich grundsätzlich gegen den allgemeinen Obskurantismus, Aberglaube und das magische Denken. Im Besonderen jedoch gegen die Deutungshoheit kirchlicher Lehren, Lehrämter, welche oft ein asylum ignorantiae (Zufluchtsstätte der Unwissenheit) darstellten. D.h. man weigert sich, weiter nachzudenken, obwohl der jeweils erreichte Wissensstand sich als unzulänglich erwies. Dieses Aufhören, zu fragen und zu forschen, d.h. nach plausiblen Antworten zu suchen, obwohl durchaus Zweifel an dem Behaupteten und Geplauderten spürbar sind, kann verschiedene Gründe haben. „Denkfaulheit“, Angst vor dem Verlust von „Sicherheiten“ und sog. „Selbstverständlichkeiten“, Konservatismus, Machterhalt, usw. Aufklärung war und ist Kampf gegen Widerstand. Kirche und Staat im 17. und 18. Jahrhundert bekämpften und diskreditierten die Aufklärung. „Aufkläricht“ (= Verbindung von Aufklärung und Kehricht, Abfall) war ein Schimpfwort, welches der Historiker Heinrich Leo in der Evangelischen Kirchenzeitung (1840) gegen die Bestrebungen der Aufklärung verwendete. Dritter Hauptadressat der Kritik durch die Aufklärung war der quasi totale Machtanspruch des Staates und der monarchistischen Regierungen. Heute ist es nicht nur der Staat, der absolutistische Ansprüche haben kann, sondern v.a. die überstaatlichen Konzerne und Institutionen der „Big science“. (vgl. S. 10 u.) Durchgesetzt hat sich dann aber mehrheitlich nicht das Reaktionäre, sondern das Aufklärerische. Und auch heute noch ist die Spätschrift von Immanuel Kant „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ von 1785 (Werke, Bd. VI, S. 53-61) von grosser Bedeutung. Denn die Frage stellt sich: sind wir immer noch aufgeklärt? Wirklich? Wo liegen heute die selbstverständliche, nicht hinterfragte Deutungsmacht und die faktische Machtkonzentration? Auf welchen Mythen und Vorurteilen beruht das, was wir heute als „Wahrheit“, „Werte“, „Gewissheiten“ bezeichnen? Aufklärung dekonstruiert die selbstverständlichen Diskurse und Legitimierungen des Bestehenden. Zeigt auf, klar und deutlich, was in der jeweiligen Diskussion ausgeblendet wird, fehlt, verzerrt oder schlicht falsch ist.
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So gehen wir beispielsweise davon aus, dass wir in einer Demokratie leben, in der die grundlegenden politischen Entscheidungen durch den Souverän, d.h. das Volk, von dem alle Macht ausgeht, getroffen werden. Wie sehen aber die realen Machtverhältnisse aus? Wie verhält es sich mit den undurchschaubaren, dominanten Globalen Playern, die sich an den Staaten vorbei ihre „günstigen RahmenbeDeutungsmacht – Deutungshoheit dingungen“ schaffen? Man nennt dies KontextDie Übermächtigkeit, Kontingenz und steuerung. Was hat es tatsächlich auf sich mit Komplexität der Welt und des Lebens den zahlreichen verführerischen Angeboten ganz allgemein und die je real existie- von „Lebensverbesserung“, „Selbstoptimierenden gesellschaftlichen Zustände rung“ unter den Begriffen wie „Freiheit“ – werden von den Menschen als „Selbstbestimmung“ (Autonomie) – Kommuni„Schicksal“, Zwang oder gar als Gewalt kation? Was bedeutet Lebensqualität wirklich erlebt. Das kann zur Lehre der eigenen und für wen ist es primär ein riesiges Geschäft? Ohnmacht und/oder Erfahrung der Wie überzeugend und zutreffend ist die Annah„Sinnlosigkeit“ führen. Auf solchen Em- me, dass nur säkulare Gesellschaften demokrapfindungen lässt sich aber keine Ge- tische Gesellschaften sein können? (vgl. J. Casellschaft aufbauen und die notwen- sanova, 2015, 3. A.). digen Motivationspotenziale entwickAufklärung heute – und das bedeutet Arbeit und eln. Übermächtigkeit, Zwang, Gewalt müs- gegen Widerstand – besteht u.a. darin, die sen deshalb vermittelt werden, damit Machtpotenziale und die Deutungsperspektiven sich nicht Resignation (Demotivation), zu erkennen und zu kritisieren, die in den Depression, Anarchie und Gegenge- gängigen Begriffen wie z.B. Globalisierung, walt ausbreiten. Diese notwendige Ver- Wirtschaft, Markt, Wachstum, Autonomie, mittlung geschieht durch die Religion, Flexibilität, Freiheit, Sicherheit, etc., etc. zum Wissenschaft, Politik, etc. mit ihren In- Tragen kommen. Auch: was meint die faschistitutionen, Medien und Diskursen. Sie stophile Überhöhung und Instrumentalisierung deuten (interpretieren) die Verhältnisse, des Volkes bzw. Volkswillen (vgl. auch Kasten). legitimieren sie und bauen Motivations- Welche kaschierten Interessen werden da potenziale (z.B. Kooperation, Sinnhaft- bedient – und auf Kosten von wem oder was? igkeit, Engagement) auf. Wie diese Deutungen geschehen, durch wen sie mit welcher Akzeptanz erfolgen und wie sich die Deutungsinstanzen mit ihren D Der Schleier der Ethik Deutungsangeboten konkurrenzieren, das sind sehr komplexe Fragen. Aus Ethik hat Hochkonjunktur! Sowohl im den zahlreichen Prozessen der Entste- akademischen Betrieb als auch in der hung von Deutungsmacht sei hier auf Wissenschaft, Politik, Wirtschaft, usw. ist die Frage“ angekommen. Ethiknur einen, ganz grundlegenden hinzu- „ethische weisen. Friedrich Nietzsche (1844- Kommissionen wurden eingerichtet, Codes of 1900) hat auf ihn aufmerksam gemacht. conduct vereinbart, grosse Firmen und Es ist ein sprachliches Phänomen; d.h. Konzerne verpflichten ihre Mitarbeitenden auf etwas benennen, einen Namen, einen die Einhaltung ethischer Standards; Agenturen Begriff geben. Etwas benennen (kön- entstanden, welche andere Organisationen auf nen) ist ein grosses Machtpotenzial. der Basis entsprechender Audits als ethisch Jede Definition ist jedoch eine Interpre- zertifizieren. Ethik wurde zum Geschäft, zum tation – aus einer bestimmten Perspek- Konkurrenzvorteil, zur Bürokratie und zu einem tive, einem bestimmten Interesse. Und grossen Feld professioneller Aktivitäten und jede akzeptierte oder sich durchgesetzt Aktionen. Man könnte auch sagen: die Ethik habende Definition hat etwas Aus- wird delegiert an Experten/Innen. Das hat etwas Entlastendes, man kann sich beruhigt halten. schliessendes.
