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Altern im ländlichen Raum – Voraussetzungen für soziale Teilhabe älterer Menschen in ländlichen Gemeinden Anna Wanka Nachlese: Baumgartner, K., Kolland, F. & Wanka, A. (2013): Altern im ländlichen Raum. Entwicklungsmöglichkeiten und Teilhabepotentiale. Stuttgart: Kohlhammer. Das neue Alter(n) Das Alter hat heute viele Gesichter - „die Alten“ gibt es nicht mehr. Wir leben in einer Gesellschaft des langen Lebens und dieses lange Leben gilt es zu gestalten, und zwar ganz im Sinne von Johann Wolfgang Goethe, der diese Haltung so beschreibt: „Der eine wartet, dass die Zeit sich wandelt. Der andere packt sie kräftig an – und handelt“. Zur neuen Kultur des Alters gehört es, in verschiedenen Lebensräumen unterschiedliche Lebensentwürfe zu realisieren und so lange wie möglich Autonomie über die eigene Lebenswelt und Lebensweise zu behalten. Autonomie im Alter ist aber nur in alter(n)sgerechten Wohnumwelten möglich. Ältere Menschen verbringen aufgrund des Wegfalls des Arbeitsplatzes und der häufig eingeschränkten Mobilität mehr Zeit in ihrem unmittelbaren Wohnumfeld. Oftmals ziehen sie sich aber auch aus diesem zurück, wenn sie das Gefühl mangelnder Sicherheit, das Gefühl, nicht gebraucht, nicht akzeptiert oder von sozialen Beziehungen ausgeschlossen zu werden. Voraussetzungen für soziale Teilhabe älterer Menschen in ländlichen Lebensräumen Um am gesellschaftlichen Leben im öffentlichen Raum teilzuhaben, bedarf es einerseits persönlicher Ressourcen (persönliches Teilhabepotential), andererseits eines entsprechenden Regionalkontextes, um das persönliche Teilhabepotential freizusetzen.
Abbildung 1: Sozial-räumliche Voraussetzungen für soziale Teilhabe im Alter; Baumgartner et al., 2013
Als persönliche Ressourcen, die für soziale Teilhabe im Alter insbesondere zentral sind, können wir einerseits Bildung, andererseits Gesundheit identifizieren. Bildung ist eine essentielle Voraussetzung, da sie erstens als Indikator für die soziale Lage
(Pension, ehemaliger Beruf, etc.) einer Person dient und dadurch maßgeblich die Präferenzen, Aktivitäten, aber auch den Gesundheitszustand und die ökonomischen Ressourcen im Alter beeinflusst. Gesundheit kann als Voraussetzung für ein selbstbestimmtes und selbstständiges Leben betrachtet werden und hängt, insbesondere im ländlichen Raum, auch zentral mit der persönlichen Mobilität zusammen. Nur über Gesundheit und Mobilität ist es möglich, sich im Wohnumfeld zu bewegen und durch den Lebensraum an der Gesellschaft teilzuhaben. Gleichzeitig fördert aber auch ein Wohnumfeld, das zu Bewegung und Aktivität anregt, die eigene Gesundheit. Die persönlichen Ressourcen Bildung und Gesundheit sind also zentrale Elemente des persönlichen Teilhabepotentials im Alter. Ob und inwieweit dieses Potential aber realisiert werden kann, ist kontextabhängig. Besonders relevant ist dabei der räumlich-lokale Kontext. Welche Orte sind zentral für soziale Teilhabe älterer Menschen in ländlichen Gemeinden?
Abbildung 2: Wohnumfeld, Aktionsraum und Teilhaberaum
Im ländlichen Kontext sind drei Dimensionen des Wohnumfelds zu unterscheiden: Erstens existiert das Wohnumfeld als Gesamtheit aller Infrastrukturen und Angebote. Davon wird jedoch nur ein Teil von älteren Menschen genutzt – dieser Teil kann als Aktionsraum bezeichnet werden. Wiederum einen Teilausschnitt dieses Aktionsraums stellen Teilhaberäume dar – also alle Orte, die den Aufbau und die Pflege sozialer Beziehungen und damit sozialer Teilhabe fördern. Es sind insbesondere diese Teilhaberäume – sie reichen vom Wirtshaus über das Pfarrkaffee zum Gemeindezentrum, sind aber auch immer mehr im Internet zu finden -, die es in ländlichen Gemeinden auf- und auszubauen gilt. Praxisimplikationen und Qualitätssicherung für Teilhabe älterer Menschen im ländlichen Raum Die Regionalentwicklung und-beratung, die ländliche Alters-, Kultur- und Sozialarbeit, die Altersbildung und Geragogik im ländlichen Raum sind es, die sich um den Aufbau, Ausbau und Erhalt dieser Teilhaberäume kümmern. Ihr Ziel und ihre Aufgabe ist es, älteren Menschen in ländlichen Gemeinden soziale Teilhabemöglichkeiten bereitzustellen und Teilhabepotentiale zu aktivieren. Dabei geht es aber nicht nur um
die simple Bereitstellung, sondern auch um die Frage nach der Qualität dieser Angebote – um die Frage der „guten Praxis“: Was sollten Angebote für ältere Menschen leisten und wie können sie das tun? Was unterscheidet ein „herkömmliches“ Angebot von einem „guten“ Projekt? Im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz (BMASK) werden unter der Leitung von Universitätsprofessor Dr. Franz Kolland am Institut für Soziologie der Universität Wien regelmäßig Projekte der Seniorinnenbildung und -teilhabe in Österreich analysiert und besonders innovative Projekte als „Good Practice“ ausgewählt und prämiert1. Die Projekte werden anhand eines Kriterienkatalogs ausgewählt, der kontinuierlich modifiziert wird (Abb. 3).