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Als was etwas gilt (durch Definition) das ist es. Interpretation, Deutung, Definition ist „ein Mittel selbst, um Herr über etwas zu werden“ (vgl. Nachgelassene Fragmente 1885-1887, KSA, Bd. 12, S. 130-141).
Aufklärung will jedoch das Selber-Denken und nicht das delegierte Denken. Die Sensibilisierung für moralisch-ethische Aspekte des Handelns und Nicht-Handelns in „allen“ Lebensbereichen ist notwendig und ein Fortschritt, sie weitet die Wahrnehmung, unter der individu-
individuelles und kollektives Handeln und Nicht-Handeln beurteilt werden. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – befinden wir uns in einer Situation, in der „die Ethik die Ethik lähmt“ wie Mark Hunyadi (2015, S. 8ff.) ausführt. Er illustriert dies an drei Beispielen: Der wachsende Einfluss der Roboter auf unsere Lebenswelt, weil der Einsatz von Robotern in zunehmendem Mass in (fast) allen Lebensbereichen geschieht. Roboter wurden ursprünglich entwickelt, um sehr gefährliche, unangenehme oder hoch repetitive Tätigkeiten nicht mehr durch Menschen, sondern durch Automaten ausführen zu lassen. Durch die Entwicklung der einschlägigen Technologien wurde und wird der Einsatz von Robotern (mechanische, automatisierte, interaktiv programmierte Systeme) in immer wieteren, auch hoch sensiblen Lebensbereichen vorangetrieben. Lehren und Lernen, Personalselektion, Börsenhandel, Kunden- bzw. Publikumsverkehr von Firmen bzw. Verwaltungen sind computerisiert. Dadurch werden auch Personalkosten eingespart. Ca. 30% der durch Menschen ausgeführten Tätigkeiten werden bald durch Roboterisierung erledigt. Ein Thema des WEF 2016 in Davos war die Bedrohung des sog. Mittelstandes durch diese Entwicklungen, die sog. 4. Industrielle Revolution. Gegenwärtig wird an Robotern gearbeitet, die mit einem hohen und differenzierten Sprachvermögen ausgestattet sind. Ernsthaft wird erwogen, Roboter einzusetzen für die Erziehung (mindestens Betreuung) von Kindern, Betreuung von Patienten bzw. Betagten und zur therapeutischen Behandlung von psychisch kranken Menschen. Das Paradox: jeder einzelne Schritt in der Produktion von Robotern ist Gegenstand ethischer Diskussionen (inkl. der sog. political correctness). Die Frage jedoch, ob es gut für Menschen sei, zunehmend dem Einfluss von Robotern ausgesetzt zu sein, ob in bestimmten Bereichen Menschen durch Roboter ersetzt werden sollen, diese grundsätzliche Debatte wird nicht geführt. Technischer Fortschritt kommt selten als spektakulärer Durchbruch. Schritt-für-SchrittEntwicklung ist der häufigste Entwicklungsmodus. Am „Schluss“ ist es aber so, dass das, was technisch möglich ist, auch tatsächlich zur Anwendung kommt, Praxis wird. Wollen wir das wirklich und wissen wir, was die Konsequenzen sind? Haben wir darauf eine plausible Antwort? Die grundlegende ethische Debatte hat nicht stattgefunden. Die Finanzierung der Forschung. Immer häufiger werden Institutionen und Fachexperten/innen der Ethik angefragt, sich bezüglich der ethischen Vertretbarkeit von bestimmten Forschungs- bzw. Entwicklungsprojekten gutachtlich zu äussern. Auch das ein grundsätzlich positiver Vorgang, wenn er auch die Tendenz fördert, ethische Entscheidungen zu delegieren: an dafür zuständige Fachleute. Das ist eine nicht unerhebliche, aber auch gefährliche Entlastung von der Anstrengung, sich ein eigenes ethisches Urteil zu bilden. Auch wenn es sich um teilweise millionenschwere Investitionen in Forschung und Entwicklung handelt (vgl. big science, big business) sind das sog. peanuts verglichen mit den ca. 50 Milliarden Euro schweren Investitionen im Rahmen der Entwicklungs- und Forschungsprogramme der Europäischen Union, z.B. für die Periode 2007-2013. Es ist klar, dass die Attribution dieser Milliardeninvestitionen die tatsächlichen Forschungs- und Entwicklungsprogramme (auf nationaler, sektorieller oder Firmenebene) direkt beeinflussen werden. Es sind ja „Europäische Rahmenprogramme“. Selbstverständlich geschieht ein enormer Aufwand an Validierung (v.a. wissenschaftlicher Natur) der Schwerpunkte dieser Forschungs- und Entwicklungsprogramme eines 7-Jahre-Zyklus. Was aber aussen vorbleibt, ist die demokratische Legitimierung, die 10
politische, citoyenbezogene Erwünschbarkeit und evtl. Folgen dieser enormen Rahmenbedingungen und damit faktischer Zielsetzungen. Die Grundlagenforschung und die ganz grossen Forschungsprojekte bestimmen fast unwiderruflich unsere Lebensbedingungen von morgen. Auch hier: die grundlegenden politischen und ethischen Debatten finden nicht statt. Die Mechanismen der Entscheidungsfindung haben das nicht vorgesehen. Das prinzipielle Vorbeugen. Ein bekanntes Sprichwort sagt „vorbeugen ist besser als heilen“. Das hat in der Tat sehr viel für sich. Und je mehr wir wissen über Ursachen und Kontexte, Verstärker und Bremser von Erkrankungen, Unfällen, Problemlagen (auch psycho-sozialer Natur) usw., umso sinnvoller ist es auch prophylaktisch (vorbeugend) zu wirken. Und so kann bezüglich vieler psycho-somatisch-sozialer Problemlagen von primärer, sekundärer und tertiärer Prophylaxe gesprochen und auch gehandelt werden. Was auf der Basis gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse und Erfahrungen bezüglich konkreter Probleme in spezifischen Kontexten gezielt vorbeugend getan wird, ist in der Regel wirkungsvoll und sinnvoll. Etwas Anderes – und problematisches – ist, aus dem Vorbeugen ein generelles Prinzip zu machen. Wieder werden nicht die grundlegenden Fragen gestellt bezüglich Sinn, Erfordernis, Wünschbarkeit, Konsequenzen von gesellschaftlich-wissenschaftlich-technischen Entwicklungen, sondern im Mittelpunkt steht das Risiko. Ein Risiko definiert sich ganz allgemein durch die Eintretenswahrscheinlichkeit (in einer Zeitgrösse) und der Schadensschwere der Konsequenzen. Und damit beginnen die Debatten und die Frage nach dem sog. Restrisiko, welches unvermeidbar oder noch zumutbar (wer mutet wem was zu?) sei. Und: wer trägt wirklich und in welcher Form das Risiko (vgl. Grafik S. 3)? Das Prinzip Vorbeugen hat tendenziell die Wirkung einer Lizenz (Erlaubnis): sind die Risiken (wer definiert diese?) einer Entwicklung technisch-statistisch unter einem kritischen Punkt (wer definiert diesen?), so ist diese Entwicklung akzeptabel. Unbedenklich? Eine andere Folge des Prinzips Vorbeugung betrifft die Frage „wer ist für die Prophylaxe (die Vorbeugung, Vorsicht) verantwortlich?“ Der Trend geht in Richtung einer immer grösseren Verlagerung der diesbezüglichen Verantwortung zur sog. Selbstverantwortung (mit Kostenfolge!), also der Individuen. Das kann sehr gut aufgezeigt werden in den Bereichen Ernährung – Gesundheit. Die Kritik an der zunehmenden Überbürdung der Verantwortung auf die Individuen, die angebotsseitig allerdings oft keine valable Wahl haben, wird mit der Gegenkritik beantwortet, man plädiere für einen paternalistischen, bevormundenden Staat. Eine ernst zu nehmende Ethik, die nach einer Formulierung von Gernot Böhme (1997, S. 17 ff.) den beiden Fragen „Was für ein Mensch bin ich?“ und „Was ist das für eine Gesellschaft, in der wir leben?“ nachgeht, muss bereit sein „alles Bestehende einer radikalen Kritik zu unterziehen“ (so K. Marx in einem Brief von Sept. 1843 an Arnold Ruge, zit. in MEW, 1, S. 344). Das ist die Grundlage der Aufklärung (s.o.). Die Hochkonjunktur der Ethik in der gegenwärtigen westlichen Kultur steht in der Gefahr einer „ethischen Neutralisierung der Welt“ (M. Hunyadi, 2015, S. 33), eines „Reinwaschens des Systems und des sich Zurückziehens von der Welt“ (a.a.O. S. 24) in ihrer tatsächlichen Funktionsweise, ihrem tatsächlichen Leiden und in ihren empörenden Zuständen. Die öffentliche, allgemeine, akzeptanzfähige und sehr geförderte Ethikdebatte kann nur eine eingeschränkte Ethik sein (a.a.O., S. 29), was M. Hunyadi die „kleine Ethik“ nennt (S. 70/71). Dies hängt u.a. mit einer seit John Locke (1632-1704) überaus wirkungsmächtigen Unterscheidung zusammen, nämlich die zwischen Öffentlichkeit (Staat, Gesellschaft) und Privatheit. Das Verständnis, was Öffentlichkeit und was Privatheit ist, ist kulturell bedingt und veränderte sich im Laufe der Geschichte, heute insbesondere durch die sog. digitale Revolution. Eine gesellschaftlich-staatliche Zentralaufgabe ist, die Privatheit zu respektieren, zu schützen und zu fördern. Das wirksamste Mittel dazu ist das Recht, die Gesetze, 11