Abbildung 3: Qualitätskriterien in der SeniorInnenbildung; Kolland et al., 2014
Jeder Kriterienkatalog kann nur eine Momentaufnahme sein, die sowohl zeitlich als auch räumlich und kulturell begrenzt ist. Was heute in einer österreichischen Kleinstadt Qualität in der Seniorinnenarbeit bedeutet, deckt sich nicht mit den Qualitätsanforderungen (an dieselbe Arbeit) in einer deutschen Großstadt. Überdies ist zu beachten, dass Qualität im Bereich der Teilhabe maßgeblich durch die Interaktion LeiterInnen und Teilnehmenden sowie von den Teilnehmenden untereinander produziert wird. Gerade hinsichtlich innovativer und stark partizipativer Projekte geht es dabei weniger um das Einhalten klar festgelegter Regeln, als um Improvisation und Reaktion auf veränderte Bedürfnisse sowohl der Zielgruppe als auch der Gemeinde. Trotzdem können Qualitätskriterien und nach solchen ausgewählte „Good Practice“-Projekte als Orientierung für die Praxis dienen. Für den ländlichen Raum ergeben sich dabei zusätzlich zwei besondere Praxisimplikationen: 1. Teilhabe findet primär im räumlichen sozialen und kulturellen
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http://www.sozialministerium.at/cms/site/attachments/6/2/3/CH2227/CMS1314963502633/good_practice_e ndbericht_2009.pdf http://www.sozialministerium.at/cms/site/attachments/5/4/7/CH2081/CMS1415109403439/good_practice_b ericht_2014.pdf http://www.sozialministerium.at/cms/site/attachments/6/2/3/CH2227/CMS1314963502633/good_practice_kr iterien.pdf
Nahbereich statt. Um Angebote im sozio-kulturellen Nah-Raum zu platzieren, müssen sie niederschwellig sind. Das beinhaltet: Physische Barrierefreiheit und räumliche Nähe – aber: Lokalitäten sind selten neutral! Wer Teilhabemöglichkeiten im Pfarrhof oder in einem politisch besetzten „Vereinslokal“ ansiedelt, zieht dadurch informelle Barrieren auf. Gerade in ländlichen Gemeinden ist es oft schwierig, weniger sozio-kulturell besetzte Räumlichkeiten zu finden. Das muss in Kauf genommen oder aktiv gegengesteuert werden. Im Sommer eignet sich der öffentliche Raum als Alternative. Sozio-kulturelle Barrierefreiheit - wer z.B.. Personen im dritten Lebensalter („junge Alte“) ansprechen will, sollte etwa die Worte „alt“, „Senior“ und andere Assoziationen mit dem Alter vermeiden; wer bildungsbenachteiligte Personen ansprechen will, sollte keinen „Kurs“ anbieten, sondern vielleicht lieber ein „Treffen“. Aufsuchende Zugänge: Angebote sollten dorthin gehen, wo die Menschen, die man erreichen will, sich ohnehin aufhalten: im Gasthaus, im Musikverein, in der Kirche oder zu Hause. Bestehende Gruppen und Initiativen können und sollen Ausgangspunkt oder KooperationspartnerIn für neue Projekte sein. 2. Befähigung zur sozialen Teilhabe bzw. Empowerment bedeutet, Ressourcen aufzubauen, die Personen zu einer selbstbestimmten Lebensführung befähigen. Empowerment räumlich zu denken bedeutet, zur Aufrechterhaltung oder Erweiterung des Aktionsraums zu befähigen, und zwar in dreierlei Hinsicht: als Begleiterscheinung, als Ursache oder als Folge von Angeboten: ... als Begleiterscheinung: Werden Angebote an Orten angesiedelt, welche die Bewohner noch nie betreten haben, so widerspricht das scheinbar den vorherigen Schlussfolgerungen – nämlich, Angebote in der Lebenswelt anzusiedeln. Manchmal ist das aber notwendig und kann auch ein Vorteil sein, etwa wenn Angebote außerhalb des Ortes stattfinden, wo nicht „jeder jeden kennt“ und man somit sozialer Kontrolle entgehen kann. Hierzu ist ein Stufenprozess geeignet: Angebote beginnen in der Lebenswelt und führen mitunter an fremde Orte oder umgekehrt. …als Ursache: Ein Besuch fremder Lokalitäten ist häufig ein stärkerer Anstoß für Lernprozesse als die besten Lernunterlagen. Wir lernen informell durch Reisen, in Museen und Büchereien, durch physische, virtuelle und imaginierte (z.B. beim Lesen von Büchern) Mobilität. Das Erkunden neuer Orte oder neuer Bedeutungen bereits bekannter Orte als Lerninhalt eignet sich bei älteren Menschen sehr gut, um Lernprozesse anzustoßen. ... als Folge: Durch das Erlernen von neuem Wissen oder neuen Fähigkeiten werden ältere Menschen befähigt, sich neue Räume zu erschließen: Durch einen Internetkurs kann der virtuelle Raum genutzt werden; ein Sprachkurs erleichtert den Besuch in einem fremden Land; wer Kurse zur sicheren Fortbewegung macht, erweitert generell seinen Aktionsraum im Alter etc. Den eigenen Aktionsradius zu erweitern gilt auch für die Planung und das Management von Teilhabeangeboten, z.B. durch verstärkte gemeindeübergreifende Zusammenarbeit. Darüber hinaus ist immer zu beachten, dass soziale Teilhabe ermöglicht, aber soll nicht aufoktroyiert werden kann. Ältere Menschen nehmen die Formen von Teilhabe
an, die ihnen aus ihrer Lebenswelt heraus sinnvoll erscheint. Aber: „Alt“ ist nicht gleich „Alt“ – ältere Menschen sind eine sehr heterogene Gruppe. Es gibt kein perfektes Angebot für alle älteren Menschen. Wer seine Zielgruppe definiert, kann für diese ein sinnvolles, befähigendes Angebot gestalten und soll sich nicht ärgern, wenn sich nur bestimmte Personen interessiert zeigen. Dieses „selektive Interesse“ ist berechtigt und kein Zeichen minderwertiger Qualität des Angebots. Abschließend soll hier eine Checkliste für Gemeinden vorgelegt werden, an denen sich Regionalentwicklerinnen und öffentliche Einrichtungen bei der Bewältigung der demographischen Herausforderungen orientieren können. Tabelle 1: Checkliste für alter(n)sgerechte Gemeinden; Baumgartner et al, 2013: 198
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Wie wird sich auf längere Sicht die Verteilung des Personenkreises der älteren Menschen (rüstige Ältere, Personen mit Unterstützungsbedarf, pflegebedürftige Ältere, Menschen mit Demenzerkrankung, ältere Migranten) in der Gemeinde entwickeln? Welche Entwicklung zeigt sich in den Lebensformen von Menschen in der dritten und vierten Lebensphase (z.B. Entwicklung der Zahl von Einpersonenhaushalten)? Welche Wohn- und Betreuungsformen stehen derzeit und künftig älteren Menschen zur Verfügung? Welche Altersbilder liegen dem Planen und Handeln der Gemeinde zugrunde? Wie werden die Potentiale älterer Menschen anerkannt, berücksichtigt und gefördert? Bestehen Ansätze zur gesellschaftlichen Teilhabe älterer Menschen? Welche Angebote werden entwickelt, um die Tätigkeit älterer Menschen in ihrer Produktivität zu stärken? Welche Konzepte gibt es für die drei Sektoren: Freiwilligen-, Pflege- und Erwerbsarbeit? Werden auch die Voraussetzungen für soziale Teilhabe berücksichtigt – gibt es etwa für alle Altersgruppen ausreichend Angebote der Gesundheitsprävention? Ist physische Barrierefreiheit im öffentlichen Raum gewährleistet? Ist das kommunale Dienstleistungsangebot niederschwellig? Nach welchen Kriterien wird Niederschwelligkeit in der Gemeinde definiert? Berücksichtigt diese Definition sowohl räumliche, als auch soziale und kulturelle Faktoren? Inwieweit werden ältere Menschen in die Planung und Konzeption von Angeboten zur Förderung sozialer Teilhabe einbezogen? Wie werden Angebote zur Förderung sozialer Teilhabe evaluiert? Welche Kriterien liegen der Evaluation zugrunde? Wird sowohl der individuelle als auch der regionale bzw. gemeindebezogene Mehrwert gemessen?