welche v.a. die Gerechtigkeit garantieren soll. Religion, Weltanschauung, Lebensstil, Wirtschaft gehören dieser Unterscheidung zufolge in den Bereich der Privatheit. Der Schutz der Privatheit aller erfordert deshalb auch, dass Elemente der Privatheit nicht Teil der Öffentlichkeit (und damit der allgemeinen Verbindlichkeit) werden. Nun sind Gerechtigkeit (Gleichheit) ganz sicher unverzichtbare Prinzipien einer freien Gesellschaft. Aber wie Axel Honneth sehr richtig darauf hinweist, können Gesellschaften auf verschiedene Arten und aus verschiedenen Ursachen heraus normativ scheitern; nicht nur aus Gründen der Ungerechtigkeit. Diese Unterscheidung, ja Trennung von Öffentlich – Privat, steht aber seit längerem in Gefahr, zu einer Lizenz zu werden, mittels derer mächtige private Interessen (z.B. der Wirtschaft) zum faktischen Zwang für die Vielen wird. Die grundlegende politische, ethische Debatte bleibt also die Frage: „Was ist ein gutes Leben in einer guten Gesellschaft?“ Und das impliziert immer auch die Frage: für wen? – für wen nicht oder viel weniger? Diese Debatten müssen geführt werden in „herrschaftsfreien Diskursen“ (Jürgen Habermas). Vor dieser Debatte haben wir ihres durchaus möglichen Ideologiegehalts wegen Angst. Und einflussreiche Kreise haben kein Interesse daran, dass diese Debatte ernstlich geführt wird. Und immer ist aber auch darauf hinzuweisen, dass es für die Menschen kein stabiles gutes Leben in einer stabilen guten zukunftsfähigen Gesellschaft geben kann, wenn es für die Mitgeschöpfe, die Natur kein „gutes“, d.h. den evolutiven Gesetzen entsprechendes Leben geben kann.
E Die Rolle der Religion Die Religion hatte immer auch einen schlechten Ruf. Verdientermassen. Denn sie ist voller Widersprüche, Ambivalenzen und kann in den Dienst von fast allem gestellt werden. Nur ist es so, dass, so wie wir die Schöpfung erleben, die Schöpfung selbst hoch ambivalent ist. Das Leben an sich, die Lebensäusserungen wie z.B. Kultur, Wissenschaft, die Zivilisation und auch die vitalen Lebensäusserungen wie z.B. die Sexualität, das Aktivsein, die Imagination usw. sind zutiefst ambivalent. So auch die Religion. Heute sind wir stark herausgefordert durch eine starke Politisierung der Religion. Zu beobachten ist dies (und medial im Fokus) am Beispiel des Islam. Die Politisierung der Religion findet aber auch statt z.B. im russisch-orthodoxen Fundamentalismus, in dessen Wahrnehmung (Deutung) der Westen, sprich Protestantismus, das Christentum verworfen hat. Oder in den Spielarten des evangelikalen Fundamentalismus US-Amerikanischer Prägung. Vorsicht ist geboten! Die Sache ist komplex! Nicht alles, was als religiöser Konflikt inszeniert wird, ist genuin religiös, sondern kaschiert oft sozio-ökonomische und politische Ungerechtigkeiten. Ausserdem: es widerspricht dem Selbstverständnis von Religion, wenn man sie ausschliesslich als Privatsache akzeptiert. Trotzdem: die (jede) Religion muss sich Verschiedenes fragen lassen! Auf der anderen Seite reicht die Religion in Tiefen unserer Person und unseres Menschseins und kann dort nachweislich eine gestalterische und veränderungsorientierte Kraft entfalten, wie dies andere Motivationen und Überzeugungssysteme nicht im gleichen Ausmass ermöglichen. Religion in ihren Traditionen (Texten, Lehren), Riten, Symbolen, Praktiken hat massgeblich auch das Thema: Der Platz des Menschen in der Welt. (Vgl. z.B. die kurze Übersicht bzgl. der sechs grössten Religionen zum Thema „Umweltschutz“ in der Zeitschrift „Aufbruch“ Nr. 217, 2015, S. 27-29). Die „Wege aus der Gefahr“ (Horst Eppeler) müssen mehr sein und bieten als technologische Verbesserungen oder gesetzgeberische Aktivitäten (Auflagen, Verbote) – so wichtig und unverzichtbar diese auch sind. Die Einordnung des Menschen als Geschöpf in die Schöpfung braucht die spirituelle Dimension. Die Religion in Gestalt der vielen historisch 12
gewachsenen Religionen hat einen reichen Erfahrungsschatz bzgl. der Spiritualität, der, und das ist schon ein Brückenschlag zur z.B. energetischen Problemstellung, erneuerbar ist. Erneuerung als Begriff und als Prozess enthält zwei wesentliche Elemente. Einmal ist da die Bezugnahme auf etwas, das schon da, vorhanden ist, existiert und erneuert werden soll bzw. kann. Was auch eine Form der Anerkennung ist. Eine Erneuerung ist aber mehr als eine Fortsetzung, eine Verlängerung. Sie enthält etwas „Neues“, also eine Weiterentwicklung, Veränderung. Oder eine Wiederherstellung. Das ist z.B. auch das Anliegen der jüdischen Tradition der Tikkun Ha Olām (Wiederherstellung der Welt). Insbesondere die jüdische und die christliche Religion gehen davon aus, dass der Mensch sich immer wieder erneuern muss und dies auch kann (vgl. z.B. Rö. 12, V. 2). Die Erneuerung des Sinnes (anakainōsei toū noòs) führt zu anderen Wahrnehmungen und v.a. Beurteilungen (dokimazō) und daraus folgt ein anderes bzw. erneuertes Handeln bzw. Verhalten
C. D. Eck/5. März 2016
Der homo sapiens sapiens steht an einem Scheideweg. Und die Zeit drängt. Der Mensch ist wohl unterscheidbar (differenzierbar), aber nicht trennbar von der Natur (Erde) und dem Kosmos. Über weite Strecken war/ist das Verhältnis von Mensch und Umwelt ein konfrontatives und ausbeuterisches – auf die Länge für den Menschen als Natur ein selbstausbeuterisches, letztlich selbstvernichtendes Verhältnis. Die notwendige Erneuerung muss das Verhältnis gänzlich neu bestimmen und artikulieren. Es geht darum, den „Geist zu pflegen, die Erde zu heilen“ (Michel Maxime Egger: Soigner l’esprit, guérir la terre“, 2015). 13
In der Geschichte der judeo-christlichen Spiritualität hat es immer auch avant la lettre eine ökologische Spur gegeben. Z.B. viele Vorschriften der Tora – der Kabbalist Rattak (15221570) – Rabbi Israel ben Eliezer (1698-1760) – Hildegard von Bingen (1098-1179) – Franz von Assisi (1181-1226) – und viele andere. Nicht weiter erstaunlich zeigt sich auch eine offensichtliche Affinität von ökologischer Spiritualität und Mystik. In der Ökologie und in der Mystik geht es letztlich um die Verbundenheit von allem mit allem, um die All-Einheit, um das Ganze, um das Aufzeigen von Zusammenhängen. Und damit auch um die Zusammenhänge von Lokalem – Globalem, von Punktuellem – Allgemeinen. Auch Enzykliken haben es schwer… 1891 veröffentlichte Papst Leo XIII die Enzyklika Rerum novarum (die neuen Dinge). Darin wurde die miserable Lage der Industriearbeiter kritisiert. Heute gilt Rerum novarum als die moralische Grundlegung der Soziallehre der römisch-katholischen Kirche. Damals löste diese Enzyklika bei den Katholiken, die finanziell vom Fabriksystem abhängig waren, starken Widerstand aus. 1963, mitten im Kalten Krieg, erschien die Enzyklika Pacem in terris (über den Frieden auf Erden), in der Papst Johannes XIII klarstellte, dass „Konflikte nicht durch Waffengewalt, sondern durch Verträge und Verhandlungen beizulegen“ seien. Und es demzufolge auch keinen „gerechten Krieg“ geben könne. Diese Enzyklika wurde zwar freundlich aufgenommen, beflügelte die Diskussion um die Menschenrechte, und ein jährlicher Pacem-in-terris-Preis wurde 1964 gestiftet. Fakt ist aber auch, dass seit 1965 58 grössere Kriege und militärische Interventionen stattfanden. Mit Millionen von Toten, Verletzten, Flüchtlingen; mit wirtschaftlichen Katastrophen und zerstörten Landstrichen. 2015 veröffentlichte Papst Franziskus die Enzyklika „Laudato si“ (Gelobt seist Du) nicht auf Lateinisch wie sonst die Enzykliken, sondern in einem gut verständlichen Alltagsitalienisch. Zu dieser „ganzheitlichen Ökologie und Spiritualität“ vergleiche unten.
Wichtig ist, dass die ökologisch-spirituelle Dimension nicht konzentriert bleibt auf den Bereich des Privaten oder „interessierter Kreise“ (Konventikel), sondern „öffentlich“ wird. Dazu kann wesentlich beitragen die sog. Öffentliche Theologie. Was heisst das? Theologie als Wissenschaft ist wie jede Wissenschaft grundsätzlich öffentlich. Öffentliche Theologie im speziellen Sinne ist eine Theologie, welche sich mit den offensichtlichen und den verborgenen Antrieben, Hoffnungen, Strukturen, Methoden und Praktiken, welche die gegenwärtige Gesellschaft bestimmen, auseinandersetzt. Und dabei das Übersehene sichtbar macht und das Beschwiegene zum Sprechen bringt. Diese Auseinandersetzung erfordert, um wirkungsvoll zu sein, eine genaue Kenntnis der Debatten und ihrer Traditionen in den jeweiligen Themen – oder Problembereichen. Die eigene Sichtweise verständlich zu machen, gelingt nur denen, welche die Sichtweisen und Argumentationen der Anderen genau kennen und präzise verstehen. Wer öffentliche Theologie betreibt, muss wissen, dass es bei den zu problematisierenden Themen nie nur um erkenntnisorientierte Fragen und Prozesse geht, sondern ganz wesentlich um strategisches Handeln, also um Interessen und Macht. Es könnte also sehr wohl sein, dass die einen so grossen Widerhall findende Enzyklika des Papst Franziskus „Laudato si“ mit ihrem Bestehen auf dem kritisch zu beurteilenden „dreifachen Saldo“ (Profit – soziale Gerechtigkeit – ökologische Nachhaltigkeit) auch von christlichen Kapitalisten, die entweder Teil der neoliberalen Finanzwirtschaft sind oder abhängig vom fossilen Industriekomplex, schlecht geredet wird – was auch bereits geschieht.
Dem gegenüber braucht es die zwanglose Macht des besseren Arguments und der besseren Praxis. Insofern und bei allem Augenmass ist die heutige TiG-Veranstaltung auch eine kleine Form „öffentlicher Theologie“.
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F Wir haben nur ein Haus. Darin müssen wir zusammenleben: Convivere: alle mit allen. Der Mensch kann über seine Geburt nicht entscheiden. Ungefragt findet sich der Mensch zu einem bestimmten Zeitpunkt, an einem bestimmten Ort, in seinem Körper vor. Dieses Da-sein-müssen nennt M. Heidegger die Geworfenheit (z.B. in „Sein und Zeit“, S. 39). Und lange bevor der Mensch zu seinem eigenen Entwurf des Lebens kommen kann, haben die Zufälligkeiten der Geburt und ihrer Umstände schon Entwürfe des Lebens bereit: geschlechtsspezifische, kulturelle, sozio-ökonomische, usw. Auch diese stehen nicht zur Auswahl, sondern bilden die Hinterbühne, vor der, auf der Vorderbühne, das jeweilige Leben abläuft. Es ist deshalb nicht überraschend, dass da eine grosse Hoffnung und ein tiefer Wunsch sich artikuliert: dass das Leben gelingen möge. Verbunden mit vielen Ritualen, Symbolen, Segenssprüchen oder auch nur den sog. „guten Wünschen“ artikulieren wir den Wunsch, dass das Leben gelingen möge! Gelingen kann Leben aber nur auf der Grundlage von Leben, d.h. dass es (noch) Leben gibt. Hoffnung und Wunsch, dass das Leben gelingen möge, hat als conditio sine qua non, dass das Leben nicht durch sog. Naturkatastrophen – Krieg – Gewalt – Hunger – tödliche Viren – tödliche Gifte vernichtet/zerstört wird. Wir wissen, dass diese conditio sine qua non für Millionen von Menschen nicht oder sehr eingeschränkt gegeben ist. Leben kann nur als Zusammenleben gelingen, denn Leben ist immer gemeinsames Leben. Das gemeinsame Leben beschränkt sich nicht auf den homo sapiens sapiens. Alle Lebewesen haben nur einen Lebensraum: die Erde. Ob als die mythologische Grosse Mutter Gaia, als Raumschiff Erde oder als „Himmel und Erde“, von denen die monotheistischen Religionen sagen, dass „Gott sie geschaffen hat“, die subluneare Welt ist der Lebensraum aller species. Migrationen können nur innerhalb des Lebensraums Erde stattfinden. Interstellare Migration ist nicht möglich. Aber selbst wenn sie einmal möglich wäre – würden wir sie wollen können? Wir wissen, dass das Zusammenleben in dem gemeinsamen Lebensraum Erde weitgehend misslingt. „Wir müssen heut den Versuch unternehmen, zu verwirklichen, was seit Beginn der Menschheitsgeschichte angestrebt wurde: eine dauerhafte, sowohl ethische, ökonomische, ökologische wie politische Grundlage des gemeinsamen Lebens. Eine Grundlage, die noch nie wirklich gefunden oder aber allzu oft vergessen wurde. Gesuch wird sie unter Berufung auf das Heilige, sowohl in den ursprünglichen Religionen als auch in den grossen Weltreligionen oder den Quasi-Religionen: Taoismus, Hinduismus, Buddhismus, Konfuzianismus, Judentum, Christentum, Islam. Gesucht wird sich auch unter Berufung auf die Vernunft in allen grossen Philosophien oder in den weltlichen und humanistischen Morallehren. Und gesucht wird sie schliesslich unter Berufung auf die Freiheit in den grossen politischen Ideologien der Moderne: Liberalismus, Sozialismus, Kommunismus oder Anarchismus.“ (Das konvivalistische Manifest, 2014, S. 49).
Alle diese Ideologien, aber auch die Vernunft (Philosophie und Moralen) und auch die Religionen haben ihre Versprechen nicht erfüllen können. Unübersehbar sind die Blutspur, das Leiden und der Schmerz, welche alle diese Wege begleiteten. Trotzdem sind sie nicht zu verabschieden, aufzugeben. Alle diese vielfältigen und sehr unterschiedlichen Traditionen enthalten auch grosse Schätze an Erkenntnis und Praktiken, die es zu „reinigen“, weiter zu entwickeln gilt und durch andere neue Paradigmen (z.B. den feministischen Lebens- und Weltbezug) anzureichern. Und auch: „Denn es ist nicht dasselbe, zu erlernen, mit einigen wenigen Menschen in Anerkennung von Gemeinsamkeiten und nicht-zerstörerischen Unterschieden zusammen zu leben oder dieses von Tausenden von Millionen Menschen zu erwarten.“ (a.a.O. S. 49) „Dazu aber bedarf es dringend einer minimalen Doktrin, die von allen geteilt werden kann und die es ermöglicht, auf mindestens vier, für den ganzen Planeten geltende Grundfragen zu antworten: 15
Die moralische Frage: Was dürfen die Individuen erhoffen und was müssen sie sich untersagen?
Die politische Frage: Welche Gemeinschaften sind politisch legitim?
Die ökologische Frage: Was dürfen wir der Natur entnehmen und was müssen wir ihr zurückgeben?
Die ökonomische Frage: Wie viel Reichtum dürfen wir produzieren und auf welche Weise, um in Einklang mit den Antworten zu bleiben, die auf die moralische, politische, und ökologische Frage gegeben wurden?
Jedem steht es frei, diesen vier Fragen eine weitere hinzuzufügen, nämlich die nach dem Verhältnis zum Übernatürlichen oder Unsichtbaren; die religiöse oder spirituelle Frage. (a.a.O., S. 50/51)
Die Frage dieser Veranstaltung TiG „Was ist unsere Bestimmung in der Schöpfung“ (jenseits von „Krone“ und jenseits von „Krankheit“) muss in fünf sich wechselseitig beeinflussenden Dimensionen gesucht werden:
Das moralische Gebotene bzw. zu Meidende nicht nur in der Eigenperspektive, sondern immer auch im Angesicht des Anderen (z.B. des Fremden).
Legitimation staatlichen bzw. institutionellen Handelns (Politik) durch das Recht, welches in der Anerkennung der Würde jedes Menschen seine Grundlage hat.
Der Mensch ist vollständig Teil der Natur; diese Basis kann er nicht verlassen und daraus kann keine Sonderstellung abgeleitet werden, die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und ein absolutistisches Herrschaftsverhältnis gegenüber Tieren impliziert. Der Mensch kann die Schöpfung nicht bewahren, aber er kann aufhören, die belebte Welt in den Kollaps und Ruin zu treiben.
Da die „Grenzen des (materiellen) Wachstums“ erreicht und teilweise schon massiv überschritten sind, benötigt es neue Kriterien eines lebensdienlichen Wirtschaftens. Lebensdienlich nicht nur für die „happy fews“, sondern für alle Menschen (und die Natur). Überwindung der von der Bibel, den Vorsokratikern, von Platon heftig kritisierten Grundhaltung der pleonexia (Mehr-Haben-Wollen), welche die Basis aller Masslosigkeit ist. Zwangsfrei ist eine solche periagôgê (Umwendung, „Bekehrung“) aus psychologischer Sicht nur, wenn das Aufzugebende durch etwas Besseres, Erfüllenderes, Sinnvolleres abgelöst wird.
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Zulassen von Erfahrungen der Transzendenz ohne daraus einen Absolutheitsanspruch abzuleiten. Das Zulassen von Transzendenz – und sei es v.a. als „offene Frage“ – korrigiert die reduktionistische Tendenz (v.a. der Naturwissenschaften) des „nichtsanderes-als …“.
Diese hoch komplexen Dimensionen sind zu konkretisieren und konkrete Fragen, Probleme und Lösungsansätze. „Endgültige“ Antworten (Lösungen) sind dabei aber nicht zu erwarten. René Descartes (1596-1650) hat völlig recht mit seiner Feststellung, dass es nur eine morale du provisoire geben könne. Gemeint ist damit nicht eine beliebige, unverbindliche Moral, sondern eine lebensdienliche Moral, die lebendig werden und bleiben muss. Im dritten Teil seines „Discours de la méthode“ (1637), eines der philosophiegeschichtlich einflussreichsten Werke, formulierte Descartes vier Maximen der „Provisorischen Moral“ (S. 140-146 in der Pléiade-Ausgabe, S. 41-55 der deutschen Ausgabe: Meiner). Er verwendet dabei die Metapher des Hausbaus. Das Haus ist noch nicht fertig gebaut oder wird umgebaut. Trotzdem sollte man in ihm gut wohnen können. Deshalb: eine provisorische Moral. Die vier Maximen bei R. Descartes sind ebenfalls „provisorisch“. Angesichts der Herausforderungen, denen sich unser „Haus Welt“ Heute und in Zukunft ausgesetzt sieht, braucht es andere Prinzipien (Maximen). Z.B. die folgenden: „Allgemeine Überlegungen Die einzige legitime Politik ist diejenige, die sich auf das Prinzip einer gemeinsamen Menschheit, einer gemeinsamen Sozialität, der Individuation und der Konfliktbeherrschung beruft. Prinzip der gemeinsamen Menschheit: Unabhängig von den Unterschieden der Hautfarbe, der Nationalität, der Sprache, der Kultur, der Religion oder des Reichtums, des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung gibt es nur eine Menschheit, die in der Person jedes ihrer Mitglieder geachtet werden muss. Prinzip der gemeinsamen Sozialität: Die Menschen sind gesellschaftliche Wesen, deren grösster Reichtum in ihren sozialen Beziehungen besteht. Prinzip der Individuation: Im Sinne dieser beiden ersten Prinzipien ist die legitime Politik diejenige, die es jedem Einzelnen ermöglicht, seine besondere Individualität zu entwickeln, indem er seine Fähigkeiten entfaltet, sein Vermögen, zu sein und zu handeln, ohne den anderen zu schaden, im Hinblick auf eine für alle gleiche Freiheit. Prinzip der Konfliktbeherrschung: Weil jeder Einzelne berufen ist, seine besondere Individualität zum Ausdruck zu bringen, ist es natürlich, dass die Menschen gegeneinander opponieren können. Aber das dürfen sie legitimer Weise nur tun, solange es den Rahmen der gemeinsamen Sozialität nicht gefährdet, dank der diese Rivalität schöpferisch und nicht zerstörerisch wird. Die richtige Politik ist also diejenige, die es den Menschen ermöglicht, sich zu unterscheiden und dabei den Konflikt zu akzeptieren und zu beherrschen.“ (a.a.O., S. 61/62)
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G Überleitung Wenn der Mensch weder „Krone“ noch „Krankheit“ der Schöpfung ist oder sein soll, so stellt sich die Frage „was dann?“ Welches ist unsere Bestimmung in der Schöpfung? Das ist eine mehrere Jahrtausende alte und nach wie vor aktuelle Frage. Ein Tag „Theologie im Gespräch“ ist dafür sicher ein knapper Rahmen. Das Vorbereitungsteam will diese Frage „abschliessend“ weder selber beantworten noch sie beantworten lassen. Fragen sind nur so lange interessant und weiterführend, als sie noch nicht abschliessend beantwortet sind. Der heutige TiG-Tag erarbeitet nicht so sehr „fertige“ Antworten auf die gestellte Frage, sondern arbeitet an der Frage selbst: Welches ist unsere Bestimmung in der Schöpfung? Was heisst diese Frage und welche Fragen enthält sie? Diese Fragen gehören zu dem hoffentlich nie abreissenden Prozess der Antwortfindung. Auch dieser „Einstieg in das Thema“ arbeitet vor allem an der/den Fragen, die sich bei dieser Thematik stellen.1 Wahrscheinlich ist die etwas katechismusartige „Schema Frage – Antwort“ für unser Thema gar nicht so ergiebig. Vielleicht geht es mehr um Bewusstseinsbildung bezüglich: welches sind unsere ernsthaften Stellungnahmen zu den ernsthaften Herausforderungen, denen die Menschheit sich gegenübergestellt sieht? In welchem Horizont, in welcher Perspektive sehen wir die Herausforderungen und an was orientiert sich fundiert unsere Stellungnahme? Und: wie kann unsere Stellungnahme praktisch, handlungsrelevant werden?
Genesis 1+2 gehört zu den Schlüsselerzählungen der judeo-christlichen Religion(en) und Kulturgeschichte. Wie lesen (verstehen) wir heutigen, „westlichen“ Menschen diese Schlüsselerzählung? Was hat sie uns zu sagen? Was haben wir dieser Schlüsselerzählung zu sagen? Moderation M. Odendaal)
Ernährung (Moderation U. Baier) – Energie (Moderation E. Nussbaumer) – Ökonomie (Moderation I. Prätorius) sind die grundlegenden Dimensionen des Zusammenlebens – nicht nur der Menschen, sondern der Menschen mit der nicht-menschlichen Natur. Niemand wird sofort durchsetzbare Globallösungen für globale Probleme erwarten. Aber niemand wird auch widersprechen wollen, dass subjektiv neue Erkenntnisse (Bewusstwerdung) in Verbindung mit konkreten Handlungsoptionen etwas sehr Befreiendes und Ermutigendes haben. Dabei geschieht etwas Dreifaches: in einer gewissen Reichweite geschieht konkret ein Beitrag zur „Wiederherstellung der Welt“ – alternatives Handeln oder Unterlassen haben eine zeichenhafte Wirkung (auch gelebte Alternativen sind und schaffen Fakten) – das Wissen (Erkenntnis – Bewusstsein) von Individuen, Gruppen und Kollektiven bildet ein Wissenssystem (le système sait). Eine lohnende Herausforderung ist, dieses latente System manifest zu machen, implizites Wissen zu explizitem Wissen und dieses in Zirkulation zu bringen. So entstehen mentale Netzwerke
PS Was uns in den Auseinandersetzungen mit der Thematik dieser TiG-Tagung und ihren praktischen Konsequenzen erheblich einschränken und fehlleiten könnte, ist nicht nur der Anthropozentrismus (alles aus der Perspektive Mensch zu sehen), sondern auch der Eurozentrismus (alles aus der europäisch-westlichen Perspektive zu sehen). Wir sind zu tiefst geprägt a) durch die biblische (judeo-christliche) Sicht auf das Leben, die Welt und den Menschen b) durch die westliche Form der Rationalität, aus der sich insbesondere die modernen Naturwissenschaften und ihre Anwendungen (Technik) entwickelt haben.
Zur Frage nach der Frage als Beginn des Denkens und des Philosophierens vgl. z. B. C.D. Eck „Fünfzehn Fragen und ein Hinweis für eine Freundin, die sich für das Denken interessiert“. (published as draft) 1
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Beide Traditionen (Gewohnheiten) sind für ganz viele Menschen Wahrheit und können mit Recht als eine Bereicherung, eine Gabe an die ganze Welt angesehen werden. Dabei sollte aber nicht aus dem Bewusstsein fallen, dass es andere religiöse und philosophische Deutungen des Kosmos und des Menschen gibt, aus denen sich auch andere Formen der Rationalität ergaben/ergeben. Gerade in Bezug auf die spezifische Thematik unserer heutigen TiG-Veranstaltung, d.h. die Frage der Einheit bzw. Gegensätzlichkeit des Kosmos, der Natur, der Stellung des Menschen und seiner Einordnung in die Schöpfung, der Beziehung des Göttlichen und des Geschöpflichen wäre sich zu fragen, in wie weit z.B. die hinduistische, buddhistische Spiritualität – und auch die der sog. Naturreligionen – nicht auch ganz wesentliche, evtl. umfassendere Beiträge einzubringen haben. Vielfalt, Ergänzung, Bescheidenheit, Offenheit für Staunen und Anbetung (Lobpreis) sind der Komplexität und Krisis unserer Themenstellung angemessene Grundhaltungen – nicht ein Imperialismus einer partikularen und perspektivischen Wahrheit.
Claus D. Eck, 05. März 2016
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